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JUGEND/314: Exklusion - der ewige Stachel der Kinder- und Jugendhilfe (DJI Impulse)


DJI Impulse
Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 4/2013 - Nr. 104

Exklusion - der ewige Stachel der Kinder- und Jugendhilfe

Von Christian Lüders



In der Kinder- und Jugendhilfe wird das Phänomen der Exklusion seit jeher intensiv diskutiert. Das hat allerdings bisher nicht dazu geführt, dass die eigene Praxis unter der Perspektive von Exklusionsprozessen und -mechanismen systematisch erforscht worden wäre. Wenn es um die empirische Überprüfung von Exklusion im Kontext der Angebote der Kinder- und Jugendhilfe geht, gibt es kaum aussagekräftige Studien.


Sollte jemand auf die Idee kommen, eine Hitliste der Dauerthemen der Fachdiskurse in der Kinder- und Jugendhilfe aufzustellen - das Thema Exklusion einschließlich seiner begrifflichen Verwandten und Vorgänger hätte alle Chancen, ganz oben zu landen. Dabei sind zwei Bezugspunkte von Bedeutung: Zum einen verstand sich die Kinder- und Jugendhilfe ebenso wie die Soziale Arbeit und Sozialpädagogik von Anfang an als sozialpolitisch engagierte, kritische Instanz gegenüber allen Formen gesellschaftlicher Ausgrenzung. Die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Spaltungen sowie mit allen Formen von Armut und sozialer Benachteiligung sind identitätsstiftende Momente des professionellen Selbstverständnisses.

Zum anderen enthält die Auseinandersetzung mit Fragen der Exklusion auch eine reflexive Komponente, die sich auf das eigene Praxisfeld und das eigene Handeln bezieht. Wirksam wird dabei ein im Fachdiskurs und dem professionellen "Common Sense" der Kinder- und Jugendhilfe beziehungsweise der Sozialpädagogik und Sozialarbeit tief verankertes, dual angelegtes Deutungsmuster mit eindeutigen Prioritäten: Einerseits ist Exklusion von Übel und in jedem Fall zu vermeiden, hat man es doch meist mit Adressatinnen und Adressaten zu tun, deren Lebenslagen ohnehin als verletzlich und prekär, also von Exklusion mindestens bedroht, zu charakterisieren sind. Andererseits ist alles, was inkludierend wirkt und damit auch gesellschaftliche Teilhabechancen eröffnet, zu begrüßen und zu fördern.

Die Wahrnehmung für die ausgrenzenden Effekte sind fein ausgeprägt - auch wenn sie mitunter zu kuriosen Sprachgebilden führen. Wer beispielsweise die schwurbeligen Debatten und das Ringen um korrekte Ausdrucksweisen erlebt hat, weil anderenfalls Stigmatisierungen und ihre vermeintlich weitreichenden ausgrenzenden Folgen drohen würden, erhält eine Ahnung von der Mächtigkeit dieses Diskurses und den Ängsten, wider den eigenen Anspruch dennoch ausgrenzend zu wirken. Eine Formulierung wie "verhaltensoriginelle junge Menschen" ist nur ein Beispiel dafür. Selbst Begriffe wie "junge Menschen mit Migrationshintergrund" - auch keine elegante Wortschöpfung - geraten unter diesen Bedingungen unter den Verdacht, Exklusion zu unterstützen.

Auf der gesellschaftstheoretischen Ebene findet dieses dual angelegte Weltbild seinen Widerhall in zahlreichen Analysen zum Wandel des Wohlfahrtsstaates. Die entsprechenden Zeitdiagnosen fokussieren dabei immer wieder auf sich abzeichnende oder gar nachweisbare Exklusionsprozesse - zum Beispiel im Kontext der Schule, des Übergangssystems, des Arbeitsmarkts oder der wohlfahrtsstaatlichen Leistungssysteme. Ziel ist, die veränderten gesellschaftlichen Erwartungen an und Handlungslogiken von Sozialer Arbeit zu reflektieren und konzeptionelle, professionspolitische und gegebenenfalls praktische Alternativen auszuloten.

Auf der Ebene der Fachpraxis entspricht diesen Reflexionen das ständige Bemühen, Strategien der Ansprache und Zugänge zu den "schwer erreichbaren" Adressatinnen und Adressaten zu erproben und umzusetzen. Seit dem Achten Jugendbericht, mit dem das Konzept der Lebensweltorientierung begründet wurde, sind vor allem Begriffe wie Öffnung, Niedrigschwelligkeit, zugehende, aufsuchende und milieunahe Angebote, Diversity-Sensibilität und Inklusion in der Diskussion (Deutscher Bundestag 1990). Daran lässt sich eine bemerkenswerte kontinuierliche thematische Weiterentwicklung der Fachpraxis ablesen.


Staatliche Unterstützungsleistungen können soziale Ungleichheit verfestigen

Angesichts dieser - zumindest im Kern - berechtigten vielfältigen Anstrengungen ist es dann aber doch überraschend, dass neben sozialpolitischer Gegenwartsdiagnose, Theoriediskursen und Praxisentwicklungen die empirische Forschung in diesem Kontext eine vergleichsweise marginale Rolle spielt. Zwar finden sich immer wieder verstreute Einzelstudien, aber eine systematische, empirisch belastbare Analyse exkludierender Effekte sucht man vergebens. Das gilt sowohl auf der Ebene des Systems der Kinder- und Jugendhilfe als auch in den einzelnen Praxisfeldern. Gerade dort, wo konkrete Unterstützungsangebote zum Alltag gehören, wäre eine empirische Überprüfung der Exklusionsverläufe seit Langem geboten. Auf eine schlichte Formel gebracht: Die Beschäftigung mit Exklusionsprozessen in der Kinder- und Jugendhilfe basiert mehr auf einem schlechten Gewissen, das vor allem durch theoretische Reflexionen und durch das Professionswissen erzeugt wird, und weniger auf empirisch belastbaren Aussagen.

Um nicht missverstanden werden: Der Verweis auf die unzureichende empirische Basis dient nicht dazu, das Problem und die damit einhergehenden Herausforderungen aus der Welt zu schaffen. Nicht umsonst hat kürzlich der 14. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung angemerkt, dass es neben verschiedenen Formen herkunftsbedingter sozialer Ungleichheit auch institutionell erzeugte Formen sozialer Ungleichheit gibt (Deutscher Bundestag 2013). Entgegen den guten Absichten und den sozialpolitischen Ambitionen betont der Bericht, "dass die Ausweitung öffentlicher Verantwortung für das Aufwachsen keineswegs im Selbstlauf zu einer Kompensation dieser herkunftsbedingten Benachteiligungen führt". Vielmehr würden die Analysen des Berichtes darauf hinweisen, "dass öffentliche Angebote, Leistungen und Institutionen selbst zur Perpetuierung sozialer Ungleichheit beitragen (können)" (ebd., S. 365). Diese Einschätzung gilt auch für die Angebote der Kinder- und Jugendhilfe. Die Sachverständigenkommission hat ihre Kritik im 14. Kinder- und Jugendbericht sehr zurückhaltend formuliert - auch wenn an anderer Stelle von der unbeabsichtigten "Verstärkung sozialer Ungleichheit" (ebd., S. 99) die Rede ist -, weil belastbare empirische Analysen fehlen.

Natürlich könnte man ausgiebig darüber diskutieren, welche Gründe für diese empirische Enthaltsamkeit verantwortlich sind. Viel wichtiger ist es jedoch, sich der Herausforderung zu stellen und empirisch gehaltvolle Forschung auf den Weg zu bringen. Dabei geht es nicht darum, der Kinder- und Jugendhilfe Versagen vorzuwerfen, sondern die eigene Reflexion empirisch anzureichern, möglicherweise auch ein wenig zu versachlichen.

Damit ergäbe sich auch die Chance, das zu akzeptieren, was man schon wissen könnte: Nämlich, dass jedes institutionelle Setting, jede Arbeitsform und jedes Verfahren Differenzen und angesichts unvermeidlich knapper zeitlicher, sachlicher und personeller Ressourcen Exklusion erzeugt. Exklusion wäre dann nicht mehr nur das zu vermeidende und ausgeschlossene Andere des professionellen Selbstverständnisses, sondern die zu gestaltende fachliche theoretische wie praktische Herausforderung, die in ihrer konkreten Umsetzung sowie in ihren Folgen für die Betroffenen empirisch beschreibbar wäre.


DER AUTOR

Dr. Christian Lüders leitet die Abteilung "Jugend und Jugendhilfe" des Deutschen Jugendinstituts. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen unter anderem die Adressatinnen und Adressaten, Institutionen und Verfahren der Kinder- und Jugendhilfe, Evaluation und Theorien pädagogischen Wissens sowie Wissenschaftsforschung.
Kontakt: lueders@dji.de


LITERATUR

DEUTSCHER BUNDESTAG (2013): 14. Kinder- und Jugendbericht. Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland, Berlin. Im Internet verfügbar unter:
www.bmfsfj.de/BMFSFJ/Service/publikationen,did=196138.html
(Zugriff 17.01.2014)

DEUTSCHER BUNDESTAG (1990): Bericht über Bestrebungen und Leistungen der Jugendhilfe - Achter Jugendbericht. Deutscher Bundestag. Drucksache 11/6576 vom 06.03.1990. Bonn. Im Internet verfügbar unter:
www.bmfsfj.de/doku/Publikationen/kjb/data/download/8_Jugendbericht_gesamt.pdf
(Zugriff: 17.01.2014)


DJI Impulse 4/2013 - Das komplette Heft finden Sie im Internet als PDF-Datei unter:
www.dji.de/impulse

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Quelle:
DJI Impulse - Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 4/2013 - Nr. 104, S. 7-8
Herausgeber: Deutsches Jugendinstitut e.V.
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Telefon: 089/623 06-140, Fax: 089/623 06-265
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Die Hefte können kostenlos unter www.dji.de/impulsebestellung.htm
abonniert oder unter vontz@dji.de schriftlich angefordert werden.


veröffentlicht im Schattenblick zum 4. April 2014