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FRAUEN/409: Ägypten - Angriffe auf Frauen auf dem Tahrir-Platz (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 15. Juni 2012

Ägypten: Angriffe auf Frauen auf dem Tahrir-Platz

von Mel Frykberg



Kairo, 15. Juni (IPS) - Der Tahrir-Platz in Kairo, die Geburtsstätte der ägyptischen Revolution, hat sich für Frauen und Ausländer zu einem gefährlichen Pflaster entwickelt. So gehen Horden von Männern oftmals mit Stöcken und Gürteln auf weibliche Demonstranten los und attackieren ausländische 'Spione'.

Ein US-amerikanischer Photograph wurde unlängst Zeuge, wie eine Gruppe Männer eine Dänin in einen Hauseingang abdrängte und sexuell belästigte. Ägypter, die dem Opfer zu Hilfe eilten, wurden tätlich angegriffen. Ein Reporter der Nachrichtenagentur AP beobachtete einen ähnlichen Vorfall, bei dem ebenfalls eine Ausländerin Zielscheibe war.

Doch auch Ägypterinnen sind vor der Gewalt nicht gefeit. Männer reißen ihnen die Hidschabs vom Kopf und zerren an ihren Kleidungsstücken. "Meiden Sie den Tahrir-Platz. Dort gibt es viele schlechte Männer", warnte ein junger Mann die IPS-Reporterin.

Verschärft hatte das Klima der Gewalt ein im staatlichen Fernsehen verbreiteter Aufruf, den Kontakt mit Ausländern zu meiden, weil sie Spione ausländischer Geheimdienste sein könnten. Erst nach heftigen Protesten wurde der Spot aus dem Programm entfernt.

Der Vorwurf, eine israelische Agentin zu sein, brachte eine Ausländerin sogar in Todesgefahr. Die Frau wurde geschlagen und beschimpft. Dass sie jemand aus der Gefahrenzone wegzog, rettete der blutenden und schwer traumatisierten Frau möglicherweise das Leben.


Mit Steinen und Flaschen beworfen

Auch eine Gruppe von 100 Ägypterinnen, die in Begleitung von Männern gegen die sexuellen Übergriffe auf dem Tahrir-Platz demonstrierten, wurde massiv angegangen. Die Angreifer bewarfen sie mit Steinen und Flaschen. Auch Gewehrschüsse waren zu hören. "Von Belästigung kann da wohl keine Rede mehr sein", meint die Demonstrantin Sally Zohny. "Das war ein Anschlag."

Hinter den Übergriffen vermuten viele Ägypter staatliche Akteure. Sie fühlen sich an die sexuellen Übergriffe auf Frauen zu Anfang der Proteste 2006 gegen den ehemaligen Staatschef Hosni Mubarak durch die Sicherheitskräfte erinnert.

"Die Gewalt ist der Versuch, Frauen einzuschüchtern, damit sie nicht an den Kundgebungen teilnehmen", meint die ägyptische Journalistin Bisan Kassab. "Sie ist zudem der Versuch, die Frauen der Revolutionsbewegung in Verruf zu bringen. In unserer konservativen Gesellschaft gelten Frauen, die abends an der Seite von Männern an Protesten teilnehmen, als moralisch verwerflich."

Wie Kassab betonte, geht es nicht um Übergriffe, die Einzeltäter in dunklen Gassen, sondern die Männer in Gruppen in aller Öffentlichkeit begehen. Sie unterscheidet zwei Täterprofile. Zum einen gebe es die sexuell frustrierten Männer, denen in wirtschaftlich schwierigen Zeiten die finanziellen Mittel fehlten, um zu heiraten und ein Heim zu gründen. Sie hätten sich schon unter dem Mubarak-Regime gedemütigt gefühlt und gingen, um sich besser zu fühlen, nun auf die schwächeren Glieder der Gesellschaft los.

"Doch hinter den anderen und offensichtlich gut koordinierten Angriffen steckt der Staat", ist sich die 29-Jährige sicher. Zu solchen Übergriffen komme es häufig in politisch heiklen Augenblicken, etwa wenn Wahlen anstünden oder Menschen demonstrierten. Bis zu einem gewissen Grad scheint die Rechnung der Angreifer aufzugehen. So gibt es etliche Frauen, die lieber zu Hause bleiben, als sich der Gefahr eines Übergriffs auszusetzen.


Frauen empört

"Es ist wirklich abscheulich. Die Angriffe geben uns das Gefühl, dass wir weniger wert sind als die Männer. Wir kommen hierher, um unseren Märtyrern, die ihr Leben ließen, unseren Respekt zu zollen", erläutert Shimaan Muhammed. "Und dafür werden wir so schlecht behandelt."

"Vielleicht waren die Frauen nicht richtig angezogen. Vielleicht haben einige von ihnen auch gestohlen", meint ein junger Mann, der seine Identität nicht preisgeben wollte. "Was haben sie auch mitten in der Nacht auf dem Tahrir-Platz verloren?", fragte ein weiterer, der sich als Ahmed vorstellt.

Unter den Auslandskorrespondenten wird die Ausländerfeindlichkeit zunehmend zum Thema. Einig ist man sich, dass sie von Ahmed Shafi, einem Langzeitminister des ehemaligen Mubarak-Regimes, geschürt wird. (Ende/IPS/kb/2012)


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http://www.ipsnews.net/2012/06/women-targeted-in-tahrir-square/

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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Juni 2012