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FRAUEN/545: Demokratie ... für alle? - Das weibliche Gesicht Lateinamerikas (FES)


Friedrich-Ebert-Stiftung
Internationale Politikanalyse

Demokratie, Wohlstand und Gerechtigkeit für alle?
Das weibliche Gesicht Lateinamerikas

Von Anja Dargatz
Juni 2014



• Obwohl Lateinamerika positive Trends in der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Teilhabe von Frauen verzeichnet, haben fundamentale Geschlechterungerechtigkeiten weiterhin Bestand. Sie sind kein Resultat von politischen Systemen oder Armut, sondern tief in der patriarchalischen Gesellschaftsstruktur verwurzelt.

• Wird die Rolle der Frau als Mutter angetastet, kommen die patriarchalen Gesellschaftsstrukturen deutlich zum Vorschein. Trotz rechtlicher Gleichstellung und dem Aufbrechen des traditionellen Ernährermodells bleiben Frauen weiterhin für die Familienarbeit verantwortlich.

• Nachhaltige Politiken zur Geschlechtergerechtigkeit sind keine Priorität der linken Regierungen Lateinamerikas: Auch das Abtreibungsverbot bleibt mit wenigen Ausnahmen unangetastet.

• Trotz indigener Emanzipationsbewegungen lebt der Rassismus zwischen weißer und indigener bzw. afro-stämmiger Bevölkerung auch 200 Jahre nach der Unabhängigkeit fort - und ist Ausgangspunkt einer doppelten Diskriminierung.

• Lateinamerika ist eine Quelle neuer feministischer Ansätze, die nach Jahrzehnten des Gender-Mainstreamings wieder zur Politisierung frauenrechtlicher Bewegungen und feministischen Denkens beitragen.

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Politische Partizipation - eine Erfolgsstory

Die politische Teilhabe von Frauen ist in Lateinamerika seit Anfang des 20. Jahrhunderts ähnlich wie in Europa stark angestiegen - jedoch unter wesentlich schwierigeren politischen und wirtschaftlichen Bedingungen. Geprägt von Kolonialstrukturen, der Rolle als Hinterhof der USA und dem Kampf gegen Diktaturen und wirtschaftliche Unterentwicklung wurden frauenspezifische Anliegen in Lateinamerika immer einem nationalen oder klassenspezifischen Kampf untergeordnet. Dennoch waren die Anfänge durchaus vergleichbar.

Das aktive und passive Frauenwahlrecht wurde in den lateinamerikanischen Ländern ähnlich wie in Europa in den 1920er bis 1950er Jahren eingeführt - den jeweiligen revolutionären Bewegungen und politischen Umbrüchen entsprechend. Sechs Jahrzehnte vergingen, bis 1990 mit Violeta Barrios de Chamorro in Nicaragua die erste Frau Lateinamerikas ins höchste Staatsamt gewählt wurde. Heute leiten Frauen in fünf lateinamerikanischen Ländern die Regierungsgeschäfte - in Argentinien, Chile, Jamaika, Trinidad und Tobago und der aufstrebenden Wirtschaftsmacht Brasilien. Dies entspricht der Anzahl an Regierungschefinnen in der Europäischen Union.

Auch im Parlament sind Frauen mit einem Durchschnitt von 23 Prozent vertreten, was durchaus mit der europäischen Realität vergleichbar ist. Zwar bestehen beachtliche Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern (Kuba 54 Prozent, Bolivien 25 Prozent, Belize 3 Prozent), doch der Trend weist klar nach oben. In den Regierungen schwankt der Anteil an Ministerinnen zwischen 17 Prozent (Mexiko) und 56 Prozent (Nicaragua, 2011). Auf kommunaler Ebene gelangen Frauen vergleichsweise selten ins Bürgermeisteramt (in 17 Ländern unter 15 Prozent), sind in Stadträten im kontinentalen Durchschnitt hingegen mit 25 Prozent vertreten. In den höchsten Gerichtshöfen werden 23 Prozent der Posten von Frauen besetzt. Zudem existieren in der Mehrheit der Länder unter anderem Frauenquoten für Regierungsämter, Parteilisten oder die Zusammensetzung von Verfassungsgerichten.(1)

Auch außerhalb der Institutionen haben Frauen in der demokratischen Entwicklung des Kontinents immer eine wichtige Rolle gespielt. In Zeiten der Diktaturen traten sie dem bewaffneten Widerstand bei oder organisierten zivile Proteste. Eines der prominentesten Beispiele sind die Mütter der Plaza de Mayo in Argentinien, die mit wöchentlichen Mahnwachen Gerechtigkeit für ihre verschwundenen Familienangehörigen fordern. Auch heute mobilisieren sich häufig Ehefrauen, um die Forderungen ihrer Männer zu unterstützen.


Bildung und Gesundheit - Voraussetzung für Gleichberechtigung?

Zugang zu Bildung ist eine Grundlage für die starke Präsenz von Frauen in den höchsten Posten von Wirtschaft, Politik und Forschung. Im Bereich der Bildung ist die Chancengleichheit so gut wie hergestellt: Fast alle Mädchen schließen ihre Grundbildung ab, 50 Prozent der Studierenden und 46 Prozent der anerkannten Forscher_innen aus Lateinamerika sind Frauen. Die Alphabetisierungsrate von Frauen liegt bei über 90 Prozent.

Die Entwicklungen im Gesundheitswesen geben erste Hinweise darauf, wo die Erfolgsstory endet: in dem Moment, in dem die Rolle der Frau als Mutter angetastet wird - also der Kern der patriarchalen Gesellschaftsstruktur bedroht ist. Zwar ist die Müttersterblichkeit zwischen 1990 und 2010 um beachtliche 41 Prozent zurückgegangen, doch die Anzahl minderjähriger Mütter stagniert seit zwanzig Jahren auf gleichem Niveau (WHO: Trends in Maternal Mortality 1990-2010, 2012). Im Durchschnitt haben zwischen neun und 25 Prozent der Mädchen im Alter von 15 bis 19 Jahren ein Kind bekommen. Der mangelnde Zugang zu Verhütungsmitteln ist dafür ein wesentlicher Grund, schwankt zwischen den einzelnen Ländern aber beachtlich. Während in Paraguay 4,7 Prozent der Frauen keinen Zugang zu Verhütungsmitteln haben, sind es in Haiti 37 Prozent.

In Bolivien fehlt jeder fünften Frau der Zugang zu Verhütungsmitteln. Umfragen haben ergeben, dass die Nichtnutzung von Verhütungsmitteln weniger mit Unkenntnis zu tun hat als mit Misstrauen gegenüber deren Wirksamkeit sowie den gesellschaftlichen und familiären Verhältnissen, in denen der Mann oder auch die Familie ihre Nutzung verbietet und als unmoralisch stigmatisiert (Aliaga 2011: Hidden Realities). Entsprechend dramatisch sind Zahlen und Konsequenzen illegaler Abtreibungen: Mit 34 unsicheren Abtreibungen pro 1 Frauen hat Südamerika dabei weltweit die höchste Quote (Ibid.).


Abtreibungspolitiken - Bastionen des Patriachats

Dem Bild des aufstrebenden Kontinents mit sozialem Bewusstsein steht der Umstand gegenüber, dass ein wesentliches Grundrecht von Frauen von den linken Regierungen nicht aufgenommen wird - eine Regelung, die Frauen erlaubt, eigenständig über die Fortsetzung einer Schwangerschaft zu entscheiden. In fast allen Ländern der Region müssen offizielle Bescheinigungen durch Ärzt_innen im Falle von Gesundheitsrisiken oder Lebensgefahr von Mutter oder Kind oder aber von der Justiz im Falle einer Vergewaltigung vorgelegt werden. In Ecuador, Paraguay, Peru und Venezuela ist Vergewaltigung kein akzeptierter Abtreibungsgrund. In Chile ist Abtreibung derzeit ohne jede Ausnahme strafbar. Das Abtreibungsverbot zieht sich quer durch alle Ideologien und Kulturen und ist unabhängig von Wirtschafts- oder Bildungsdaten.

In Uruguay wurde 2012 eine Fristenregelung eingeführt, in der eine Frau bis zur zwölften Woche nach der Empfängnis abtreiben kann, nachdem sie an einer Pflichtberatung teilgenommen hat. Die Entscheidung der links-progressiven Regierung ist ein Resultat des jahrzehntelangen Drucks von Frauenorganisationen, Zivilgesellschaft und Ärzt_innen. Andere Länder, in denen eine Fristenregelung ohne Bedingungen besteht, sind Kuba (seit 1965), Guayana (seit 1995), die Antillen und Französisch-Guyana, Puerto Rico sowie der Bundesstaat Mexico City.

Dabei ließe sich mit bekannten Mitteln leicht gegen den bestehenden Konservativismus ankämpfen. Gesundheitskampagnen bilden einen Teil des Konzepts populistischer Regierungen, sich nahe beim Volk zu zeigen, und gehören zum Alltag lateinamerikanischer Gesellschaften. Aids ist schon lange kein Tabu-Thema mehr, Menschen mit Behinderungen werden zunehmend Teil der Gesellschaft und Aufklärungsaktionen zu Kinderkrankheiten finden ebenso statt wie regelmäßige Impfkampagnen. Dass hingegen sexuelle Aufklärung und zum Beispiel die GratisVerteilung von Kondomen bislang keine relevante Rolle in den Kampagnen links-progressiver Regierungen spielen, zeigt die tiefsitzende gesellschaftliche Ablehnung der Selbstbestimmung der Frau über ihren Körper, der auch progressive Regierungen nichts entgegenstellen wollen oder können. Eine Ausnahme bildet Michelle Bachelet, die während ihrer ersten Präsidentschaft versuchte, die »Pille danach« kostenfrei an Minderjährige zu vergeben.


Femicidios - Morde an Frauen, weil sie Frauen sind

Symptomatisch für den tief verankerten Machismo und die patriarchalen Gesellschaftsstrukturen sind auch die sogenannten femicidios. So liegt die Anzahl an Frauenmorden in Lateinamerika deutlich über dem weltweiten Durchschnitt. Von den 25 Ländern mit den meisten femicidios sind elf aus Lateinamerika.(2) Im Zeitraum von Januar bis Juli 2011 wurden in Bolivien 226 Tötungen von Frauen registriert.(3) In Peru wurde von 2009 bis 2011 in 384 Fällen der Tatbestand des Femizids nachgewiesen.(4) In Guatemala wurden 2011 705 Frauenmorde gezählt, in Mexiko 2009/10 mindestens 890 Morde.(5) In Deutschland wird im Jahr 2011 von 154 Frauenmorden ausgegangen.(6)

Aufgrund dieser alarmierenden Zahlen werden in ganz Lateinamerika derzeit eine Reihe von Gesetzen zum Schutz der Frau verabschiedet, die häufig mit der Gründung von Kommissionen einhergehen, welche Statistiken erstellen und die Umsetzung der Gesetze begleiten. Der Tatbestand des »Frauenmords« ist relativ neu und wird von den verschiedenen Ländern unterschiedlich aufgeführt, wodurch die Vergleichbarkeit der Daten unmöglich wird. Es geht darum, ein Tötungsdelikt, das auf der spezifischen Mann-Frau-Beziehung beruht, als eigenen Strafbestand herauszuheben - als Beziehungstat und ultimativen Ausdruck des Besitzanspruchs des Mannes über die Frau, meist begangen durch den (Ex-)Partner. Mord ist oft das Ende einer langen Periode von Gewalt gegen die Frau, häufig im Umfeld bekannt und nicht selten zur Anzeige gebracht, ohne dass Maßnahmen dagegen ergriffen worden wären. Durch die besondere Qualifizierung dieser Straftat soll auch die Justiz sensibilisiert werden, die Vergewaltigungen und häusliche Gewalt weit weniger konsequent verfolgt als z.B. Drogenkonsum. Einige Staaten stellen allein den gewaltsamen Tod einer Frau unter eine spezifische Strafe, was dem traditionellen Verständnis der Schutzbedürftigkeit von Frauen entspricht und wenig zur eigentlichen Debatte der geschlechtsspezifischen Gewalt beiträgt.

Häusliche Gewalt und Morde an Frauen sind kein Phänomen von gesellschaftlichen Randgruppen, sondern geschehen ebenso in der Mittel- und Oberschicht. Die zitierten Statistiken zeigen, dass auch in wirtschaftlich aufstrebenden, immer besser ausgebildeten und vernetzten Gesellschaften Gewalt gegen Frauen bestehen bleibt - als sichtbares Beispiel für gelebten Machismo.


Wirtschaft und Soziales - der kleine Unterschied...

Die starke politische Präsenz und hohe wirtschaftliche Aktivität von Frauen in Lateinamerika führt nicht zur Aufhebung der ökonomischen Ungleichheiten, welche trotz des wirtschaftlichen Aufstiegs des Kontinents immer mehr auseinanderklaffen. Gleichzeitig bleibt die arbeitende, politisch engagierte Frau weiterhin verantwortlich für die Familienarbeit.

In Nicaragua, dem Land mit der höchsten Anzahl an Ministerinnen, geht die Schere zwischen Männern und Frauen ohne Einkommen am weitesten auseinander. So stehen den 27 Prozent Männern ohne eigenes Einkommen 60 Prozent Frauen gegenüber. Trotz länderspezifischer Unterschiede ist der Trend eindeutig: Frauen haben weniger Zugang zu bezahlter Arbeit, sind überwiegend im Dienstleistungssektor sowie unter prekären Bedingungen beschäftigt und leisten gleichzeitig mehr Arbeitsstunden als Männer. Während die Armut in ganz Lateinamerika zurückgeht, steigt die Differenz zwischen Männern und Frauen an: Die Armut von Frauen nimmt zu.

Wirtschaftliche Notwendigkeit, aber auch ein höherer Bildungsstand und stärkere internationale Vernetzung führen dazu, dass sich auch in Lateinamerika die traditionellen Formen des menschlichen Zusammenlebens verändern. In Bolivien lebten 2009 52 Prozent der Frauen mit Kindern nicht in einer Ehe, 27 Prozent aber in festen Beziehungen.(7) Das Aufbrechen traditioneller Konzepte führt aber nicht zwangsläufig zu einer Neubewertung der Geschlechterrollen. Eine erfolgreiche Geschäftsfrau überträgt die Erziehung ihrer Kinder eher einer Hausangestellten, als dass sie Ehemann, Bruder oder Sohn in die Familienarbeit einbindet. Diejenigen Bevölkerungsschichten, die sich keine Angestellten leisten können, helfen sich über weibliche Netzwerke (Verwandte, Nachbarinnen). Während sich Frauen in Deutschland häufig vor der Entscheidung zwischen Karriere oder Kind sehen, gehen in Lateinamerika viele Frauen mit Kindern einer bezahlten Arbeit nach oder verfolgen eine politische Karriere - weil die Netzwerke die Kinderbetreuung übernehmen, nicht weil sie sich gegen die bestehenden Geschlechterrollen auflehnen. Dass Frauen damit häufig einen zweifachen - im Falle von gesellschaftlichem oder politischem Engagement dreifachen - Arbeitstag managen, ist Ausdruck der bestehenden Ungleichheit von Frauen und Männern.


Machismo und Rassismus - die doppelte Diskriminierung

Emanzipierte Frauen mit politischem Erfolg sind in der Regel weiß und europäisch-stämmig. Selbst in Ländern mit einem hohen Anteil indigener oder afro-stämmiger Bevölkerung spiegelt die politische Vertretung von Frauen dieser Bevölkerungsgruppen nicht annähernd ihren Anteil an der Gesamtbevölkerung wider. Die Situation in Lateinamerika entspricht damit den weltweiten Erfahrungen in ethnisch-gemischten Gesellschaften mit kolonialer Vergangenheit: Neben dem Geschlechtergefälle zwischen Mann und Frau greifen rassistische Muster, die eine indigene/schwarze/farbige Frau sozial und wirtschaftlich unter die weiße/europäisch-stämmige Frau stellen. Die Ausgrenzung reicht vom dominierenden europäischen/amerikanischen Schönheitsideal der Frau bis zu den Frauenorganisationen der weißen Mittelklasse, die indigene/afro-stämmige Frauen bis vor wenigen Jahren noch als hilfsbedürftige Almosenempfängerinnen ansahen und nicht als compañeras im Kampf um gleiche Rechte.

Das Beispiel Bolivien, in dem sich ein erfolgreicher Emanzipationsprozess der indigenen Bevölkerung vollzieht, zeigt, dass patriarchale Strukturen nicht nur ein Phänomen des kolonial-republikanischen Systems sind, sondern auch in indigenen Gesellschaften dominieren. Derzeit gibt es auf nationaler Ebene lediglich eine indigene Ministerin. Auch das Idealbild der Frau hat sich nicht geändert: Zwar gibt es nun Wahlen zur »Miss Cholita«, die indigene Gesichtszüge aufweist und in traditioneller Kleidung auftritt, bei den allgemeinen Miss-Wahlen gewinnt aber weiterhin die hochgewachsene Kandidatin mit blonden glatten Haaren. Auch auf Werbeplakaten für eine männliche Zielgruppe wirbt nach wie vor der gleiche Typ Frau. Jahrhunderte nach der Unabhängigkeit entspricht das weibliche Idealbild selbst für den indigenen Mann dem der Kolonialherrin und nicht dem der Frau aus seiner comunidad (vgl. Galindo, No se puede descolonizar sin despatriacalizar, 2013).

In der Debatte um Abtreibung bildet Bolivien ein Beispiel sowohl für die aktive Auseinandersetzung mit der (post-)kolonialen Vergangenheit als auch mit dem neuen indigenen Selbstbewusstsein und den feministischen Sichtweisen. Eine Abgeordnete des regierenden Movimiento al Socialismo (MAS) reichte im Juni 2013 beim Verfassungsgericht die derzeitige Abtreibungsregelung zur Prüfung in Bezug auf die Gleichheit von Mann und Frau ein. Dies führte zu einem wochenlangen, medial ausgetragenen Streit zwischen Abtreibungsbefürworter_innen und -gegner_innen. Die Abgeordnete bekam für ihre Initiative weder Rückendeckung von ihrer Partei noch solidarisierten sich die etablierten Frauenrechtsgruppen: Als Abgeordnete einer indigenen comunidad handelte sie aufgrund der Notlage der Frauen in ihrem Wahlkreis und nicht auf der Basis eines feministischen Konzepts. Damit steht sie fern der bolivianischen Frauenrechtsgruppen der weißen Mittelklasse. Der MAS greift das Thema nicht auf, da es nicht mehrheitsfähig ist. Die katholische Kirche spielt in der gesamten Diskussion eine vergleichsweise schwache Rolle. Der MAS, in seinem Verständnis als sozialistisch-antikoloniale Bewegung, beschneidet offen den Wirkungsbereich der Kirche, die sich aus diesem Grund derzeit kaum öffentlich äußert. Wesentlich aggressiver sind hingegen die evangelikalen Freikirchen, die zum Beispiel offen den Ausschluss schwangerer Mädchen vom Schulunterricht fordern. Indigene Vertreter_innen beziehen sich ebenfalls öffentlich auf vermeintliche traditionelle Weisheiten, die Abtreibungen als Ursache für Missernten sehen. In ihrer Ablehnung gegenüber der Selbstbestimmung der Frau über ihren Körper unterscheidet sich die christliche Gesellschaft damit nicht von der indigenen.



Neue Feminismen

Die Anfänge der Emanzipationsbewegungen von Frauen in Lateinamerika waren stark von der gesellschaftspolitischen Konjunktur in Europa beeinflusst, so zum Beispiel das Wahlrecht, die Forderung nach Zugang zu Universitäten seitens der Frauen der Mittel- und Oberschicht sowie bessere Arbeitsbedingungen als Forderung der Arbeiterinnen. Doch schon bald ging der Prozess seinen eigenen, lateinamerikanischen Weg. Angesichts der blutigen gesellschaftspolitischen Kämpfe gegen Diktaturen und wirtschaftliche Ausbeutung wurden Frauen Teil des nationalen politischen Kampfes - eine Notwendigkeit, der sich die europäische Frauenbewegung nicht stellen musste. Teils brachten sie frauenspezifische Anliegen ein, teils ordneten sie diese dem nationalen oder Klasseninteresse unter, ausgehend von der Prämisse: »Mit einer gerechteren Welt wird sich die Gleichheit von Mann und Frau von selbst einstellen - der Kampf ist immer an der Seite der Männer, nie gegen sie.« Dass die Rolle als Hausfrau und Mutter dabei nicht angetastet wird, haben Feministinnen immer wieder als patriarchal kritisiert. Doch hat diese Wirklichkeit der weltweiten Feminismusdebatte früh einen wesentlichen Impuls geliefert, den die europäischen und nordamerikanischen Bewegungen erst sehr viel später aufgegriffen haben: die Verbindung des Privaten mit dem Öffentlichen - wie das Beispiel der Frauen der Plaza de Mayo eindrücklich zeigt - sowie die Existenz von Klassenunterschieden, auch unter Frauen, wie folgendes Zitat deutlich macht:

»Señora, jeden Morgen haben Sie ein anderes Kleid an, ich aber nicht. (...) Ich sehe, dass Sie einen Chauffeur haben, der (...) auf Sie wartet, um Sie nach Hause zu bringen. Mich aber nicht. (...) Jetzt sagen Sie bitte, Señora: Hat Ihre Lage Ähnlichkeit mit der meinen? (...) Scheint es nicht so, dass wir im Augenblick auch als Frauen nicht gleich sein können?«(8)
Domitilia Barrios de Chungara an die Vorsitzende der mexikanische Delegation bei der Internationalen UN-Konferenz der Frau, 1974

Ein weiterer Impuls ist jüngeren Datums und bettet den Kampf um Gleichberechtigung in die Debatte um Deskolonialisierung - ein Konzept, welches koloniale Ideale und Strukturen ablehnt und nach einer selbstbestimmten Identität sucht - und Rassismus ein, in welche auch die Lebensbedingungen und -vorstellungen indigener (»vivir bien«) und afro-stämmiger Frauen in Theorien und Aktionen einfließen. Die Unterschiede zwischen der Stellung der »weißen« und der »indigenen« Frau werden nun nicht mehr negiert, sondern offen analysiert und diskutiert.

Feminismus »von unten«, wie ihn die bolivianische Abgeordnete betrieben hat, oder die Debatte um Depatriarchalisierung, die eine Gesellschaft ohne patriarchale Machtstrukturen als Voraussetzung für eine dekolonialisierte (selbstbestimmte) Gesellschaft ansieht, sind Teil einer vielfältigen Frauenbewegung, die unterschiedliche Sichtweisen auf Gesellschaftssysteme und Rollenbilder zulässt. Damit tragen die aktuellen lateinamerikanischen Bewegungen zum derzeit wichtigsten feministischen Anliegen bei: Der Repolitisierung des Kampfes um die Gleichberechtigung von Mann und Frau.



Anmerkungen

(1) CEPAL: Observatorio de Igualdad de Género, Informe Anual, 2012; Mujeres en la economía digital, 2013.

(2) Small Arms Survey: Femicide: A Global Problem, 2012.

(3) Defensoria del Pueblo del Estado Plurinacional de Bolivia: Feminicidio en Bolivia, 2012.

(4) Observatorio de Criminalidad: Feminicido en el Perú 2009-2011, 2012.

(5) CIDH: Comunicado de Prensa, No. 33, 2012; Observatorio ciudadano de feminicidio, Una mirada al Feminicidio en México 2009-2010, 2010.

(6) Sueddeutsche.de: Tödliche Zweisamkeit, 2012.

(7) Instituto Nacional de Estadística de Bolivia, NP 17, 2012.

(8) Viezzer, Moema 1981: Wenn man mir erlaubt zu sprechen - Zeugnis der Domitilia, einer Frau aus den Minen Boliviens, 6. Auflage.



Über die Autorin

Anja Dargatz ist Leiterin der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bolivien. Der Text wurde mit Unterstützung von Denise Schaffrinski und Lisa Burdorf-Sick erstellt.

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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Juli 2014