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KRIMINALITÄT/051: Jugendliche - Besser als ihr Ruf (wissen leben - WWU Münster)


wissen leben - Nr. 4, 7. Juli 2010

Die Zeitung der WWU Münster

Besser als ihr Ruf

Untersuchungen zur Kriminalität von Jugendlichen

Von Brigitte Nussbaum


In der öffentlichen Wahrnehmung nimmt die Kriminalität von Jugendlichen immer mehr zu, wobei die Täter immer gewalttätiger werden. Doch selten gibt es Forschungsbereiche, in denen wissenschaftliche Erkenntnis, politische Forderung und gesellschaftliche Einschätzung so auseinanderklaffen wie in der Kriminalitätsforschung. Prof. Klaus Boers vom Institut für Kriminalwissenschaften untersucht gemeinsam mit dem Soziologen Prof. Jost Reinecke von der Universität Bielefeld und mit Unterstützung der DFG seit zehn Jahren die Entwicklung der Jugendkriminalität in der modernen Stadt. Weder nehme die Kriminalität zu, noch seien Haftstrafen hilfreich, so seine Erkenntnis.

Zwar steigt die Zahl der angezeigten Straftaten, doch dies sei nicht darauf zurückzuführen, dass Jugendliche tatsächlich krimineller werden. "Das liegt wahrscheinlich daran, dass die Anzeigebereitschaft in der Bevölkerung zugenommen hat", erklärt der Kriminologe. Er beschäftigt sich deshalb vor allem mit der so genannten Dunkelfeld-Kriminalität, also jenen Delikten, die nicht angezeigt werden. Dazu wurden von 2000 bis 2003 in Münster knapp 2000 Jugendliche, in Duisburg seit 2002 etwa 3400 Jugendliche jährlich befragt. Eindeutiges Ergebnis: Die Dunkelfeld-Kriminalität hat nicht zugenommen. Immerhin 84 Prozent der Jungen und 69 Prozent der Mädchen gaben zu, zwischen dem 13. und dem 18. Lebensjahr eine Straftat begangen zu haben. Bei Gewaltdelikten waren es immerhin noch 61 beziehungsweise 37 Prozent. Aber: Bereits im Jugendalter geht die Kriminalitätsrate wieder deutlich zurück. "Das Ausmaß dieser so genannten Spontanbewährung kann weder durch repressive noch durch präventive Maßnahmen erreicht werden", betont Klaus Boers. "Es ist eine allgemeine kriminologische Erkenntnis, dass das gelegentliche Begehen von Straftaten normal und episodenhaft ist. Das baldige Hineinleben in die Normalität ist ein Ergebnis der erfolgreichen Sozialisation in der Familie, Schule und Freundesgruppen." Problematisch seien die Intensivtäter, die fünf und mehr Gewaltdelikten pro Jahr berichten. Rund sechs Prozent aller Jugendlichen begehen die Hälfte aller Taten und mehr als drei Viertel aller Gewaltdelikte. Doch selbst hier geht der Anteil der Intensivtäter ab dem 16. Lebensjahr zurück.


Wussten sie schon, dass

...fast 90 Prozent der Jungen schon einmal eine Straftat begangen haben?

... Kriminalität spätestens ab dem 20. Lebensjahr deutlich abnimmt?


Einen Grund für gewalttätiges Handeln sehen die Wissenschaftler in psychosozialen Problemen. Wer Gewalt als Mittel der Problemlösung schon als Kind erlebt habe, werde sie auch eher selbst einsetzen als Jugendliche, denen Gewalt fremd ist. Ein weiterer Grund, der gerne für die Gewaltbereitschaft von Jugendlichen herangezogen wird, ist der Migrationshintergrund. Das konnte für Münster bestätigt werden. In Duisburg allerdings sah das - im Unterschied zu anderen Städten - anders aus: Hier stellten die Wissenschaftler keine Unterschiede zwischen Migranten und deutschen Jugendlichen fest. "Das könnte daran liegen, dass Jugendliche türkischer Herkunft sich eher zu traditionellen Werten bekennen, weniger Alkohol und Drogen konsumieren und nicht generell in Sachen Bildung benachteiligt sind", erklärt Klaus Boers.

Mit Unterstützung des nordrhein-westfälischen Justizministeriums will er jetzt herausfinden, welchen Einfluss zügige Strafverfahren auf die Biografie von jugendlichen Intensivtätern haben. Je schneller ein Prozess eröffnet wird, desto deutlicher der Zusammenhang zwischen Delikt und Strafe für den Jugendlichen. Bereits im Jahr 2000 wurden deshalb für einen definierten Kreis von Delinquenten die durchschnittliche Verfahrensdauer von sechs Monaten erheblich verkürzt. Mit ihnen werden die münsterschen Kriminologen nun noch einmal Kontakt aufnehmen, um zu überprüfen, ob diese Jugendlichen weniger straffällig geworden sind als jene, deren Verfahren länger dauerten. "Im Alter geht die Straffälligkeit immer zurück", sagt der Jurist. "Die Frage ist jetzt, ob das bei dieser Gruppe schneller gegangen ist."

Und was anfangen mit jugendlichen Intensivtätern? Wegsperren kann nur die letzte Lösung sein, das ist für ihn wie für die meisten Kriminalwissenschaftler klar. "Je häufiger jemand im Gefängnis sitzt, desto höher ist das Risiko, dass vorhandene delinquente Tendenzen verstärkt werden", bezieht der WWU-Kriminologe eindeutig Stellung. Am ehesten könnten noch resozialisierende Maßnahmen wiederholte Straftaten verhindern. Eine abschreckende Strafwirkung sei jedoch kaum nachgewiesen. "Wenn der Opferschutz gewährleistet ist, ist es nur sinnvoll, so wenig Menschen wie möglich ins Gefängnis zu schicken", unterstreicht Klaus Boers.


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Quelle:
wissen leben - Die Zeitung der WWU Münster, Nr. 4, 7. Juli 2010, S. 5
Herausgeberin:
Die Rektorin der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster
Redaktion: Brigitte Nussbaum (verantw.)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. August 2010