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FRAUEN/617: Ein neuer Blick auf die Frauenbewegungen in der Türkei (highlights - Universität Bremen)


highlights - Heft 32 / Winter 2015/16
Informationsmagazin der Universität Bremen

Ein neuer Blick auf die Frauenbewegungen in der Türkei


Die Türkei ist zu einer Schlüsselregion der Welt aufgestiegen. Das Land hat sich wirtschaftlich stark entwickelt und ist gesellschaftlich in Bewegung geraten. Die verschiedenen Interessensgruppen und die politischen Spannungen zwischen ihnen werden immer deutlicher. In Deutschland ist das Interesse an der Türkei besonders groß. Schließlich kommen rund 2,5 Millionen Einwohner aus der Türkei, und dadurch bestehen besonders enge Bindungen. Ein tieferer Blick in die aktuellen Entwicklungen der türkischen Gesellschaft fehlt aber. Wie "tickt" das Land tatsächlich? Ein Rahmenprogramm der Stiftung Mercator soll diese Frage beantworten. Es setzt sich wissenschaftlich mit speziellen Themen der Türkei auseinander. Auch die Universität Bremen ist dabei: Wissenschaftlerinnen des Arbeitsbereichs Interkulturelle Bildung im Fachbereich Erziehungs- und Bildungswissenschaften beschäftigen sich mit "Frauenbewegungen im innertürkischen Vergleich". Sie untersuchen die unterschiedlichen Frauengruppen, die sich für Geschlechtergerechtigkeit in der Türkei einsetzen: Was ist ihr Ansatz, was treibt sie an, wie arbeiten und kooperieren sie?


In der Türkei gibt es nicht eine, sondern viele Frauenbewegungen", sagt Yasemin Karakaşoğlu. Die Professorin für Interkulturelle Bildung leitet das Projekt, das das Engagement der Frauen in der Türkei für Geschlechtergerechtigkeit differenziert aufarbeitet. "Das Thema ist vielschichtiger, als es der reine Begriff 'Frauenbewegungen' erahnen lässt. Schon allein die Begriffe, die die Frauen beschäftigen, werden je nach Umfeld unterschiedlich verstanden: Feminismus, Frauenbewegung, Geschlecht." Was interessiert sie und ihre wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen Charlotte Binder, Aslı Polatdemir und Münevver Azizoğlu-Bazan dabei? "Wir wollen einerseits eine empirisch fundierte Standortbestimmung leisten, also den Ist-Zustand beschreiben. Aber es geht auch um die Frage, ob und wie die Frauenbewegungen in der Türkei trotz ihrer Unterschiede zusammenarbeiten. Gibt es gemeinsame Themen? Wie sind die Frauenbewegungen untereinander vernetzt?"

Der "Internationale Frauentag" am 8. Mai ist eine Art "Brennglas" auf das Forschungsfeld. Um diesen Tag herum kann man besonders gut erforschen, ob und wie die verschiedenen Frauengruppen der Türkei miteinander interagieren. Die Bremer Forscherinnen waren mit dabei: Im März 2014 sammelten Charlotte Binder und Aslı Polatdemir rund um dieses Datum mit "Teilnehmender Beobachtung" ihre ersten Erkenntnisse. In den Millionenstädten Ankara und Diyarbakir besuchten sie Vorbereitungstreffen und begleiteten große Frauendemonstrationen. "Wir wollten wissen, welches die wichtigen Akteurinnen in den einzelnen Gruppen sind. Mit ihnen wollten wir später Interviews führen", sagt Charlotte Binder. Das Projekt vorstellen, Kontakte knüpfen, Dokumente recherchieren - der Einblick in die Frauenbewegungen des Landes wurde schnell tiefer. Ein Jahr später waren die Wissenschaftlerinnen wieder vor Ort, diesmal in den Ägäis-Provinzen Denizli und Muğla sowie in den am Schwarzen Meer gelegenen Provinzen Trabzon und Artvin. "Wir haben ganz bewusst auch Gebiete im Norden und Süden für unsere Untersuchungen ausgewählt, um das in den Sozialwissenschaften verbreitete Bild des fortschrittlichen Istanbuls und des rückständigen Anatoliens zu hinterfragen. Diese Sichtweise wollten wir nicht fortführen. Frauenbewegungen gibt es nicht nur in den Zentren des Landes!", betont Aslı Polatdemir.

Die wissenschaftliche Arbeit vor Ort ist nicht ungefährlich. "Die aktuelle politische Lage der Türkei ist instabil", betont Projektleiterin Yasemin Karakaşoğlu. "Die Forschungsregionen sind manchmal schwer zu erreichen, und die Wissenschaftlerinnen müssen Risiken für Leib und Leben abwägen. In den vergangenen zwei Jahren mussten beispielsweise geplante Feldforschungen in den kurdischen Gebieten abgebrochen werden. Auch der jüngste Anschlag in Ankara verdeutlicht, wie gefährlich die Teilnehmende Beobachtung von Protestbewegungen - und dazu gehören Frauenbewegungen - in der Türkei ist."


Überschneidungen und Ungenauigkeiten

Die Wissenschaftlerinnen erkannten bald die verschiedenen Gruppierungen und Strömungen. "Wir haben aber schnell gemerkt, dass die bisherige Forschungsliteratur die einzelnen Frauenbewegungen häufig in bestimmte Schubladen steckt. Das hat mit der Realität aber nicht viel zu tun", sagt Charlotte Binder. "Tatsächlich läuft der gemeinsame Kampf gegen Ungerechtigkeiten auch gruppenübergreifend. Türkische Feministinnen arbeiten beispielsweise durchaus mit kurdischen Frauenrechtlerinnen oder religiös-konservativen Gruppierungen zusammen." Viele Frauen fühlen sich oft mehr als einer Gruppe zugehörig. Auch diese Überschneidungen oder Ungenauigkeiten arbeiten die Bremerinnen jetzt heraus.

Bei der Beobachtung der Demonstrationen wurde ebenfalls deutlich, wie die einzelnen Bewegungen sich überlappen und wie nahe sich die einzelnen Strömungen manchmal sind: "Wer in der Türkei für Frauenrechte kämpft, tritt häufig auch für die Rechte von Schwulen, Lesben, Bisexuellen, Trans- und Inter-Personen oder für ökologische Ziele ein", nennt Aslı Polatdemir ein Beispiel.

Die Teilnehmenden Beobachtungen sind eine Info-Quelle, die Interviews mit Expertinnen und Aktivistinnen der Frauenbewegungen eine andere wichtige Grundlage. Die Interviewpartnerinnen wurden so ausgewählt, dass die Wissenschaftlerinnen vielfältige Perspektiven auf Frauenbewegungen erhalten. Deshalb sprachen sie sowohl mit Wissenschaftlerinnen aus Universitäten und Forschungszentren als auch mit Aktivistinnen. Auch Beruf, Alter oder ethnische Herkunft der Interviewpartnerinnen spiegeln die Vielfalt von Frauen- und geschlechterpolitischen Aktivistinnen wider. "Für unsere Gespräche hatten wir einen Leitfaden entwickelt. Wir wollten vor allem etwas über die Bündnispolitiken wissen", sagt Münevver Azizoğlu-Bazan. "Wer 65 Interviews führt, bekommt reichhaltige Informationen über Gemeinsamkeiten und Differenzen der Frauenbewegungen. Diese Infos werten wir jetzt zusammen mit weiterem Material aus."

Ob religiös-konservativ, kemalistisch, feministisch, sozialistisch oder schwul-lesbisch - die Ansätze der Frauenbewegungen sind oft grundverschieden. Und doch gibt es Fragen, die alle Gruppen beschäftigen: Gewalt, politische Partizipation oder die Beschäftigungssituation von Frauen sind gemeinsame Themen. Wenn Kampagnen organisiert oder Bündnisse gebildet werden, arbeiten die Bewegungen deshalb oft zusammen. "Beim Kampf gegen die Verschärfung des türkischen Abtreibungsgesetzes wurden 2012 Hunderttausende Frauen in der Türkei mobilisiert, die sich fern aller ideologischen Grenzen gemeinsam aufgelehnt haben", sagt Aslı Polatdemir. "Und beim Weltfrauenmarsch 2015 sind Frauen von der syrischen Grenze bis Diyarbakir und darüber hinaus marschiert. Dabei gingen türkische und kurdische Frauen Seite an Seite." Auch bei den wochenlangen Protesten 2013 gegen das Regierungssystem und die überzogene Polizeigewalt im Istanbuler Gezi-Park wurden die Bündnisse zwischen den verschiedenen Frauengruppierungen sehr deutlich.


Bislang unbearbeitete Forschungslücke

Die Bremer Forscherinnen haben wissenschaftliches Neuland betreten. "In der Forschungsliteratur gab es bislang nur Arbeiten über einzelne Frauenbewegungen. Der Vergleich und die Ausdifferenzierung fehlen - das machen jetzt wir. Wissenschaftlerinnen aus der Türkei haben uns immer wieder gesagt, dass wir eine bislang unbearbeitete Forschungslücke gefunden haben", sagt Charlotte Binder. Der Blick von Außen der Bremer Arbeitsgruppe ist auch eine Chance. Viele Forscherinnen in der Türkei sind gleichzeitig auch in der Frauenbewegung aktiv und damit nicht immer unvoreingenommen.

Die Forschungsresultate aus Bremen bleiben nicht geheim: Neben der wissenschaftlichen Publikation wird gezielt auch die Öffentlichkeit informiert. Projektpräsentationen, Lehrveranstaltungen und einen mehrsprachigen Projektbericht wird es sowohl in Deutschland als auch der Türkei geben. Und schließlich findet zum Abschluss im Herbst 2016 in Bremen ein Workshop statt. Wissenschaftlerinnen und Aktivistinnen aus Deutschland und der Türkei diskutieren dann die Erkenntnisse.


Prof. Dr. Yasemin Karakaşoğlu
Fachgebiet Interkulturelle Bildung
www.blickwechsel-tuerkei.de/de/Projekt_Frauen

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Quelle:
highlights - Informationsmagazin der Universität Bremen
Heft 32 / Winter 2015/16, Seite 22 bis 26
Herausgeber: Rektor der Universität Bremen
Redaktion: Kai Uwe Bohn, Universitäts-Pressestelle
Postfach 330440, 28334 Bremen
Telefon: 0421/218-601 50
E-Mail: presse@uni-bremen.de
Internet: www.uni-bremen.de/universitaet/presseservice/publikationen/highlights.html
 
"highlights" erscheint zweimal jährlich und ist erhältlich bei der Universitäts-Pressestelle.


veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Februar 2016

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