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INTERNATIONAL/198: Argentinien - Sozialversicherung wird zu fester Institution (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 14. Oktober 2015

Argentinien: Gekommen und geblieben - Sozialversicherung wird zu fester Institution

von Fabiana Frayssinet


Bild: © Fabiana Frayssinet/IPS

Ein Ehepaar vor seinem Haus in einer Armensiedlung in der Provinz Córdoba, Argentinien
Bild: © Fabiana Frayssinet/IPS

BUENOS AIRES (IPS) - Wenn mit den Präsidentschaftswahlen am 25. Oktober die Ära Kirchner in Argentinien endet, ist nicht nur die wirtschaftliche Zukunft des Landes ungewiss. Auch die sozialen Sicherungssysteme, die das Präsidentenehepaar Néstor und Cristina Kirchner in den vergangenen zwölf Jahren für die ärmeren Bevölkerungsschichten eingeführt hat, stehen auf dem Prüfstand. Doch die Kandidaten mit den besten Aussichten auf das Amt haben bereits signalisiert, die Programme im Großen und Ganzen aufrecht zu erhalten.

Offizielle Statistiken über die Zahl der Argentinier, die Sozialhilfe empfangen, gibt es nicht. Für die Vielzahl von Programmen sind unterschiedliche Ministerien zuständig, die keine gemeinsame Datenbank führen. Nun hat die Beobachtungsstelle für die Sozialschulden Argentiniens (ODSA) der Katholischen Universität in der Hauptstadt Buenos Aires eigene Zahlen vorgelegt. Dementsprechend erhalten 28 Prozent aller städtischen Haushalte staatliche Transferleistungen. Das ist viel, schaut man sich die Bevölkerungsstruktur an: Von den 43 Millionen Argentiniern leben 87 Prozent in Städten. Allein 11,5 Millionen fallen auf den Großraum Buenos Aires.

Der ODSA zufolge ist das Kindergeld (AUH) am weitesten verbreitet: 3,6 Millionen Familien erhalten eine Unterstützung von umgerechnet rund 88 US-Dollar pro minderjährigem Kind. Voraussetzung ist, dass die Eltern arbeitslos sind oder einer informellen Beschäftigung nachgehen. Sie müssen sich außerdem verpflichten, die Kinder in die Schule zu schicken und sie regelmäßig medizinisch untersuchen zu lassen. Präsidentin Cristina Kirchner hatte das Kindergeld erst in diesem Sommer um 30 Prozent erhöht.


Armut stark gesunken

"Die sozialpolitischen Programme, die seit 2003 eingeführt wurden, haben auf jeden Fall einen großen Anteil daran, dass die Armut stark zurückgegangen ist", sagt Gala Díaz Langou vom 'Zentrum für die Umsetzung staatlicher Maßnahmen für die Gleichheit und das Wachstum' gegenüber IPS. Das Kindergeld wurde 2009 eingeführt. Dieses habe vielen sozial schwachen Familien eine Art Grundeinkommen ermöglicht.

Der ODSA zufolge erhalten 557.000 junge Menschen zwischen 18 und 24 Jahren Leistungen aus dem Programm 'Progresar', die weniger als umgerechnet 600 US-Dollar monatlich verdienen. Das Programm 'Argentina trabaja' will Menschen dabei unterstützen, wieder eine Beschäftigung zu erhalten, indem es unter anderem Kooperativen unterstützt. Andere Programme sind der 'Plan Jefes y Jefas' für arbeitslose Eltern und 'AUH por embarazo' für Schwangere und junge Mütter. Das Programm 'Asignación por Embarazo' erreicht laut ODSA 68.580 Frauen und soll die medizinische Unterstützung in der Schwangerschaft gewährleisten.

Fast 15 Jahre nach der letzten schweren Wirtschaftskrise in Argentinien liegt die Armutsrate laut ODSA noch immer bei 30 Prozent. Ohne die Sozialprogramme läge die Rate drei Prozent höher, und die Zahl derer, die in extremer Armut leben, läge bei vier statt zwei Millionen und wäre damit doppelt so hoch.

"Die Armutsrate ist zwar gesunken, aber die Kinderarmut hat in den vergangenen Jahren zugenommen", sagt Díaz Langou. Daher müsse das Kindergeld AUH unbedingt ausgebaut werden.

"Der Armut entkommt man vor allem durch Arbeit, Aus- und Weiterbildung", erklärt der Wirtschaftswissenschaftler Marcos Hilding von der Stiftung 'Libertad y Progreso', die der politischen Opposition nahesteht. Er kritisiert, dass es keine verlässlichen Quellen über die Zahl der Hilfsempfänger gebe und dass sich die unterschiedlichen Programme nicht nur ergänzten, sondern teilweise auch überlagerten, sodass manche Familien aus dem gleichen Grund Gelder aus mehreren Töpfen erhielten. Seiner Stiftung zufolge seien in diesem Jahr bereits rund 16,7 Milliarden US-Dollar an staatlichen Transferleistungen geflossen.


Präsidentschaftskandidaten versprechen Erhalt der Sozialhilfe

Mit den Wahlen am 25. Oktober endet die Ära Kirchner. Von 2003 bis 2007 regierte der mittlerweile verstorbene Präsident Néstor Kirchner und seit 2007 ist seine Frau Cristina Fernández de Kirchner im Amt. Während nach der Wahl eine neue wirtschaftliche Linie als wahrscheinlich gilt, wollen die aussichtsreichsten Präsidentschaftskandidaten zwar auch die Sozialprogramme umstrukturieren, aber insgesamt beibehalten.

In den Umfragen an erster Stelle steht zur Zeit Daniel Scioli von der regierenden 'Frente para la Victoria'. Er will die Sozialprogramme zunächst so belassen, sie aber Schritt für Schritt durch "reguläre Arbeitsplätze" ersetzen. Sein größter Rivale, Mauricio Macri von der Oppositionspartei 'Pro', versicherte, die Sozialprogramme seien "garantierte soziale Rechte". Der dritte Kandidat mit Aussicht auf Erfolg, Sergio Massa von der 'Frente Renovador', kündigte die größten Einschnitte an, sollte er gewählt werden: Die Sozialhilfe solle nur noch erhalten, wer einer regulären Tätigkeit nachgehe oder sich zumindest weiterbilde und sich um Arbeit bemühe. Alle drei Kandidaten wollen das Kindergeld AUH beibehalten.

"Klar ist das auch Wahlgetöse", sagt Salvia. "Aber bei der aktuellen wirtschaftlichen Situation ist es aus soziopolitischer Sicht gar nicht möglich, die Sozialhilfe ohne hohe soziale und politische Kosten kurz- oder mittelfristig zu streichen." (Ende/IPS/jk/14.10.2015)


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http://www.ipsnoticias.net/2015/10/planes-sociales-llegaron-para-quedarse-en-argentina/

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IPS-Tagesdienst vom 14. Oktober 2015
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. Oktober 2015

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