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INTERNATIONAL/171: Zentralamerika - Exodus der Kinder, Gerücht schürt Hoffnungen auf Leben in USA (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 8. Juli 2014

Zentralamerika: Der Exodus der Kinder - Gerücht schürt Hoffnungen auf Leben in USA

von Daniela Pastrana


Bild: © Mit freundlicher Genehmigung von Migrantenschützern

Garífuna-Kinder aus Honduras in einer Migrantenherberge in Mexiko
Bild: © Mit freundlicher Genehmigung von Migrantenschützern

Irapuato, Mexiko, 8. Juli (IPS) - "Es war ein Sonntag", erinnert sich Bertha, die Köchin der Migrantenherberge von Irapuato, einer Stadt in Mexikos mittlerem Westen, an die Ankunft von 152 honduranischen Afrokariben (Garífuna), darunter 60 Kinder. "Sie blieben nur wenige Stunden, duschten, aßen und brachen wieder auf. Sie waren nicht sehr gesprächig. Auf die Frage, ob die Kinder nicht zur Schule gingen, antwortete mir eine der Frauen, dass das derzeit nicht möglich sei."

Zwischen Mai und Juni hat die Herberge mehr als 400 Kinder aufgenommen, die meisten aus Honduras. Sie waren in großen Gruppen unterwegs. Nur einmal blieben sie länger als vier Stunden. "Sie waren wortkarg und wollten uns nicht verraten, welcher Route sie gefolgt sind. Allerdings wussten wir, dass sie nicht den Zug genommen hatten", berichtet Guadalupe González, Leiterin der Migrantenherberge von Irapuato.

Etwa 1.000 Kilometer südöstlich befindet sich die Migrantenherberge 'La 72' von Tenosique, einem Bezirk im mexikanischen Bundesstaat Tabasco an der Grenze zu Guatemala. Dort beobachtet man eine ähnliche Entwicklung: die Zunahme von Migrantenkindern im Alter zwischen 14 und 18 Jahren, von Frauen mit kleinen Kindern und Gruppen von Garífuna, die in der Vergangenheit nur selten auf der Route der Migranten in Richtung USA anzutreffen waren.

Mexikos Nordgrenze zu den USA ist 3.152 Kilometer, die Südgrenze mit Guatemala 957 Kilometer und die mit Belize 193 Kilometer lang. Die Entfernung von Süd- bis Nordmexiko beträgt 3.200 Kilometer Luftlinie, doch die sechs wichtigsten Migrantenrouten erstrecken sich über eine Länge von mehr als 5.000 Kilometern.


Zahl der Kindermigranten nimmt zu

Die gleichen Tendenzen, die sich in Herbergen von Irapuato und Tenosique zeigen, lassen sich auch in den anderen Aufnahmezentren beobachten. In der Belén-Herberge in Saltillo, der Hauptstadt des nordöstlichen Bundesstaates Coahuila an der US-Grenze, stieg die Zahl ankommender Kinder dramatisch von vier pro Monat auf vier pro Tag. "Das ist extrem beunruhigend", sagt Padre Pedro Pantoja, der Leiter der Herberge.

Bisher ist unklar, was genau den Exodus der zentralamerikanischen Kinder verursacht hat, von denen viele allein unterwegs sind. Gezeigt hat sich, dass er die Kapazitäten der US-Grenzpatrouillen drastisch überfordert und in den USA eine humanitäre Krise ausgelöst hat, wie Präsident Barack Obama einräumte.

Migrantenrechtsaktivisten in Mexiko führen den Trend auf das Gerücht zurück, wonach der Status illegal in die USA eingewanderter Kinder reguliert wird. Aus diesem Grund will es auch Delsy versuchen, die Mutter, Geschwister und ihren 15 Monate alten Sohn in der Heimat zurückgelassen hat. Sie ist zwar 20 Jahre alt, hofft aber als jünger durchzugehen.

"Mir hat jemand gesagt, das ich von Tijuana problemlos in die USA gelange, wenn ich mein Alter mit unter 18 angebe", so Delsy, die im Zug in die nordwestmexikanische Grenzstadt unterwegs ist. "Das ist eine totsichere Sache, denn die Person, von der ich den Tipp habe, hat es schließlich auch geschafft."

Seit Oktober 2013 sind in den USA mehr als 52.000 Kindermigranten aufgegriffen worden. In den Bundesstaaten Texas und Arizona, die an Mexiko anstoßen, sind die Haftzentren und Militärbasen mit Minderjährigen überfüllt. Gegen alle Insassen laufen Deportationsverfahren.

Bisher haben weder die mexikanische noch die US-Regierung Maßnahmen gegen das Phänomen ergriffen. Das einzige, was sich bisher geändert hat, ist die Nationalität der Kindermigranten. Waren es lange Zeit Mexikaner, die versuchten, in die USA zu gelangen, sind es inzwischen vor allem Zentralamerikaner.

Zwischen dem 1. Oktober 2013 und dem 15. Juni 2014 wurden in den USA nach Angaben der US-Zoll- und Grenzschutzbehörde 15.027 Kinder aus Honduras, 12.670 aus Guatemala, 12.146 aus Mexiko und 11.436 aus El Salvador festgenommen.

Das 'Pew Research Centre' in Washington bringt die Kindermigration mit der hohen Gewaltrate in den Herkunftsländern in Verbindung. "Es gibt eine humanitäre Krise, nicht nur in den USA, sondern auch im nördlichen Dreieck Zentralamerikas und insbesondere in Honduras. Diese Krise zwingt Kinder und Opfer sozialer und politischer Gewalt dazu, die Region zu verlassen", meint auch Diego Lorente vom 'Centro de Derechos Humanos Fray Matías de Córdova' (CDHFrayMatías) in Tapachula im südmexikanischen Bundesstaat Chiapas. Die Migrantenrechtsorganisation dokumentiert seit 2011 die Zunahme der Migration und Festnahmen von Minderjährigen.

Das Problem könnte weitaus größer sein als bisher angenommen, denn tausende Kinder, die ihre Heimatländer verlassen, kommen nie in den USA an. Menschenrechtler gehen davon aus, dass vier von zehn Kindermigranten erst gar nicht die mexikanisch-US-amerikanische Grenze erreichen.

Einige der Heranwachsenden werden bereits in Mexiko festgenommen. Das staatliche Nationale Migrationsinstitut hat berichtet, zwischen dem 1. Januar und dem 26. Juni 2014 10.505 Kindermigranten "gerettet" zu haben, die in ihre Heimatländer deportiert wurden. Viele verschwinden auf Nimmerwiedersehen auf mexikanischem Territorium. "Kinder im Alter von 13 bis 16 Jahren landen in Bordellen, in sklavenähnlichen Verhältnissen, werden umgebracht, vermisst oder selbst zu bezahlten Killern", berichtet Pantoja von der Migrantenherberge in Saltillo.

Nach US-amerikanischem Recht müssen die Verfahren gegen Kinder innerhalb von 72 Stunden abgeschlossen sein. Hätte sie Verwandte in den USA, die sie als Angehörige identifizieren, dürften sie bleiben. Oder aber sie werden in Migrantenheime gesteckt. Sobald sie 18 werden, erfolgt die Abschiebung.

Am 30. Juni hatte Obama bekannt gegeben, dass seine Einwanderungsreform am Widerstand der Republikaner im Repräsentantenhaus gescheitert sei und dass er nur per Dekret versuchen könne, die Krise zu lösen.

Doch gibt es keine einfachen Lösungen für das Problem. Den honduranischen Behörden zufolge haben in diesem Jahr bisher 3.000 Kinder die Schule abgebrochen, um den "amerikanischen Traum" zu verwirklichen. "In den Garífuna-Gemeinschaften an der Nordküste des Landes gehen viele Kinder von der Schule ab, um das Land mit ihren Eltern oder in Begleitung anderer Personen in Richtung USA zu verlassen", hieß es unlängst in der honduranischen Zeitung 'La Tribuna' vom 28. Juni.

"Das Gerücht hat sich wie ein Lauffeuer verbreitet, und nun scheint es nicht mehr zu stopppen zu sein", so Guadalupe González von der Irapuato-Migrantenherberge, während sie zwei honduranischen Frauen nachblickt. Auch diese beiden rechnen fest damit, dass sie über die US-Grenze dürfen, wenn sie sagen, dass sie minderjährig seien. (Ende/IPS/kb/2014)


Links:

http://www.ipsnoticias.net/2014/07/la-crisis-anunciada-de-los-ninos-migrantes-de-america-central/
http://www.ipsnews.net/2014/07/child-migrants-flee-central-american-crisis/

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IPS-Tagesdienst vom 8. Juli 2014
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Juli 2014