Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → SOZIALES

KRIMINALITÄT/072: USA - Gefängnisse gleichen geriatrischen Anstalten (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 28. Februar 2014

USA: Gefängnisse gleichen geriatrischen Anstalten - Zahl älterer Strafgefangener stark angestiegen

von Kanya D'Almeida


New York, 28. Februar (IPS) - Ein blinder alter Mann lässt sich von einer Krankenschwester zum Mittagstisch führen. Ein Nachbar hängt an einem Atemgerät. Ein weiterer Greis fingert nach seinem Gebiss, während ein anderer einem vorbeigehenden Arzt zuruft, dass er seinen eigenen Namen vergessen habe.

Solche Szenen sind für gewöhnlich in einem Altersheim zu beobachten. Doch mehreren unabhängigen Untersuchungen zufolge sieht aber so auch der Alltag in vielen Gefängnissen in den USA aus, wo Tausende Senioren einsitzen.

Aufgrund einer ungesunden Lebensweise vor und während der Inhaftierung stuft die nationale Gefängnisbehörde NIC Strafgefangene über 50 Jahre als 'Ältere' ein. Unter diese Kategorie fallen demnach etwa 246.000 Häftlinge in Justizvollzugsanstalten auf Bundesebene und in den einzelnen US-Bundesstaaten. Bis zum Jahr 2030 könnte diese Zahl nach Schätzungen der Amerikanischen Bürgerrechtsunion ACLU auf fast 400.000 hochschnellen.

Aus dem Bericht 'Old Behind Bars' der Menschenrechtsorganisation 'Human Rights Watch' (HRW) geht hervor, dass sich die Zahl der Häftlinge über 55 Jahren zwischen 1995 und 2010 nahezu vervierfacht hat. Das bedeutet einen Anstieg um 218 Prozent in nur 15 Jahren. Mehr als 16 Prozent aller Häftlinge im Land werden inzwischen zu den Senioren gerechnet. Experten zufolge werden die Gefängnisse allmählich zu riesigen Geriatrie-Zentren. Sie warnen vor immensen wirtschaftlichen und humanitären Kosten für die US-amerikanische Gesellschaft.


Verschärfung des Strafrechts in den 1980er und 1990er Jahren

Wie Jamie Fellner von Human Rights Watch erläutert, zog die Verschärfung des Strafrechts in den 1980er und 1990er Jahren jahrzehntelange Haftstrafen für Delikte nach sich, die zuvor mit höchstens zehn bis 15 Jahren Freiheitsentzug geahndet worden waren. "Menschen, die damals lebenslang erhielten, sterben in der Haft. Andere, die 20, 30 oder 40 Jahre absitzen müssen, werden zwangsläufig hinter Gittern alt", sagt sie.

Andere Quellen, etwa ein kürzlich veröffentlichter Report des 'Pew Center Charitable Trust', legen nahe, dass Gesetze aus den 1970er Jahren dazu geführt haben, dass die Zahl ergrauter Häftlinge massiv zugenommen hat. Dazu gehört etwa das 'Three-Strikes-Law', das für Menschen, die drei Mal wegen des gleichen Delikts verurteilt werden, eine lebenslange Haftstrafe vorsieht. Auch strikte Bewährungsauflagen werden genannt.

Doch Experten weisen darauf hin, dass die Inhaftierung eines über 50-Jährigen astronomisch hohe Kosten nach sich zieht. Laut einem ACLU-Bericht mit dem Titel 'At America's Expense' kostet die Unterbringung eines Gefangenen durchschnittlich 34.135 US-Dollar jährlich. Bei älteren Häftlingen verdoppelt sich der Betrag auf 69.000 Dollar.

Die Steuerzahler werden jedes Jahr mit mehr als 16 Milliarden Dollar zu Kasse gebeten, um die Inhaftierung Älterer zu finanzieren. Die Summe ist höher als der Jahresetat des Energieministeriums und übersteigt sogar die Ausgaben des Bildungsministeriums für die Verbesserung des Unterrichts an Grund- und weiterführenden Schulen.

Angesichts dieser krassen Zahlen stellen Menschenrechtsaktivisten die dringliche Frage nach dem Sinn der Inhaftierung Älterer und nach möglichen Alternativen. Die politische Aktivistin Laura Whitehorn war selbst 14 Jahre in Haft und arbeitet jetzt in New York für die Kampagne 'Release Aging People in Prison' (RAPP). Sie hebt hervor, dass die geringe Rückfallquote bei den über 50-Jährigen für ihre Haftentlassung spreche.

Nur sieben Prozent der Gefangenen im Bundesstaat New York, die im Alter von 50 bis 64 Jahren aus der Haft freikamen, wurden rückfällig. Bei den über 65-Jährigen waren es sogar nur vier Prozent. Die durchschnittliche Rückfallquote in allen Altersgruppen liegt dagegen bei etwa 40 Prozent.

Häftlinge, die lange Strafen verbüßt hätten, könnten zudem für die Gesellschaft eine wertvolle Rolle spielen, meint Whitehorn. Die meisten Gefangenenhilfsorganisationen könnten nur deshalb so engagiert agieren, weil viele ehemalige Häftlinge für sie arbeiteten. Diese Menschen hätten gute Ideen für eine Reform des Strafvollzugs.


'Last sie gehen'

"Wir kamen somit auf den Slogan 'Wenn das Risiko gering ist, lasst sie gehen'", erklärt Whitehorn. Zu häufig jedoch schauten Bewährungsausschüsse aber auf das ursprüngliche Strafmaß anstatt sich die Frage nach der Rückfallgefahr zu stellen, kritisiert sie.

Kürzlich sei einem 86-Jährigen, der in den 1970er Jahren ein Schwerverbrechen begangen habe, nach 40 Jahren hinter Gittern eine vorzeitige Haftentlassung verwehrt worden, berichtet die Aktivistin. Der Mann leidet an Krebs, Asthma und neuromuskulären Beschwerden, wegen der er an den Rollstuhl gefesselt ist. Dennoch entschied der Bewährungsausschuss, dass ein Rückfall bei ihm "wahrscheinlich" sei.

Fellner berichtet von einem greisen Gefangenen im Staat Mississippi, der sich auf seine Schuhe Zettel mit den Buchstaben 'L' und 'R' kleben musste, um sie nicht zu verwechseln. "Sehen wir diese Menschen wirklich als Bedrohung für die Gesellschaft?" fragt sie. Die Gefängnisarchitektur sei für den Prototyp des "jungen, robusten Kriminellen" entworfen worden, nicht für Kranke oder Behinderte. Ihre gesundheitlichen Probleme würden jedoch manchmal als mangelnde Kooperationsbereitschaft ausgelegt und zögen neue Strafen nach sich.


Gehbehinderter Häftling schikaniert

Ein älterer Häftling in einem Gefängnis in Pennsylvania erzählt, dass er einmal eine Woche in Einzelhaft kam, nur weil er nicht ohne seinen Stock einen Metalldetektor passieren wollte. "Ich bin 69 Jahre alt und kann ohne meinen Stock nicht stehen", sagt er. "Was erwarten sie von mir? Dass ich auf Händen und Knien vorankrieche?"

Auch Gefängnisbeamte beginnen an dem System zu zweifeln. Burl Cain, der Direktor des 'Louisiana State Penitentiary' erklärte kürzlich gegenüber ACLU, es sei eine "Schande", dass sein Personal mehr Häftlinge sterben als gehen sehe.

Von den insgesamt etwa 5.300 Gefangenen in Louisiana verbüßen 4.000 Strafen ohne Bewährung. Ungefähr 1.200 sind älter als 65 Jahre. Die Entscheidung, Häftlinge freizulassen, liegt allerdings nicht nur in der Hand der Gefängnisverwaltungen. Fellner sieht kaum Hoffnung auf substanzielle Veränderungen, weil unter anderem Organisationen, die die Familien von Opfern vertreten, starken Einfluss auf die Politik ausüben. (Ende/IPS/ck/2014)


Link:

http://www.ipsnews.net/2014/02/u-s-prison-system-resembling-huge-geriatrics-ward/

© IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH

*

Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 28. Februar 2014
IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
Marienstr. 19/20, 10117 Berlin
Telefon: 030 / 54 81 45 31, Fax: 030 / 54 82 26 25
E-Mail: contact@ipsnews.de
Internet: www.ipsnews.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 1. März 2014