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ARMUT/165: Haiti - Präsident Martelly verzockt sein armes Land, Investoren zahlen Hungerlöhne (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 27. Dezember 2011

Haiti: Präsident Martelly verzockt sein armes Land - Investoren zahlen Hungerlöhne

Arbeiter demonstrieren für ihre Rechte - Bild: © Ansel Herz/IPS

Arbeiter demonstrieren für ihre Rechte
Bild: © Ansel Herz/IPS

Port-au-Prince, 27. Dezember (IPS) - Haitis Präsident Michael Martelly ist fest entschlossen, aus dem von Katastrophen und politischer Instabilität gebeutelten ärmsten Land der westlichen Hemisphäre ein Paradies für ausländische Investoren zu machen. "Haiti ist offen für Geschäfte", betonte er unlängst bei der Eröffnung eines neuen Industrieparks im Norden des Landes. In Haiti sollen insgesamt sechs solcher Gewerbegebiete und 'Freihandelszonen' entstehen.

Während Martelly, der als Popsänger 'Sweet Micky' Karriere gemacht hatte, von großem Wandel zu einer nachhaltigen Entwicklung spricht, sehen viele Konzerne in dem bitterarmen Karibikland, das die Folgen des verheerenden Erdbebens vom Januar 2010 noch längst nicht verkraftet hat, einen besonders günstigen Standort für ihre so genannten Sweatshops - riesige Fabrikhallen, in denen Einheimische schuften und vor allem Textilien für den Export zusammennähen. Die Regierung verspricht ansiedlungswilligen Unternehmen Steuerfreiheit für bis zu 15 Jahre und stellt ihnen weitere erhebliche Vergünstigungen in Aussicht.

Das Interesse an dem investorenfreundlichen Steuerparadies Haiti ist derzeit groß. Zu Hunderten ließen sich im November ausländische Geschäftsleute in die Hauptstadt Port-au-Prince einfliegen, um an einer zweitägigen Investorenkonferenz teilzunehmen.

Viele Haitianer hingegen haben die Hoffnung auf eine bessere Zukunft verloren. Einige versuchen dem Elend in ihrem Heimatland übers Meer Richtung USA zu entkommen. Erst am Weihnachtsabend war ein solches Flüchtlingsboot mit mehr als 100 Menschen an Bord vor der Küste Kubas in Seenot geraten. Die kubanische Küstenwache konnte 87 Havaristen retten, für mehr als 30 Haitianer kam jede Hilfe zu spät.

Nicht nur die Investitionshilfen der Regierung machen das Armenhaus Haiti für ausländische Unternehmer attraktiv. Um andernorts obligatorische Arbeits- und Sozialstandards brauchen sie sich hier nicht zu kümmern. "Die Konzerne unterbieten sich geradezu beim Abbau dieser Standards", stellen kritische Beobachter fest.

Auch Haitis Industrieverband, besonders die heimische Textilindustrie, sieht in der akuten Notlage des Landes eine Chance. "Wir dürfen sie nicht verpassen", erklärte Verbandschef Georges Sassine. Gewerkschaftsarbeit ist in ihren Betrieben unerwünscht.

Der im November eröffnete Caracol-Industriepark im Norden ist der ganze Stolz der Regierung. Er wurde mit US-amerikanischen Steuergeldern (124 Millionen Dollar) sowie mit einem 55 Millionen Dollar-Zuschuss der Interamerikanischen Entwicklungsbank finanziert.

"So stellen wir uns den Wandel vor, das nennt man nachhaltige Entwicklung", erklärte Martelly, als er im Beisein seines Beraters, des ehemaligen US-Präsidenten Bill Clinton, das neue Vorzeigeprojekt der Regierung eröffnete. Auch haitianische und ausländische Medien unterstützen ungeachtet aller Schwierigkeiten, Nachteile und Risiken einhellig den neuen Industriepark sowie Martellys wirtschaftliche Ausrichtung auf ausländische Investitionen.


Boomende Sweatshops kein Indiz für nachhaltige Entwicklung

Dabei haben Haiti und seine Nachbarländer längst erfahren müssen, dass eine auf Sweatshops setzende Entwicklungspolitik die Einlösung ihrer Versprechen meistens schuldig bleibt. So hat die Nichtregierungsorganisation 'Haiti Grassroute Watch' (HGW) in ihrem jüngsten Bericht festgestellt, dass der Lohn eines Fabrikarbeiters in Haiti heute eine geringere Kaufkraft besitzt als in den Jahren der Diktatur von Jean-Claude Duvalier (1971-1986).

In einem Interview mit HGW klagte Evelyne Pierre-Paul, die eigentlich anders heißt und Repressalien durch ihren Boss befürchtet: "Ich komme nicht klar mit meinem Land. Ich bin seit 25 Jahren Fabrikarbeiterin, doch zu einem eigenen Haus habe ich es nicht gebracht." Die Zwei-Zimmerwohnung, in der sie in Port-au-Prince mit ihren drei Kindern lebte, und für sie eine Jahresmiete von umgerechnet 250 Dollar bezahlt hatte, wurde bei dem Erdbeben vor zwei Jahren zerstört. Seitdem haust sie in der Hauptstadt in einem der vielen hundert Zeltlager für Obdachlose.

Pierre-Paul liegt mit ihrem Tageslohn von umgerechnet 5,90 Dollar über dem Mindestlohn für Fabrikarbeiter von 3,75 Dollar, doch das ist nur ein Viertel des von HGW für Haiti errechneten Existenzminimums für eine Familie. Danach müssen Fabrikarbeiter in Port-au-Prince und in einem Industriepark nahe der Grenze zur Dominikanischen Republik die Hälfte ihres Lohns für die Fahrt zur Arbeit und für ein Mittagessen ausgeben.

Das gewerkschaftsnahe, in den USA ansässige 'Solidarity Center' beziffert in einer kürzlich veröffentlichten Studie das lebensnotwendige Monatseinkommen einer haitianischen Familie mit zwei Kindern mit 749 Dollar, das ist das Fünffache des durchschnittlichen Monatslohns.

"Wenn ich am Zahltag die vielen kleinen Schulden zurückzahle, die ich im Laufe des Monats angesammelt habe, bleibt nichts übrig", klagt Jean-Paul. Die Kaufkraft ihres Lohnes ist niedriger als in den 80er Jahren, als in den Fabriken der ausländischen Konzerne Hochkonjunktur herrschte.

Der Wirtschaftswissenschaftler Camille Chalmers spricht von einer skandalösen Lohnpolitik. Er sagte HGW: "Die Löhne sind ständig gesunken. Sie werden in der Landeswährung Gourde ausgezahlt, doch weil das einstige Selbstversorgerland 50 Prozent seiner Lebensmittel importiert, müssen sie ihren Lebensunterhalt praktisch in Dollar bestreiten." 100 Gourde sind umgerechnet knapp 2,5 Dollar.


"Skandalöse Lohnpolitik"

"Es ist nicht nur falsch, es ist verbrecherisch, ausländische Unternehmen in Haiti reich werden zu lassen und Arbeiter mit Hungerlöhnen abzuspeisen", fügte Chalmers hinzu.

Pierre-Pauls Arbeitgeber Charles Baker, Besitzer des Textilunternehmens 'One Worl Apparel', bedauert, dass er seine Arbeiter nicht angemessen bezahlt. "Wenn ich könnte, würde ich ihnen täglich 1.000 Gourde zahlen. Doch die Verhältnisse in Haiti lassen dies nicht zu", erklärte er gegenüber Haiti Grassroots Watch.

Baker und andere haitianische Fabrikbesitzer behaupten, dass sich ihre ausländischen Auftraggeber, darunter Levi's, GAP, K-Mart und Wal-Mart, bei einem Anstieg der Löhne unverzüglich nach anderen Billig-Standorten umsehen würden.

Baker ist überzeugt, dass die Zeit der Niedriglöhne und unqualifizierten Arbeitskräfte nur ein Schritt in Richtung auf eine bessere Wirtschaftsentwicklung und in spätestens 15 Jahren überstanden ist. "Wir sind aufwärts unterwegs, Schritt für Schritt", versicherte der Textilfabrikant, der sich zweimal um das Präsidentenamt beworben hatte. (Ende/IPS/mp/2011)


Links:
http://www.solidaritycenter.org
http://www.ilo.org
http://ipsnews.net/news.asp?idnews=106268
http://haitigrassrootswatch.squarespace.com
http://www.ipsnews.net/news.asp?idnews=106270

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Quelle:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Dezember 2011