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GENDER/066: LGBTI - Lateinamerika als Vorbild? (frauen*solidarität)


frauen*solidarität - Nr. 146, 4/18

LGBTI - Lateinamerika als Vorbild?
Die Menschenrechtsexpertin Fanny Gómez-Lugo in Wien:
Was Antidiskriminierungsgesetze leisten können und was nicht

von Sonja Hrachovina


In Lateinamerika haben zahlreiche Länder unter progressiven Regierungen Antidiskriminierungsgesetze erlassen und die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare geöffnet. Gleichzeitig werden patriarchale, neokonservative und reaktionäre (auch religiöse) Strömungen von einigen Regierungen gestärkt und führen zu heftigen Auseinandersetzungen pro und kontra gleiche Rechte für LGBTI (Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender und Intersex-Personen).


Am 18. September luden HOSI Wien (Homosexuellen Initiative) und Frauen*solidarität zu einem Vortrag mit anschließender Diskussion zur Frage, ob Lateinamerika als Vorbild für LGBTI(1)-Rechte gelten könnte. Eingeladen war die Menschenrechtsexpertin Fanny Gómez-Lugo(2), es moderierte Ulrike Lunacek(3).

Im letzten Jahrzehnt entwickelten sich die politischen Rechte von LGBTI-Personen in eine positive Richtung, begann Gómez-Lugo ihren Vortrag. Doch trotz verbesserter Rechtsprechung fehle es an flächendeckender Implementierung neuer Gesetze. Der supranationale Interamerikanische Menschenrechtsgerichtshof (Corte Interamericana de Derechos Humanos, Corte IDH) und die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte (Comisión Interamericana de Derechos Humanos, CIDH) überwachen Staaten bei der Einhaltung der Menschenrechte in den Ländern der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS)(4). Einzelne Personen können bei erfolgloser Klage und mehrfachen Berufungen, die sie auf Landesebene eingebracht haben, ihren Fall vor dem Corte IDH als letzter Instanz darlegen. Dieser kann dann eine Empfehlung aussprechen. Relevant z. B. in Fällen, in denen Betroffene Opfer von diskriminierender Staatsgewalt werden.


Fortschrittliche Empfehlungen

Am 10. Jänner 2018 hat der Corte IDH alle Mitgliedstaaten der OAS aufgefordert, die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare zu öffnen. Damit soll die rechtliche Gleichstellung mit heterosexuellen Paaren umgesetzt werden. Auch Namensänderungen und Änderungen der Geschlechtsidentität bei Transgender-Personen konnten durch Empfehlungen des Gerichtshofs vorangebracht werden. Es brauchte kein psychologisches Gutachten, keine Geschlechtsanpassung und keine Hormontherapie, allein der freie Wille der Person solle ausschlaggebend sein für die Eintragung in Dokumenten. Das ist im Vergleich mit einigen europäischen Ländern ein sehr fortschrittliches Denken, wie Gómez-Lugo hervorhob. Die Staaten der OAS sind dazu verpflichtet, den Empfehlungen der Kommission für Menschenrechte und des Corte IDH zu folgen - allerdings sind keinerlei Sanktionen vorgesehen. Daher stellt sich die Frage nach der Durchsetzungskraft dieser Institutionen. Gómez-Lugo erläuterte, sowohl der Gerichtshof als auch die Kommission seien als moralische Instanzen sehr geachtet, und das könne sehr wohl ausreichend sein, dass Staaten die Menschenrechte tatsächlich umsetzen.


Große Unterschiede

Zwischen den Staaten des amerikanischen Kontinents und der Karibik herrschen beträchtliche Unterschiede, wenn es um die Rechte von LGBTI-Personen geht. Abhängig von staatlichen Regierungen, der Rechtsprechung und der Zivilgesellschaft entwickelten sich die gesetzlichen Bestimmungen für Menschen, die nicht einer heterosexuellen Norm entsprechen, überall anders. Argentinien führte das Recht auf gleichgeschlechtliche Ehe bereits 2010 ein - als der erste Staat Lateinamerikas, sogar als der zweite im gesamten globalen Süden und der zehnte weltweit. Brasilien, Uruguay und Mexiko City folgten. In Chile und Kolumbien ist die eingetragene Partnerschaft erlaubt(5).

In den Staaten der Karibik hingegen werden LGBTI-Personen stark diskriminiert. Viele Medien begünstigen durch ihre Berichterstattung homophobe Hetze und gewaltsame Übergriffe. Auch die Rechtsprechung unterliegt strengeren Gesetzen. Mediale Darstellungen können so die Realität von LGBTI-Personen lenken. Und seit der Amtseinführung von Donald Trump sind Gewalttätigkeiten gegenüber LGBTI-Personen signifikant gestiegen - nicht nur in den karibischen Staaten.

Fanny Gómez-Lugo betonte, dass Homophobie immer Resultat der Wahrnehmung durch andere Personen ist und Gewalt, basierend auf Vorurteilen, ein Resultat von herrschender Kultur. Staaten haben daher die Verantwortung, alles zu tun, um Vorurteile und Diskriminierung abzubauen.


Gefährliche Entwicklungen

Die aktuellen politischen Entwicklungen zeigen eine starke Tendenz zum Rechtsruck. Das schwächt die Kämpfe um Gleichberechtigung für LGBTI. Ihre Anliegen haben keine Priorität mehr, und es kommt zum Stillstand oder sogar zu Rückschritten. Auch verschlechtert sich die öffentliche Meinung, wie z. B. der Wahlkampf in Costa Rica sichtbar machte. Ein relativ unbekannter Kandidat, Fabricio Alvarado Muñoz (konservativer evangelikaler Pastor), konnte mit der kleinen Partei Restauración Nacional 40% der Stimmen erhalten. Der gesamte Wahlkampf war geprägt von einer Debatte über Familie, Sexualität und Homosexualität und spaltete die Gesellschaft. Errungenschaften, wie die Debatte über eine Lockerung des Abtreibungsverbots, erlitten Rückschritte(6).

Nicht nur in Lateinamerika findet ein Zusammenschluss konservativer, rechter Regierungen und evangelikaler Strömungen statt, die unter dem Schlagwort Gender-Ideologie bewusst falsche und diffamierende Bilder über die Ziele und Inhalte von feministischen und LGBTI-Gruppen verbreiten.

Ein Beispiel ist die internationale Gruppe Citizen Go, die, nachdem sie in den spanischen Städten nicht mehr geduldet wurde, durch lateinamerikanische Länder zu ziehen begann. Mit ihrem "Bus der Freiheit" macht Citizen Go homophobe und antifeministische Propaganda - durchaus erfolgreich.

In solchen Zeiten, betonte Gómez-Lugo abschließend, ist es umso wichtiger, bessere Allianzen zu knüpfen, gemeinsame Strategien zu entwickeln, eine einheitliche Front gegen homophobe, diskriminierende Verteidiger_innen der "traditionellen Familie" und der christlichen Werte aufzubauen und LGBTI-Gruppen nicht weiter zersplittern zu lassen.

In vielen Teilen Lateinamerikas gibt es eine starke Zivilgesellschaft, die als erfolgreicher Gegenpol zu den neu gewählten rechtsgerichteten Regierungen gesehen werden kann. Mehr als 50 Organisationen arbeiten interkontinental zusammen, um LGBTI-Rechte zu verteidigen und auszubauen. Diese Bewegungen können mithilfe der sozialen Medien aus der ganzen Welt unterstützt werden, um gemeinsam Widerstand gegen homophobe und geschlechtsspezifische Diskriminierung zu leisten.

Anmerkungen:

(1) ...und jene Personen, die sich nicht einer dieser Kategorien zuordnen möchten.

(2) Die Menschenrechtsprofessorin Fanny Gómez-Lugo war von 2012 bis 2016 Berichterstatterin über die Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transgender- und Intersex(LGBTI)-Personen bei der Interamerikanischen Menschenrechtskommission (CIDH). Die geborene Venezolanerin ist derzeit Senior Director of Policy and Advocacy bei Synergía, einer US-amerikanischen Menschenrechtsinitiative, und unterrichtet an der Juridischen Fakultät der Georgetown University.

(3) Ulrike Lunacek ist Botschafterin für EuroPride 2019 Vienna, Obfrau der Frauen*solidarität und war bis 2017 Vizepräsidentin und Vorsitzende der LGBTI-Intergroup des Europaparlaments.

(4) Alle 35 Staaten des amerikanischen Kontinents haben die OAS-Charta ratifiziert.

(5) Jason Pierceson (2013): Same-Sex Marriage in Latin America. Promise and Resistance. S. 3.

(6) Lateinamerika Anders. Nr. 2/2018: Das Ritu(qu)al der Wahlen. S. 14f


ZUR AUTORIN:
Sonja Hrachovina ist Studentin der Gender Studies an der Universität Wien und Praktikantin der Frauen*solidarität

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Quelle:
frauen*solidarität Nr. 146, 4/2018, S. 34-35
Text: © 2018 by Frauensolidarität / Sonja Hrachovina
Medieninhaberin und Herausgeberin:
Frauensolidarität im C3 - feministisch-entwicklungspolitische
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. August 2019

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