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FAMILIE/242: Armut und die Beziehung von Eltern - In der Negativ-Spirale (DJI)


DJI Bulletin 1/2010, Heft 89
Deutsches Jugendinstitut e.V.

In der Negativ-Spirale

Von Christian Alt und Andreas Lange


Eine Scheidung oder Trennung kann Eltern in finanzielle Schwierigkeiten stürzen. Oft bestehen diese aber schon lange vorher. Denn das Risiko, dass sozial benachteiligte Familien auseinanderbrechen, ist hoch. Warum betroffene Kinder mehrfach belastet sind.


Die zunehmende Pluralisierung von Lebensformen führt dazu, dass eine individuelle Biographie verschiedene Lebensformen umfassen kann. Darin liegt sowohl die Chance für eine weitgehende Flexibilisierung und eine nie dagewesene individuelle Freiheit, gleichzeitig aber fürchtet man in der Politik und in der Wissenschaft um den Verlust von sozialen Bindungen bis hin zum Untergang der Familie. Instabilität und Variabilität von Lebensverläufen stellen demnach ein erhöhtes Risiko für die individuelle Entwicklung und Lebensführung dar.

Steigende Scheidungsraten, die Zunahme von Einpersonenhaushalten und der Rückgang der Geburtenzahlen werden als Indikatoren für diese Entwicklung genannt. Mehr noch als die Konsequenzen für die Erwachsenen rücken inzwischen die möglichen Folgen für Kinder ins Zentrum des Forschungsinteresses. Untersucht wird unter anderem, wie sich eine elterliche Trennung oder Scheidung auf die Sozialisation und individuelle Entwicklung der Kinder sowie deren Bewältigungsstrategien im Umgang mit der neuen Lebenssituation auswirkt. Diese Fragen haben hohe gesellschaftliche Relevanz, wie ein Blick in die amtliche Statistik zeigt: Der Anteil der geschiedenen Ehen mit Kindern liegt im Jahr 2008 in Westdeutschland mit 50,1 Prozent sogar etwas höher als jener der geschiedenen Ehen ohne Kinder (49,9 Prozent). Während in den alten Bundesländern immer mehr Familien mit minderjährigem Nachwuchs von einer Scheidung der Eltern betroffen sind, nahm ihre Zahl in den neuen Bundesländern ab. Dies kann man als Folge der deutlich geringeren Heiratsneigung in diesen Ländern ansehen.

An diesen amtlichen Daten anknüpfend lassen sich auf der Grundlage des Kinderpanels des Deutschen Jugendinstituts (DJI) sowohl Aussagen zu den sozialstrukturellen Kontexten der betroffenen Kinder als auch zu den individuellen Auswirkungen der Trennungserfahrungen treffen. Das DJI-Kinderpanel ist eine auf drei Wellen angelegte Längsschnittstudie, die nach den Bedingungen für das Aufwachsen der Kinder in Deutschland fragt. Dies erfolgt unter besonderer Berücksichtigung der Kinderperspektive, was in der sozialwissenschaftlichen Forschung bis heute nicht selbstverständlich ist. Befragt wurden Kinder im Alter von fünf bis sechs sowie im Alter von acht bis neun Jahren. Durch den expliziten Einbezug entwicklungspsychologischer Variablen und entwicklungsrelevanter Kontexte geht das Kinderpanel über Ansätze einer strukturorientierten und soziologisch geprägten Sozialberichterstattung hinaus. Dem Individuum wird ein größerer Stellenwert beigemessen, indem die Persönlichkeitsmerkmale und Beziehungen der Kinder und ihr komplexes Zusammenspiel mit (sich verändernden) Kontexten analysiert werden.


Arme trennen sich häufiger als Reiche

Die Ergebnisse des Kinderpanels zeigen, dass etwa jedes vierte Kind im Beobachtungszeitraum zwischen 2002 und 2005 eine Veränderung der Familienform erlebt hat, die dazu geführt hat, dass ein biologisches Elternteil nicht mehr mit dem Kind zusammenlebt (DJI-Kinderpanel; eigene Berechnungen 2010). Und das Trennungsrisiko ist offensichtlich stark mit der Zugehörigkeit zu einer niedrigeren Gesellschaftsschicht beziehungsweise einer ökonomischen Deprivation verknüpft.

Während jedes zweite Kind aus der Unterschicht beziehungsweise aus der unteren Mittelschicht mit einer Trennung der Eltern konfrontiert wird, gilt dies lediglich für knapp sieben Prozent der Kinder aus der Oberschicht. Ferner belegen die weiteren Analysen des Kinderpanels, dass Kinder aus Familien mit armutsnahen Einkommenslagen ein erhöhtes Risiko haben, eine Trennung oder Scheidung zu erleben. Als armutsnah gelten Menschen, die über weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens in der Gesellschaft verfügen. Das bedeutet: Finanzielle Schwierigkeiten können nicht nur die Folge einer Scheidung oder Trennung sein, sondern sind häufig Mitverursacher von den Konflikten zwischen den Eltern.

Kinder aus sozioökonomisch benachteiligten Familien trifft eine Scheidung oder Trennung besonders hart. Die Ursache dafür sind nicht nur die finanziellen Probleme und Sorgen der Familien, die sich beim Auszug des Vaters möglicherweise noch verschlimmern. Diese Kinder erhalten im Gegensatz zu Gleichaltrigen aus gutsituierten, gebildeten Familien oft auch weniger Unterstützung, um die Krise zu überstehen, wie das Kinderpanel zeigt. Vor allem in der schwierigen Phase nach der Trennung sind Kinder und Jugendliche allerdings auf einen einfühlsamen Erziehungs- und Umgangsstil in der Familie und in der Schule angewiesen.


Der Erziehungsstil ist entscheidend

In der Zeit unmittelbar nach der Trennung oder Scheidung wurde in den drei Befragungswellen der Studie oft von einer bedeutsamen Eintrübung des Familienklimas berichtet. Allerdings entwickelten Kinder aus benachteiligten Sozialschichten schneller wieder ein positiveres Selbstbild beziehungsweise höhere Selbstwirksamkeitswerte, wenn sich ihre Mütter in hohem Maße unterstützend verhielten (Barquero/Geier 2007). Ergebnisse der internationalen Forschung weisen darauf hin, dass die Verknüpfung bestimmter Familienformen mit kindlichen Entwicklungen primär mit ökonomischen Faktoren erklärt werden müssen. Nichtsdestotrotz müsse immer auch die Art und Weise der Interaktionen in der Familie Berücksichtigung finden (McLanahan/Percheski 2008). Zentral für die Kinder ist dabei die Qualität der Beziehungen im Familiensystem beziehungsweise in den Teilsystemen der Familie, die wesentlich über die Persönlichkeit der Eltern mitbestimmt wird (Schneewind/Walper 2008; Wendt/Walper 2007).

Grundsätzlich kann ein an den Kommunikations- und Sozialisationsbedürfnissen des Kindes ansetzender innerfamilialer Partizipations- und Erziehungsstil entscheidend sein, um Deprivationsfolgen - wie etwa soziale Auffälligkeiten, mangelnde Konzentrationsfähigkeit oder psychosomatische Störungen - auszugleichen. Die in sozioökonomisch benachteiligten Familien mehr verbreitete autoritäre Erziehung führt dagegen zu einer Verstärkung eines unruhigen und impulsiven Verhaltens. Erleben diese Kinder zusätzlich eine Trennung ihrer Eltern, weisen sie nach den Ergebnissen des Kinderpanels eine deutlich höhere motorische Unruhe auf (bis hin zur Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, kurz ADHS), was wiederum zu zusätzlichen schulischen Problemen führen kann.



Armut belastet die Beziehung von Eltern 
 Die Anteile von Trennungskindern in unterschiedlichen Bevölkerungsschichten

                   Prozent               
Unterschicht
                     23,4                
untere Mittelschicht
                     30,9                
mittlere Mittelschicht
                     29,5                
obere Mittelschicht
                      9,3                
Oberschicht
                     23,4                

Quelle: DJI-Kinderpanel; eigene Berechnungen 2010



Die Stigmatisierung der Kinder verhindern

Die meisten Trennungskinder fühlen sich zunächst etwas unwohler in der Klasse als ihre Klassenkameraden, wie das Kinderpanel zeigt. Alarmierend ist, dass sich dieses anfängliche Unwohlsein in den drei Untersuchungsjahren des Kinderpanels ausgeweitet statt verringert hat: Kinder mit Trennungserfahrung gehen demnach immer weniger gern in die Schule, sie mögen vieles in der Schule nicht, der Unterricht macht ihnen deutlich weniger Spaß und sie glauben, dass sie in der Schule wenig lernen. Dies kann eine negativ wirksame Spirale in Gang setzen. Nach einer Wiener Studie werden Kinder aus geschiedenen Familien deutlich negativer von Lehrern und Lehrerinnen betrachtet als Kinder in Kernfamilien (Sander u. a. 2005). Eigene Analysen der Daten des Kinderpanels deuten allerdings darauf hin, dass Lehrer und Lehrerinnen das Wohlbefinden der betroffenen Schüler und Schülerinnen stark beeinflussen können (Gisdakis 2007). Wichtig ist es vor allem, diese vor der Klasse nicht bloßzustellen oder dauerhaft zu stigmatisieren.

Die Vermittlung der Befundlage zu den Konsequenzen von Scheidungen oder Trennungen für Kinder gehört zu den wichtigen Aufgaben in der Lehrerausbildung und Weiterbildung.

Denn oft scheinen die Effekte von Lehrern und Lehrerinnen immer noch überschätzt und dramatisiert zu werden, was zu einer dauerhaften Stigmatisierung der Kinder führen kann. Zwar muss die belastende Lebenssituation von betroffenen Schülern und Schülerinnen im Unterricht berücksichtigt werden, allerdings sollten die Kinder und Jugendlichen nach einer gewissen Zeit auch wieder gefordert werden, damit sie durch Erfolgserlebnisse wieder Selbstbewusstsein und Spaß am Lernen entwickeln.

Wie in der Familie gilt auch in der Schule, dass Kinder vor allem in der Phase nach der Trennung oder Scheidung ihrer Eltern viel Empathie und individuelle Förderung benötigen. Allerdings brauchen sie auch Orientierung von den Erwachsenen, damit sie einen Weg aus der Krise finden.


Generell geht es im DJI-Kinderpanel um die Fragen: Was fördert, was gefährdet Kinder in ihrer Entwicklung? Unter welchen Bedingungen können sie Kompetenzen entwickeln, Anforderungen in ihrem Alltag konstruktiv bewältigen und eigene Interessen realisieren? Als empirische Basis für die Untersuchung dienen die Daten von drei aufeinanderfolgenden Befragungswellen bei denselben Kindern im Jahr 2002, 2003/2004 und 2005. Neben den 1.100 Kindern wurden jeweils auch etwa 1.100 Mütter interviewt. Den Vätern wurde ein schriftlicher Fragebogen vorgelegt. Der Autor Dr. Christian Alt ist am Deutschen Jugendinstitut (DJI) stellvertretender Leiter der Abteilung »Zentrum für Dauerbeobachtung und Methoden« und war Leiter des Kinderpanels. Professor Dr. Andreas Lange ist als Grundsatzreferent für Familienwissenschaften am DJI tätig.



Literatur:

Barquero, Beatrice / Geier, Boris (2008): Elterliches Erziehungsverhalten. Wie werden kindliche Verhaltensauffälligkeiten und Persönlichkeitsmerkmale beeinflusst? In: Alt, Christian. (Hrsg.): Kinderleben - individuelle Entwicklungen in sozialen Kontexten. Band 5: Ergebnisse aus der dritten Welle. Wiesbaden, S. 125-148

Becker, Oliver Arranz (2008): Was hält Partnerschaften zusammen? Psychologische und soziologische Erklärungsansätze zum Erfolg von Paarbeziehungen. Wiesbaden

Berger, Fred (2009): Intergenerationale Transmission von Scheidung - Vermittlungsprozesse und Scheidungsbarrieren. In: Fend, Helmut / Berger, Fred / Grob, Urs: Lebensverläufe, Lebensbewältigung, Lebensglück. Ergebnisse der LifE-Studie. Wiesbaden, S. 267-304

Gisdakis, Bettina (2007): Oh, wie wohl ist mir in der Schule ... Schulisches Wohlbefinden - Veränderungen und Einflussfaktoren im Laufe der Grundschulzeit. In: Kinderpanel - Start in die Grundschule. Band 3, Ergebnisse aus der zweiten Welle. Wiesbaden, S. 107-136

Mc Lanahan, Sara / Percheski, Christine (2008): Family structure and the reproduction of inequalities. Annual Review of Sociology, Heft 1, S. 257-276.

Sander, Elisabeth / Endepohls-Ulpe, Martina / Gollia, Annelies (2005): Scheidungskinder im Urteil von Lehrerinnen und Lehrern. In: Psychologie in Erziehung und Unterricht, Heft 4, S. 272-280

Schneewind, Klaus A. / Walper, Sabine (2008): Kinder in verschiedenen Familienformen.. In: Hasselhorn, Marcus / Silbereisen, Rainer K. (Hrsg.): Entwicklungspsychologie des Säuglings- und Kindesalters. Göttingen, S. 571-616

Schmidt-Denter, Ulrich (2000): Entwicklung von Trennungs- und Scheidungsfamilien: Die Kölner Längsschnittstudie. In: Schneewind, Klaus A. (Hrsg.): Familienpsychologie im Aufwind. Brückenschläge zwischen Forschung und Praxis. Göttingen, S. 203-221

Wendt, Eva-Verena / Walper, Sabine (2007): Entwicklungsverläufe von Kindern in Ein-Eltern- und Stieffamilien. In: Alt, Christian (Hrsg.): Kinderleben - Start in die Grundschule. Band 3: Ergebnisse aus der zweiten Welle. Wiesbaden, S. 211-242


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Quelle:
DJI-Bulletin Heft 1/2010, Heft 89, S. 7-9
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Mai 2010