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BERICHT/006: Durch Deutschland geht ein tiefer Riss (UZ)


UZ - Unsere Zeit, Nr. 39 vom 1. Oktober 2010
Sozialistische Wochenzeitung - Zeitung der DKP

Durch Deutschland geht ein tiefer Riss
Vor 20 Jahren verschwanden nicht nur DDR-Betriebe und -Marken, sondern auch die sozialen Standards

Von Manfred Dietenberger


Seit 1990 wird der Sozialreport jährlich im Auftrag des Sozialverbandes "Volkssolidarität" erhoben. Für die vorgestellte 21. Auflage der Bevölkerungsumfrage wurden 2090 Bürger im gesamten Bundesgebiet postalisch befragt. Die 1945 in der DDR gegründete Volkssolidarität zählt heute rund 280.000 Mitglieder in 4300 Ortsgruppen und engagiert sich vorwiegend im Bereich der Sozial- und Pflegedienste.

Erinnern wir uns: Am 31. August 1990 um 13.15 Uhr unterzeichneten die Verhandlungsführer der beiden deutschen Staaten, Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble und DDR-Staatssekretär Günther Krause, den sogenannten Einheitsvertrag. Die goldenen Füllfederhalter der Marke "Markant" kamen aus der DDR und das Papier stammte aus Bonn. 20 Jahre später am gleichen Ort im Berliner Kronprinzenpalais "Unter den Linden" floss nun "Rotkäppchensekt", um auf das vereinte Deutschland anzustoßen. Das hat Symbolwert.

Rotkäppchensekt ist eines der mehr als 700 Markenprodukte der DDR. Die meisten davon sind nach der Wende eingegangen. Von geschätzten mehr als 700 DDR-Marken gibt es 20 Jahre nach der feindlichen Übernahme der DDR durch die Bundesrepublik lediglich noch rund 120. 2006 musste man bei der Marke Mumm/Rotkäppchen wegen Preiserhöhungen in Ostdeutschland einen deutlichen Absatzrückgang hinnehmen, der aber durch das Geschäft im Westen mehr als kompensiert worden konnte. Auch wenn jetzt die Sektkorken knallen, die Deutsche Einheit ist für fast 60 Prozent der in Deutschland lebenden erwachsenen Bürger im Wesentlichen nicht vollzogen. Wie die Menschen ihre soziale Lage insgesamt einschätzen, wurde bei der kürzlich in Berlin stattgefunden Vorstellung des Sozialreports 2010 des Sozialverbandes Volkssolidarität bekannt. 40 Prozent stellen noch große und drei Prozent sogar zunehmende Unterschiede fest. Und 13 Prozent gehen sogar davon aus, dass es auch in 50 Jahren noch gravierende Unterschiede geben wird. In den neuen Bundesländern ist eine Mehrheit der Menschen der Ansicht, dass die Unterschiede noch relativ groß bzw. besonders hoch sind.

Insbesondere hinsichtlich der Lohn- und Rentenentwicklung sowie der vorhandenen Arbeitslosigkeit und des fehlenden Arbeitsplatzangebotes wird von über 65 bis 85 Prozent der Ostdeutschen die noch ausstehende Angleichung eingefordert. Das verwundert nicht, hat sich doch Ostdeutschland mittlerweile zum Mezzogiorno der Bundesrepublik entwickelt, zu einem Gebiet also, in dem Armut, Massenarbeitslosigkeit und sozialer Niedergang herrschen. Am schärfsten widerspiegelt sich diese Lage in der Tatsache, dass die Auswanderung aus dem Osten in den Westen vor allem unter jungen Menschen wieder zugenommen hat. Das "Rüber machen" geht jetzt ja leichter, wenigstens eine Verbesserung seit dem Mauerabbruch.

"Es gibt in unserem Land eine hohe soziale Verunsicherung", sagte dort der Präsident des Sozialverbandes Volkssolidarität, Gunnar Winkler. Beinah jeder vierte Deutsche äußere Zukunftsängste, gut die Hälfte der Befragten gingen davon aus, dass sich ihre eigene wirtschaftliche Lage in absehbarer Zeit verschlechtern werde. 75 Prozent äußerten die Angst vor Lücken bei der Altersvorsorge. Es sei daher offensichtlich, dass "die Mehrheit der Bürger weder vor noch nach der Finanzkrise an einem Wirtschaftsaufschwung teilgenommen hat und auch für die Zukunft keine leistungsgerechte Teilhabe sieht", betonte Präsident Winkler.

Nur 47 Prozent der West- und 17 Prozent der Ostdeutschen sehen die Wiedervereinigung als abgeschlossen an. Nur eine kleine Minderheit von neun Prozent ist der Meinung, dass die beiden Länder zusammengewachsen seien. Besonders stark unterschieden sich die Ansichten über die wirtschaftlichen Verhältnisse im jeweils anderen Teil der heutigen Bundesrepublik.

So glauben 52 Prozent der Westdeutschen, dass es den Bürgern in den neu dazu gekommenen Bundesländern inzwischen wirtschaftlich besser gehe als den alten. Drei von vier Ostdeutschen sehen dies aber genau umgekehrt. Präsident Winkler warnte auch vor einer feststellbaren steigenden Tendenz zur Armut. Nach der aktuellen Studie lebe fast jeder fünfte Deutsche im akuten Armutsrisiko. Davon seien vor allem Arbeitslose, kinderreiche Familien, Alleinerziehende und Mini-Jobber betroffen. Die Gesellschaft, so Winkler weiter, müsse aufpassen, "dass Armut nicht zum selbstverständlichen Element des sozialen Lebens wird". Gleichzeitig zeigten die Befragten ein geringes Vertrauen in die Politik und ihre Institutionen. Während die Demokratie als solche bei ihnen einen hohen Stellenwert besitzt, "wurde in den vergangenen Jahren das Vertrauen in die Politik und die repräsentative Demokratie erkennbar geschädigt", führte Winkler aus.

Nur noch weniger als 20 Prozent der Bundesbürger brächten dem Bundestag und der Regierung Vertrauen entgegen. Wahlen hält nur jeder fünfte Befragte für ein geeignetes Instrument der Mitbestimmung, 58 Prozent der Bürger fordern die Einführung von Volksabstimmungen. Eine Schwäche bzw. Stärke dieser sonst sehr verdienstvollen Studie ist, dass sie "nur" ein Spiegelbild der "gefühlten" Lage der Bundesdeutschen wiedergibt.

Diese Gefühlslage des Volkes massiv zu manipulieren ist aber oft die Funktion von regierungsamtlichen Statistiken und Studien.

Zu hinterfragen ist daher immer wer, was, wie, für wen und für wie viel untersucht. Zur Illustration hier nur ein Beispiel aus jüngster Zeit: Um möglichst wenig Niedriglöhner in der Statistik ausweisen zu müssen, kamen die Statistiker auf den Dreh und erfanden für das "geeinte Deutschland" zwei getrennte Niedriglohnschwellen. Für Westdeutschland lag die Niedriglohnschwelle 2008 dann bei 9,50 je Stunde und bei 6,87 Euro in Ostdeutschland. So schöngerechnet gab es 2008 in Westdeutschland "nur" 20,8 Prozent und in Ostdeutschland "nur" 20,1 Prozent Beschäftigte, die mit Stundenlöhnen unter der jeweiligen Niedriglohngrenze abspeist wurden.

Hätten die Statistiker aber eine bundeseinheitliche Niedriglohnschwelle zum Maß genommen, sähe die Sache anders aus. Bundeseinheitlich gerechnet lag die Niedriglohnschwelle 2008 nämlich bei 9,06 Euro je Stunde. Welch ein Unterschied! Auf einmal sind dann bei einer bundesweit einheitlichen Niedriglohnschwelle in Ostdeutschland über 39 Prozent der Beschäftigten von Niedriglöhnen betroffen. Absolut würde sich ihre Zahl etwa auf rund zwei Millionen betroffene Beschäftigte verdoppeln! Welch ein Skandal. Jetzt versteht man auch, dass die Regierung nächstes Jahr schon einen eignen Sozialreport vorlegen will. Ein Lump, wer böses dabei denkt...!


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Quelle:
Unsere Zeit (UZ) - Zeitung der DKP, 42. Jahrgang, Nr. 39,
1. Oktober 2010, Seite 4
Herausgeber: Parteivorstand der DKP
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Oktober 2010