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KIND/043: Pakistan - Krieg gebiert Kinderarbeit, Bildung rückt in weite Ferne (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 6. Juli 2011

Pakistan: Krieg gebiert Kinderarbeit - Bildung rückt in weite Ferne

Von Ashfaq Yusufzai

Kinder durchwühlen Müll in FATA-Region - Bild: © Ashfaq Yusufzai/IPS

Kinder durchwühlen Müll in FATA-Region
Bild: © Ashfaq Yusufzai/IPS

Peschawar, 6. Juli (IPS) - Eigentlich sollte er mit anderen Kindern in einem Klassenzimmer sitzen. Stattdessen verkauft Jawad Ali auf dem Khyber-Bazar in der nordwestpakistanischen Stadt Peschawar Sandalen. "Ich wäre lieber in der Schule, doch das geht jetzt nicht", sagt der elfjährige Junge. Schließlich hat er eine Verantwortung zu schultern. So trägt er aktiv zum Lebensunterhalt seiner zehnköpfigen Familie bei, die vor zwei Jahren vor der Gewalt in den Stammesgebieten unter Bundesverwaltung (FATA) geflohen ist.

Ali war in der zweiten Klasse, als ihn die Umstände zur Aufgabe seiner schulischen Laufbahn zwangen. Selbst wenn er mit seiner Familie in der FATA-Ortschaft Bajaur geblieben wäre, hätte seine Familie größte Probleme gehabt, ihn und seinen Zwillingsbruder zur Schule zu schicken. Doch nun ist die Situation völlig aussichtslos.

Ali ist eines von tausenden pakistanischen Kindern aus den FATA, die in der Nachbarprovinz Khyber Pakhtunkhwa Schuhe putzen, Obst und Gemüse verkaufen oder in Hotels und Autowerkstätten jobben. Da es ihren Familien, die vor den bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der pakistanischen Armee und den Taliban geflohen sind, an Einkommen und Unterkünften mangelt, tragen sie zum Lebenserwerb bei.

Das Lehmhaus, das Alis Familie in Banjaur bewohnte, war während einer Militäroperation dem Boden gleich gemacht worden. Für ihre Unterkunft in Peschawar fällt nun eine Miete an. Das ist eine zusätzliche finanzielle Belastung, sind die Lebenshaltungskosten in Peschawar, der Hauptstadt der FATA, ohnehin schon höher als in ihrem Heimatdorf.


Geringe Einnahmen, hohe Ausgaben

"Seit wir in Peschawar sind, können meine drei Kinder nicht mehr zur Schule gehen, weil wir die Miete für das Haus bezahlen müssen, in dem wir jetzt leben", sagt auch Muhammad Jamal aus Mohmand Agency. Terroranschläge und Militäroperationen hatten ihn und die Seinen im August 2009 nach Peschawar verschlagen. Daheim in seinem Dorf hätte er problemlos den Schulbesuch seiner Kinder bezahlen können. Doch hier in Peschawar, wo alles teurer sei und er keinen festen Job habe, sei das nicht mehr möglich. "Das Einkommen reicht gerade für die laufenden Kosten und die Miete unseres Zwei-Zimmer-Hauses", rechnet er vor.

Die militärischen Operationen treffen vor allem die Kinder", betont Akhunzada Chattan, ein Abgeordneter der FATA, gegenüber IPS. "Sie übernehmen Gelegenheitsjobs, um ihre Familien durchzubringen." Seiner Meinung nach wäre es Sache der internationalen Gemeinschaft, den Heranwachsenden zu helfen.

Der 13-jährige Abdul Jabbar hätte es nie für möglich gehalten, dass er einmal der Schule fern bleiben könnte. "Ich war der beste Schüler meiner Schule", so der Junge, der in Mohmand Agency die sechste Klasse besuchte. Doch seinen Traum von einem Leben als Militäroffizier hat er inzwischen begraben.

Wie Javid Alam von der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) berichtet, sind 17 Prozent der FATA-Bevölkerung von fünf Millionen Menschen Kinder. Von diesen 17 Prozent droht zehn Prozent die terrorismusbedingte Vertreibung. Die ILO führt einige Projekte durch, die den vertriebenen Kindern zu einer Schulbildung verhilft. Denn ohne eine Ausbildung, befürchtetet Alam, liefen die Kinder Gefahr, in die Fänge der militanten Gruppen und Terroristen zu geraten.

Die FATA, zwischen Afghanistan und Khyber Pakhtunkhwa gelegen, waren vor dem Einmarsch der US-geführten Truppen in Kabul 2001 ein sicherer Ort. Damit war es vorbei, als sich die von der Macht vertriebenen Taliban nach Pakistan absetzten und in den FATA einen sicheren Hafen fanden. Ende 2004 jedoch ging die pakistanische Armee gewaltsam gegen die selbsternannten Gotteskrieger vor. Was folgte, war ein Exodus tausender Familien aus der Region.

In Peschawar Saddar, dem Zentrum von Peschawar, serviert Ahmed Ali an einem Kiosk Getränke. "Ich verdiene jeden Tag zwei US-Dollar, die ich meinen Eltern gebe. Ich arbeite von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang", sagt der Junge, der in seiner Heimat Orakzai Agency die fünfte Klasse besuchte.

Alis Arbeitskollege Janbaz Omar war Schüler einer staatlichen Einrichtung, als das Militär gegen die Taliban vorging und seine Familie fliehen musste. Die meisten seiner Verwandten seien angesichts der Rechtlosigkeit in der Heimatregion weggezogen und versuchten nun in verschiedenen pakistanischen Städten Geld zu verdienen.


Müllhalden als Arbeitsplatz

Nicht alle Kinderarbeiter haben das Glück, in halbwegs sicheren Verhältnissen einem Job nachzugehen. Die Schwestern Shaheena and Jabeena, die zehn und acht Jahre alt sind, durchforsten jeden Morgen eine Müllhalde nach Dingen, die sich essen oder verkaufen lassen.

"Das ist harte Arbeit, doch was sonst können wir tun?", fragt Shaheena. Wie sie gegenüber IPS erklärt, reichen die Verdienste ihres Vaters und Bruders in Peschawar nicht aus, um die Familie zu ernähren. Bis Mai 2010 hatte sie in Orakzai Agency die vierte Klasse besucht. Dann kamen die Taliban, die Schule und Haus zerstörten und die Familie in die Flucht schlugen. (Ende/IPS/kb/2011)


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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Juli 2011