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FRAUEN/314: Indien - Millionen weiblicher Föten abgetrieben, Gesetze weitgehend missachtet (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 14. Juli 2011

Indien: Millionen weiblicher Föten abgetrieben - Gesetze weitgehend missachtet

Von H.S. Harikrishnan


Thiruvananthapuram, Indien, 14. Juli (IPS) - Als Sujathas Mann erführ, dass seine Frau ein Mädchen erwartete, war es mit seiner Ruhe vorbei. Die Lehrerin aus dem südindischen Bundesstaat Kerala ließ daraufhin einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen. Obwohl es gesetzlich verboten ist, Föten nach einer Geschlechtsbestimmung abzutreiben, erhielt das Paar binnen eines Monats einen Termin.

Sujatha und ihr Mann, ein Ingenieur, gehören zu den wohlhabenden Familien in Keralas Hauptstadt Thiruvananthapuram. Doch auch sie sind wie der Rest der Bevölkerung der Ansicht, dass Mädchen minderwertiger sind als Jungen.

Gestattet sind Abbrüche von Rechts wegen nur dann, wenn das Leben der Mutter durch die Schwangerschaft gefährdet würde oder dem Kind schwere Behinderungen drohten. Da aber viele Paare keine Töchter haben wollen und das Geschlecht des Fötus im Voraus bestimmen lassen, ist die Zahl der geborenen Mädchen drastisch gesunken.

Trotz aller Versuche, das Gesetz gegen den Missbrauch von pränataler Diagnostik zu verschärfen, werden im ganzen Land solche Tests durchgeführt. Gesundheitsminister Ghulam Nabi Azad drängt den indischen Medizinerrat (MCI) dazu, Institute, die Ausbildungen an Ultraschallgeräten anbieten, noch genauer unter die Lupe zu nehmen. Immer mehr Institute würden von Betrügern geleitet, die sich gefälschte Zertifikate besorgt hätten. Auch die Gesundheitsressorts verschiedener Bundesstaaten suchen bei Razzien verstärkt nach illegalen medizinischen Einrichtungen, die Ultraschalluntersuchungen anbieten.


Hunderte Anklagen gegen Ärzte, nur wenige Verurteilungen

Das Gesetz zur Kontrolle der pränatalen Diagnostik wurde 1994 verabschiedet und 2003 ergänzt. Wie aus Kreisen des Gesundheitsministeriums in Neu-Delhi verlautete, wurde zwischen 2003 und März dieses Jahres in mehr als 800 Fällen Anklage gegen Ärzte erhoben, die gegen das Gesetz verstoßen hatten. 55 wurden verurteilt.

Vor allem im Nordwesten Indiens einschließlich der Hauptstadt Neu-Delhi wollten die meisten Paare unbedingt Söhne haben, sagte V. Raman Kutty, der am 'Achutha Menon Centre for Health Science Studies' in Thiruvananthapuram lehrt. Tests zur Geschlechtsbestimmung von Föten seien dort sehr verbreitet. Die Fortschritte in der Medizin hätten dazu beigetragen, dass diese Untersuchungen immer mehr nachgefragt würden, erklärte Kutty. Selbst in kleinen Städten gebe es Möglichkeiten zu Ultraschall- und Fruchtwasseruntersuchungen.

Laut einer Studie des Zentrums für globale Gesundheitsforschung an der Universität Toronto in Kanada, die im britischen Fachmagazin 'Lancet' veröffentlicht wurde, geht man davon aus, dass in den vergangenen drei Jahrzehnten in Indien bis zu zwölf Millionen weibliche Föten abgetrieben wurden. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren solche Fälle noch selten, bis sich die Ultraschalltechnik weiter durchsetzte.

Politische Beobachter kritisieren, dass das Gesetz zur Regelung von Schwangerschaftsabbrüchen viele Lücken aufweist. Zuwiderhandlungen blieben häufig unbestraft. Nach den geltenden Regeln könnten Ärzte und Patienten auch aus "falschen Gründen" abtreiben, sagte der Gesundheitsexperte Sunny Sebastian aus Bombay. Eine in der Stadt durchgeführte Untersuchung belegte, dass Mediziner und Patienten sich durch gesetzliche Verbote nicht abschrecken ließen. Selbst in fortgeschrittenen Stadien der Schwangerschaft würden noch weibliche Föten abgetrieben.


Zahl der Mädchen drastisch gesunken

Diese Entwicklungen wirken sich deutlich auf die Bevölkerungsstruktur Indiens aus. Zahlen aus diesem Jahr zufolge ist die Zahl der Mädchen im Alter bis zu sechs Jahren rapide gesunken. 1981 kamen auf jeweils 1.000 Jungen noch 971 Mädchen. 2011 beträgt das Verhältnis nur noch 1.000 zu 914. Der Erhebung zufolge ist der Anteil der Mädchen in 431 Distrikten zurückgegangen, während in 149 Distrikten ein Anstieg verzeichnet wurde.

Azad erklärte, dass es mittlerweile in Indien 7,1 Millionen mehr Jungen als Mädchen gebe. "2001 betrug die Differenz erst sechs Millionen. Das bedeutet, dass im Laufe des vergangenen Jahrzehnts etwa 3,1 bis sechs Millionen weibliche Föten abgetrieben wurden."

Sozialwissenschaftler führen die Entwicklung auch auf die wirtschaftliche Notlage mancher Bevölkerungsgruppen zurück. Oft entscheide die finanzielle Situation einer Familie über die Geburt einer Tochter, sagte Durga Lakshmi vom Metca-Institut für Lehrerausbildung in Kerala. "In armen Familien gelten Töchter nach wie vor als finanzielle Bürde." (Ende/IPS/ck/2011)


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http://cghr.org/
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. Juli 2011