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KIND/131: Auf dem Weg zu mehr Chancengleichheit (DJI Impulse)


DJI Impulse
Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 3/2015 - Nr. 111

Auf dem Weg zu mehr Chancengleichheit

von Mariana Grgic und Thomas Rauschenbach


Um die Umsetzung des Rechts auf Bildung zu verbessern, hat Deutschland viele positive Entwicklungen angestoßen. Doch die Förderung der Leistungsschwachen sowie der Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund bleiben zentrale Herausforderungen.


Das Recht auf Bildung (Artikel 28 der UN-Kinderrechtskonvention) gehört zu jenen Rechten, die die unmittelbare, aber auch langfristige gesellschaftliche Integration junger Menschen ermöglichen sollen. Bildung hat dabei die Funktion, junge Menschen zu befähigen, ihr Leben in der Gemeinschaft selbstständig zu gestalten. Zugleich hat das Bildungssystem aber auch die Aufgabe, jungen Menschen jene Kompetenzen zu vermitteln, die es ihnen ermöglichen, einer ihren Neigungen entsprechenden Erwerbstätigkeit nachzugehen. Schließlich soll das Bildungssystem die Chancengleichheit fördern und der systematischen Benachteiligung einzelner Gruppen entgegenwirken (Konsortium Bildungsberichterstattung 2006).

Seit Anfang der 1990er-Jahre haben sich nahezu alle UN-Mitgliedsstaaten dazu verpflichtet, das Recht des Kindes auf Bildung anzuerkennen. Dies umfasst den kostenlosen Besuch einer Grundschule, den Zugang zu weiterführenden allgemeinbildenden und beruflichen Schulen, aber auch die Verringerung des Anteils von jungen Menschen, welche die Schule ohne Abschluss verlassen (BMFSFJ 2014). In einem UN-Kommentar aus dem Jahr 2005 wurde darüber hinaus das Recht des Kindes auf frühkindliche Bildung gestärkt (Krappmann 2011).

Die spezifischen Ziele zur bundesweiten Umsetzung des Rechts auf Bildung im Rahmen der UN-Kinderrechtskonvention formulierte der »Nationale Aktionsplan für ein kindergerechtes Deutschland« (NAP; siehe Artikel auf S. 18). Im Vordergrund standen hierbei unter anderem die frühe Förderung und der Ausbau der Angebote für unter Dreijährige, die Verbesserung der Bildungschancen von Kindern mit Migrationshintergrund, die Förderung lernschwacher Schulkinder, die Öffnung der Schule für außerschulische Partner im Rahmen des Ausbaus der Ganztagsschulen, die Reduktion des Anteils von Jugendlichen ohne Schulabschluss und die Verbesserung des Übergangs in die Berufsausbildung (BMFSFJ 2006). Diese Ziele beziehen sich demnach auf die gesamte Lebensspanne junger Menschen. Entsprechend lässt sich eine Bilanzierung für unterschiedliche Lebensphasen ziehen.


Nicht alle Kinder besuchen gleichermaßen die Angebote frühkindlicher Bildung

Zu den weitreichenden Veränderungen in der frühkindlichen Bildung gehört vor allem die Einführung des Rechtsanspruchs auf frühkindliche Förderung für ein- und zweijährige Kinder im Jahr 2013 (SGB VIII, § 24). Durch den damit verbundenen massiven Ausbau des Betreuungsangebots ist die Bildungsbeteiligung der unter Dreijährigen so hoch wie nie zuvor: Sie liegt im Jahr 2015 mittlerweile bei 28 Prozent im Westen und 52 Prozent im Osten Deutschlands (Meiner-Teubner/Schilling 2015). Im Unterschied dazu nahmen noch ein Jahrzehnt zuvor - im Jahr 2006 - nur 8 Prozent der unter Dreijährigen in Westdeutschland und 39 Prozent in Ostdeutschland die Angebote der Kindertagesbetreuung in Anspruch. Mindestens genauso bemerkenswert ist, dass inzwischen nahezu alle Kinder ab drei Jahren bis zur Einschulung den Kindergarten besuchen (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2014).

Kinder mit Migrationshintergrund wie auch Kinder aus Elternhäusern mit niedrigem Bildungsstand nehmen im Durchschnitt allerdings immer noch seltener und später als andere Kinder Angebote frühkindlicher Bildung in Anspruch (Rauschenbach 2014). Die Verwirklichung ihres Rechts auf institutionalisierte Bildung hängt davon ab, ab welchem Zeitpunkt ihre Eltern ein entsprechendes Angebot erfolgreich nachfragen. Es liegt nahe, dass dies auch Flüchtlingsfamilien betreffen wird, die am wenigsten mit den rechtlichen Strukturen und dem System frühkindlicher Bildung in Deutschland vertraut sind.


Trotz einiger Verbesserungen entscheidet die soziale Herkunft immer noch über den Bildungserfolg

Die Schulpflicht sorgt zwar dafür, dass alle Kinder und Jugendlichen mehrere Jahre in die Schule gehen. Allerdings machte bereits die erste internationale Schulleistungsstudie PISA im Jahr 2001 darauf aufmerksam, dass der Bildungserfolg junger Menschen in Deutschland sehr stark mit der sozialen Herkunft zusammenhängt (Müller/Ehmke 2013). Daher war es das Ziel vieler Initiativen - wie zum Beispiel des Ausbaus der Ganztagsschulen, der Verbesserung der Lehr- und Lernbedingungen an Schulen oder der Förderung leistungsschwacher Schulkinder -, diese sozialen Ungleichheiten abzubauen.

Zieht man heute eine Bilanz, so zeigen die aktuellen PISA-Ergebnisse, dass sich seit dem Jahr 2000 die Mathematik- und Lesekompetenzen der Leistungsschwachen verbessert haben. Auch ist der Leistungsunterschied zwischen Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund geringer geworden (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2014). Irritierend ist jedoch der Befund, dass nach wie vor knapp 15 Prozent der Jugendlichen zu den leistungsschwachen Leserinnen und Lesern gehören (siehe Abbildung 1 auf S. 15). Das bedeutet, sie haben beispielsweise Schwierigkeiten damit, verschiedene Informationen eines Textes aufeinander zu beziehen.

Dieser Anteil ist immer noch mehr als doppelt so hoch wie der ebenfalls gesunkene Anteil der Schulabgängerinnen und -abgänger ohne Abschluss. Anknüpfend an die Unterscheidung zwischen »Kompetenzarmut« und »Zertifikatsarmut« (Lehmann 2008) ist das ein Hinweis darauf, dass der vermehrte Erwerb von (höheren) Schulabschlüssen nicht automatisch mit einer Steigerung der Kompetenzen gleichgesetzt werden kann.


Mehr als ein Drittel der 30- bis 34-jährigen Menschen mit Migrationshintergrund besitzt keinen Berufsabschluss

Am Übergang von der Schule in Ausbildung und Beruf zeigt sich erfreulicherweise auch, dass mittlerweile immer weniger ausländische Jugendliche die Schule ohne Abschluss verlassen. Gleichzeitig nutzen immer mehr junge Menschen die Möglichkeit, Schulabschlüsse an beruflichen Schulen nachzuholen. Ebenfalls halbiert hat sich seit dem Jahr 2003 die Zahl der ausbildungslosen Jugendlichen, die sich im sogenannten Übergangssystem befinden (siehe Abbildung 2). Schließlich studieren heute so viele junge Menschen wie nie zuvor: Während die Quote der Studienanfängerinnen und -anfänger im Jahr 1980 in der damaligen Bundesrepublik bei knapp 20 Prozent lag, ist sie seit dem Jahr 2011 bundesweit bereits auf mehr als 50 Prozent gestiegen (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2014). Von diesen Entwicklungen profitierten insbesondere junge Frauen. Das sind die guten Nachrichten. Die weniger guten lauten, dass immer noch drei Viertel aller Förderschulkinder die Schule ohne einen Abschluss verlassen und dass nach wie vor 258.000 junge Menschen nach der Schule im Übergangssystem landen, obgleich sich die Lage auf dem Ausbildungsmarkt spürbar entspannt hat. Aufgrund der guten wirtschaftlichen Situation in Deutschland forderten einzelne Gewerkschaften und Parteien wiederholt die Einführung eines Rechtsanspruchs auf einen Ausbildungsplatz. Bis heute ist dieser Vorschlag allerdings nicht umgesetzt worden, so dass das Recht auf Bildung die berufliche Ausbildung bislang nicht einschließt.

Betrachtet man die Situation der Menschen mit Migrationshintergrund im Alter von 30 bis 34 Jahren, so besitzt von diesen heutzutage immer noch mehr als ein Drittel keinen Berufsabschluss; mit fast 60 Prozent betrifft dies seit Jahren am stärksten junge Frauen türkischer Herkunft. Zudem weist die Level-One-Studie über Analphabetismus in Deutschland darauf hin, dass knapp 13 Prozent aller 18- bis 29-Jährigen in der Bevölkerung Schwierigkeiten haben, zusammenhängende, auch kürzere Texte zu lesen (»funktionaler Analphabetismus«). 27 Prozent sind nicht in der Lage, fehlerfrei zu schreiben. Dies betrifft zwar überproportional Personen mit geringen Schulabschlüssen, allerdings nicht ausschließlich (Grotlüschen u.a. 2012).


Lesen ist eine Schlüsselkompetenz, um den Alltag zu bewältigen

Trotz erkennbarer Anstrengungen im Bereich der Bildung und trotz der unübersehbar positiven Entwicklungen besteht an vielen Punkten noch Handlungsbedarf, insbesondere in Bezug auf die Situation von Heranwachsenden mit Migrationshintergrund im Bildungssystem. Sie gehen später und damit kürzer in eine Kita als Kinder ohne Migrationshintergrund, sie werden bei der Einschulung häufiger zurückgestellt, sie wechseln seltener auf das Gymnasium und verlassen die Schule mit niedrigeren Abschlüssen. Selbst bei gleichen Schulabschlüssen fällt ihnen der Zugang in die berufliche Ausbildung schwerer als Jugendlichen ohne Migrationshintergrund, und sie können deutlich seltener einen Berufsabschluss vorweisen. Obwohl sich auch die Situation von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund stellenweise verbessert hat, bleibt ihre Förderung und die Verbesserung ihrer Bildungschancen eine zentrale Herausforderung im Zuge der Umsetzung des Rechts auf Bildung für alle Bevölkerungsgruppen - nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund der aktuellen Zuwanderung.

Gleichzeitig darf trotz des stetig steigenden Bildungsstands in der Bevölkerung nicht außer Acht gelassen werden, dass es weiterhin eine nennenswerte Gruppe von jungen Menschen gibt, die nur sehr geringe Lesekompetenzen besitzen. Da insbesondere das Lesen eine Schlüsselkompetenz für die Bewältigung des Alltags darstellt, besteht die große Gefahr, dass eines der Ziele von Bildung, nämlich die Befähigung des Einzelnen zu einem selbstbestimmten Leben in der Gemeinschaft, trotz der Teilnahme am Bildungssystem nicht von allen Menschen erreicht wird. Zu denken ist hierbei auch an die erschwerte Integration von Kindern und Jugendlichen - vor allem aus Förderschulen - ohne qualifizierten Schulabschluss in die berufliche Ausbildung, in den Arbeitsmarkt und in die Gesellschaft. Insofern bleibt die Verbesserung der Grundkompetenzen bei Leistungsschwächeren auch weiterhin eine zentrale Herausforderung, um das Recht auf Bildung zu gewährleisten und zugleich die gesellschaftlichen Ziele von Bildung umzusetzen.


Die Autorin, der Autor

Mariana Grgic, Diplom-Soziologin, ist wissenschaftliche Referentin am Deutschen Jugendinstitut (DJI) in der Abteilung »Kinder und Kinderbetreuung«. Sie arbeitet seit dem Jahr 2009 im Projekt »Nationale Bildungsberichterstattung« mit.
Kontakt: grgic@dji.de

Prof. Dr. Thomas Rauschenbach, Professor an der Technischen Universität Dortmund, ist Direktor und Vorstandsvorsitzender des DJIs. Er ist seit Beginn der Bildungsberichterstattung Mitglied der Autorengruppe.
Kontakt: rauschenbach@dji.de


Literatur

Autorengruppe Bildungsberichterstattung (2014): Bildung in Deutschland. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zur Bildung von Menschen mit Behinderungen. Bielefeld

Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ; 2006): Nationaler Aktionsplan. Für ein kindergerechtes Deutschland 2005-2010. Berlin

BMFSFJ (2014): Übereinkommen über die Rechte des Kindes. VN-Kinderrechtskonvention im Wortlaut mit Materialien. Berlin

Grotlüschen, Anke / Riekmann, Wibke / Buddeberg, Klaus (2012): Hauptergebnisse der leo. - Level-One Studie. In: Grotlüschen, Anke / Riekmann, Wibke (Hrsg.): Funktionaler Analphabetismus in Deutschland. Ergebnisse der ersten leo. - Level-One Studie. Münster, S. 13-53

Hohn, Katharina u.a. (2013): Lesekompetenz in PISA 2012: Veränderungen und Perspektiven. In: Prenzel, Manfred u.a. (Hrsg.): PISA 2012. Fortschritte und Herausforderungen in Deutschland. Münster, S. 217-244

Klieme, Eckhard u.a. (2010): PISA 2009. Bilanz nach einem Jahrzehnt. Münster

Konsortium Bildungsberichterstattung (2006): Bildung in Deutschland. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Bildung und Migration. Bielefeld

Krappmann, Lothar (2011): Frühkindliche Bildung - ein Menschenrecht. Vortrag am 08.11.2011. Osnabrück

Lehmann, Rainer (2008): Bildung und Bildungschancen: Wo bleibt die Zukunft unserer Kinder? In: Bertram, Hans (Hrsg.): Mittelmaß für Kinder. Der UNICEF-Bericht zur Lage der Kinder in Deutschland. München, S. 82-103

Meiner-Teubner, Christiane / Schilling, Matthias (2015): Erneut leichter Anstieg beim U3-Ausbau. In: KomDat - Kommentierte Daten der Kinderund Jugendhilfe. 18. Jahrgang, Heft 2, S. 1-4

Müller, Katharina / Ehmke, Timo (2013): Soziale Herkunft als Bedingung der Kompetenzentwicklung. In: Prenzel, Manfred u.a. (Hrsg.): PISA 2012. Fortschritte und Herausforderungen in Deutschland. Münster, S. 245-274

Rauschenbach, Thomas (2014): Kita 2020 - eine empirische Zwischenbilanz. In: Kommentierte Daten der Kinder- und Jugendhilfe. 17. Jahrgang, Heft 3, S. 4-12

DJI Impulse 3/2015 - Das komplette Heft finden Sie im Internet unter:
www.dji.de/impulse

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Quelle:
DJI Impulse - Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 3/2015 - Nr. 111, S. 14-17
Herausgeber: Deutsches Jugendinstitut e.V.
Nockherstraße 2, 81541 München
Telefon: 089/6 23 06-140, Fax: 089/6 23 06-265
Internet: www.dji.de
 
DJI Impulse erscheint viermal im Jahr.
Die Hefte können kostenlos unter www.dji.de/impulsebestellung.htm
abonniert oder unter vontz@dji.de schriftlich angefordert werden.


veröffentlicht im Schattenblick zum 31. Mai 2016

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