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INTERNATIONAL/105: Antidrogenpolitik in Portugal - Die Krankheit bekämpfen, nicht die Menschen (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 3. August 2012

Portugal: Die Krankheit bekämpfen, nicht die Menschen - Interview mit João Goulão, dem Architekten der nationalen Antidrogenpolitik

von Mario Queiroz


João Castel-Branco Goulão, Vorsitzender der Europäischen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogenkonsum - Bild: © Mario Queiroz/IPS

João Castel-Branco Goulão, Vorsitzender der Europäischen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogenkonsum
Bild: © Mario Queiroz/IPS

Lissabon, 3. August (IPS) - Seitdem der persönliche Besitz von Rauschgift in Portugal nicht mehr strafbar und dadurch ein moderater Rückgang des Konsums erkennbar ist, findet die Anti-Drogenstrategie der Regierung internationale Beachtung. Entworfen hat sie João Castel-Branco Goulão, Präsident des portugiesischen Instituts für Drogen und Drogenabhängigkeit. "In Portugal bekämpfen wir die Krankheit, und nicht die Menschen, die an ihr leiden", sagte er im IPS-Gespräch.

Experten in aller Welt, die sich der Kampagne der Vereinten Nationen gegen Drogen angeschlossen haben, sehen die 2001 in Portugal eingeführte Regelung als wichtigen Fortschritt. Die Straffreiheit für Drogenkonsum, gegen die die politische Rechte nach wie vor aufbegehrt, sei durch eine "wohlwollende öffentliche Meinung" in einer Gesellschaft möglich geworden, in der theoretisch jede Familie einen Drogensüchtigen kenne, so Goulão, Vorsitzender der Europäischen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (EBDD).

Der Rauschgiftkonsum sei in dem Land zwar noch immer verboten, könne aber nicht mehr strafrechtlich verfolgt werden, erklärte Goulão. Ein solches Delikt gehe nicht mehr in das Vorstrafenregister ein und ziehe keine Haft nach sich. Diejenigen, die auf frischer Tat ertappt würden, müssten sich allerdings vor Gericht verantworten und eine Geldbuße zahlen. Bei der Beurteilung der Fälle spielen die Auswirkungen des Drogenkonsums auf die Gesundheit eine Rolle.

Die Regierung hat sich laut Goulão bei diesen Regelungen an den Konventionen der Vereinten Nationen orientiert. Er erinnert sich daran, dass anfangs alle gespannt darauf waren, wie sich die Strategie tatsächlich auswirken werde. Als 2009 der erste internationale Bericht veröffentlicht wurde, sei das Interesse stark gestiegen. Politiker, Ärzte, andere Experten und Journalisten kämen aus aller Welt nach Portugal, um sich vor Ort ein Bild von der Lage zu machen.

"Der Erfolg ist nicht nur auf die Entkriminalisierung zurückzuführen. Er ist das Ergebnis einer Reihe von Maßnahmen, die sowohl den Nachschub als auch die Nachfrage reduzieren sollten", sagte er. Dazu zählten Drogenprävention und die Behandlung Süchtiger ebenso wie die soziale Reintegration der Betroffenen.


Anstieg des Drogenkonsums nach dem Ende der Diktatur

"Vor der demokratischen Revolution 1974 hatten wir praktisch kein Drogenproblem", erinnerte sich Goulão. "Durch die Diktatur von 1926 bis 1974 waren wir als Gesellschaft komplett von der übrigen Welt isoliert. Die jungen Leute durften das Land nur verlassen, um an dem Kolonialkrieg in Afrika von 1961 bis 1974 teilzunehmen. Für junge Menschen aus anderen Staaten waren wir kein attraktives Ziel."

Mit der Revolution sei alles anders geworden, berichtet Goulão. Tausende Soldaten und Kolonialisten seien aus Afrika zurückgekehrt. Viele von ihnen hätten bereits Bekanntschaft mit Rauschgift gemacht und es tonnenweise nach Portugal gebracht.

Drogen seien außerdem ein Symbol für Freiheit gewesen, meint er. Deshalb hätten viele Portugiesen damit ungehemmt experimentiert. Sie hätten die Substanzen nicht zu kommerziellen Zwecken ins Land geschmuggelt, sondern um sie gemeinsam mit Freunden zu konsumieren. Kriminelle Banden hätten darin aber schnell einen neuen Markt entdeckt.

"Wir verstanden beispielsweise nicht den Unterschied zwischen harten und weichen Drogen", sagte Goulão. "Die ersten Kampagnen in den siebziger Jahren waren furchtbar. Es fielen Worte wie 'Drogen, Geisteskrankheit, Tod'." Das erste Auftreten von HIV-Infektionen und Aids im folgenden Jahrzehnt hat den Drogenkonsum dann zu einem der gravierendsten Probleme in Portugal gemacht. "Mindestens eine Generation ist durch die Sucht vollständig zerstört worden. Krankheiten wurden über Spritzen verbreitet, und Rauschgiftdelikte erreichten einen Höchststand."

Wie in vielen Ländern der Welt war Drogenkonsum auch für den portugiesischen Staat eine Straftat, die es zu bekämpfen galt. Zuständig waren die Gerichte, nicht die Gesundheitsbehörden. "Und die Drogenkonsumenten wurden zu Opfern, die von Dealern und später von Therapiezentren ausgebeutet wurden."

Wie Goulão erläuterte, kam der Wandel, als das Gesundheitsministerium 1986 und 1987 die ersten öffentlichen Rehabilitierungszentren eröffnete. Danach sei ein nationales Netzwerk aus Therapieeinrichtungen entstanden.


"Drogenkonsumenten sind krank"

Goulão wurde 1997 Direktor des landesweiten Netzwerks. Im folgenden Jahr erstellte er gemeinsam mit zehn Experten einen Bericht, der Empfehlungen unterbreitete, in welche Richtung sich die Strategien zur Prävention, Schadensbegrenzung, Behandlung und sozialer Wiedereingliederung bewegen sollten. "Einer unserer Leitsätze war, dass Drogenkonsumenten nicht kriminell, sondern krank sind und Hilfe brauchen."

Der Entwurf zur Entkriminalisierung des Drogenkonsums wurde im Jahr 2000 im Parlament beraten und trat ein Jahr später als Gesetz in Kraft, nachdem die linke Mehrheit die Rechte überstimmt hatte. Der neue Ansatz habe eine gute Resonanz in der Gesellschaft gefunden, betonte Goulão. "Es war fast unmöglich, eine Familie zu finden, die in dieser Hinsicht kein Problem mit einem Sohn, einer Tochter, einem Neffen oder einem Cousin hatte. Diese Familien wussten, dass es sich bei den Betroffenen nicht um Kriminelle, sondern um Hilfsbedürftige handelt."

Goulão erkennt seitdem deutliche Erfolge. "Selbst die unorganisiertesten Drogenkonsumenten begeben sich allmählich in die Therapiezentren." Da sie keine Angst mehr vor der Polizei haben müssten, kämen sie inzwischen spontan.

Unter den jüngsten Konsumenten sei der Gebrauch fast aller illegalen Substanzen gesunken. "Es gab einen drastischen Rückgang bei injizierten Drogen und infolgedessen auch weniger neue Aids-Fälle", berichtete der Experte. Die mit Rauschgift verbundenen Verbrechen seien ebenfalls zurückgegangen. Nun sei jedoch zu befürchten, dass die Wirtschaftskrise verzweifelte Menschen dazu triebe, sich den Drogen zuzuwenden. (Ende/IPS/ck/2012)

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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. August 2012