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FRAUEN/524: Brasilien - So viele Morde an Frauen wie in einem Bürgerkrieg (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 3. Dezember 2013

Brasilien: So viele Morde an Frauen wie in einem Bürgerkrieg - Geschlechtsspezifische Gewalt nimmt rapide zu

von Fabiola Ortiz


Bild: © Emanuela Castro/IPS

Eine Demonstrantin in Pernambuco, deren hochschwangere Tochter ermordet wurde
Bild: © Emanuela Castro/IPS

Rio de Janeiro, 3. Dezember (IPS) - Die Zahl der Frauen, die in Brasilien aufgrund ihrer Geschlechtszugehörigkeit getötet werden, hat nach Einschätzung von Experten Ausmaße wie zu Zeiten eines Bürgerkriegs erreicht. Wie aus einer Untersuchung des Instituts 'Avante Brasil' hervorgeht, wurden in dem größten südamerikanischen Staat mit rund 200 Millionen Einwohnern zwischen 2001 und 2010 etwa 40.000 Frauen ermordet. Zudem nimmt der Frauenhandel rapide zu.

Jedes Jahr organisieren die internationale Gemeinschaft und Frauenrechtsgruppen vom 25. November bis 10. Dezember 16 Aktionstage gegen geschlechtsspezifische Gewalt. "Diese Aktionstage rücken die Frage der Frauenrechte stärker ins Licht der Öffentlichkeit", sagte Ingrid Leão, die Brasilien-Koordinatorin des Lateinamerikanischen und Karibischen Komitees für die Verteidigung von Frauenrechten (Cladem).

Zivilgesellschaftliche Organisationen arbeiten derzeit an ihrem Schattenbericht, der im kommenden Februar dem Ausschuss der UN-Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) in Genf vorgelegt werden soll. Der Report soll CEDAW dabei helfen, die Maßnahmen der brasilianischen Regierung gegen Frauenhandel und für den Schutz der weiblichen Gesundheit realistisch einzuschätzen.


Alle zwei Stunden ein Frauenmord

Der Studie von Avante Brasil ist zu entnehmen, dass allein 2010 statistisch gesehen etwa alle zwei Stunden eine Frau aufgrund ihrer Geschlechtszugehörigkeit ermordet wurde. Dies ergibt eine Rate von 4,5 Morden je 100.000 Frauen. Für das laufende Jahr geht man von 4.700 weiblichen Mordopfern aus.

Seit 2006 ist in Brasilien ein Gesetz in Kraft, das schärfere Strafen bei häuslicher Gewalt vorsieht. Das Gesetz ist nach der Apothekerin Maria da Penha benannt, die 14 Jahre lang von ihrem Ehemann verprügelt worden war und 1983 zwei Mordanschläge überlebte. Seitdem ihr Mann ihr im Schlaf in den Rücken schoss, ist sie querschnittsgelähmt.

Mit Unterstützung von Cladem reichte Penha eine Klage bei der Interamerikanischen Menschenrechtskommission der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) ein, und zum ersten Mal befasste sich der regionale Menschenrechtsausschuss mit einem Fall von geschlechtsspezifischer Gewalt. 2001 wurde der brasilianische Staat für schuldig befunden, zu wenig gegen häusliche Gewalt zu unternehmen.

Brasilien hat neben der CEDAW die 1979 von den Mitgliedern der UN ratifiziert wurde, im Jahr 1994 auch die Interamerikanische Übereinkunft zur Prävention, Bestrafung und Beseitigung der Gewalt gegen Frauen angenommen. "Wie ist es möglich, dass wir immer noch ein solches Ausmaß der Gewalt gegen Frauen erleben, obwohl sie seit 40 Jahren öffentlich angeprangert wird?" fragt Télia Negrão vom Nationalen Frauennetzwerk für Gesundheit und sexuelle Rechte.


Armut erhöht Risiken für Frauen

Das Problem tritt in allen sozialen Schichten und Altersgruppen auf. Negrão, die auch die Frauenorganisation 'Coletivo Femenino Plural' leitet, weist jedoch darauf hin, dass die Situation durch soziale Ungleichheit, Armut, geringe Bildung, begrenzte Arbeitsmöglichkeiten und niedrige Einkommen verschärft wird.

Im vergangenen August führte Staatspräsidentin Dilma Rousseff ein Gesetz ein, das alle staatlichen Krankenhäuser dazu verpflichtet, Vergewaltigungsopfer gegen sexuell übertragbare Krankheiten und HIV-Infektionen zu behandeln. Die Opfer haben seither zudem freien Zugang zur 'Pille danach' und dürfen im Fall einer Schwangerschaft abtreiben.

Negrão kündigte an, dass in dem Schattenbericht für CEDAW konkrete Beispiele für Geschlechterdiskriminierung aufgeführt würden. Bei seinem Treffen 2012 hatte sich das CEDAW-Komitee mit dem Frauenhandel auf nationaler und internationaler Ebene befasst. Die Mitglieder forderten konkrete Gegenmaßnahmen und einheitliche Gesetze zum Schutz der Gesundheit von Frauen.

Aus einem Anfang Oktober veröffentlichten Bericht der dem Präsidialamt unterstellten Frauenbehörde geht hervor, dass die in den ersten sechs Monaten dieses Jahres erfasste Zahl von Opfern des Frauenhandels um mehr als 1.500 Prozent höher liegt als im Vergleichszeitraum 2012. Zwischen Januar und Juni 2013 gingen bei den Notruf-Hotlines 263 Anrufe ein, von denen sich 173 auf Menschenhandel auf internationaler Ebene und die übrigen auf Fälle innerhalb von Brasilien bezogen. In 34 Prozent der Fälle ging man davon aus, dass das Leben der Opfer in Gefahr war.

"Wir brauchen Druck von außen. Es ist Aufgabe der Zivilgesellschaft, das Versagen des brasilianischen Staates anzuprangern", meint dazu Estela Scandola, die als Vertreterin der Zivilgesellschaft im Nationalen Komitee für den Kampf gegen Menschenhandel sitzt. Ihr zufolge wird der zweite Nationale Plan für den Kampf gegen Menschenhandel viel zu langsam umgesetzt. Der Mangel an finanziellen Mitteln hat zudem die Einsetzung eines nationalen Ausschusses gegen Menschenhandel verhindert. (Ende/IPS/ck/2013)


Links:

http://www.un.org/en/events/endviolenceday/
http://www.un.org/womenwatch/daw/cedaw/
http://www.oas.org/juridico/english/sigs/a-61.html
http://www.ipsnews.net/2013/11/femicides-brazil-hit-civil-war-proportions/
http://www.ipsnoticias.net/2013/11/la-guerra-civil-brasilena-de-los-feminicidios/

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 3. Dezember 2013
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. Dezember 2013