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REDE/064: Kristina Schröder zum Bundeskinderschutzgesetz, 27.10.11 (BPA)


Presse- und Informationsamt der Bundesregierung
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Rede der Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Dr. Kristina Schröder, zum Bundeskinderschutzgesetz vor dem Deutschen Bundestag am 27. Oktober 2011 in Berlin:


Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Die meisten Kinder in Deutschland wachsen in Liebe und Geborgenheit auf. Ihre Eltern würden für sie ihr letztes Hemd geben. Es gibt aber auch Kinder, die auf der Schattenseite des Lebens stehen, Kinder, die seelisch oder körperlich verwahrlosen, Kinder, die gequält oder misshandelt werden. Lea-Sophie ist unter den Augen ihrer Familie verhungert. Kevin, gerade einmal zwei Jahre alt, wurde von seinem drogensüchtigen Stiefvater zu Tode geprügelt. Das sind Fälle, die uns fassungslos machen. Wir alle waren uns einig, dass wir alles dafür tun müssen, dass es künftig gar nicht erst so weit kommt.

Das Bundeskinderschutzgesetz, das wir heute verabschieden werden, hätte Lea-Sophie und Kevin vielleicht helfen können. Wir stehen gemeinsam in der Verantwortung, dass es anderen Kindern hilft, und zwar schnellstmöglich. Deshalb hoffe ich heute auf eine breite Mehrheit im Deutschen Bundestag für diesen Gesetzentwurf.

Die Fälle von Vernachlässigungen und Misshandlungen haben uns Lücken und Schwachstellen gezeigt, an denen wir ansetzen müssen, um unsere Kinder besser zu schützen. Da ist vieles in Bewegung gekommen. Eines aber fehlte lange Zeit: die Bereitschaft zur Kooperation. Auch daran ist das Bundeskinderschutzgesetz in der letzten Legislaturperiode gescheitert.

Ich habe daraus meine Lehren gezogen. Mir war es wichtig, Bund, Länder, Kommunen, die Fachwelt, Vertreter aus der Praxis und die Wissenschaft frühzeitig einzubinden. Die runden Tische "Heimkinder" und "Sexueller Missbrauch" haben einen wichtigen Beitrag zu diesem Gesetz geleistet. Die gemeinsame Zusammenarbeit bei der Erarbeitung des Kinderschutzgesetzes war getragen vom Bewusstsein der gemeinsamen Verantwortung und vom Willen zum gemeinsamen Erfolg. Dafür danke ich allen Beteiligten ganz herzlich.

Das Qualitätssiegel hat das Bundeskinderschutzgesetz in der Sachverständigenanhörung hier im Bundestag, an der ich als Zuhörerin teilgenommen habe, bekommen. Ich habe selten eine Anhörung erlebt, in der ein Gesetz von sämtlichen Sachverständigen so viel Zustimmung bekommen hat. Alle waren sich einig, dass dieses Kinderschutzgesetz ein Meilenstein für einen besseren Kinderschutz in Deutschland ist: durch bessere Netzwerke und bessere Rechtsinstrumente für unsere Kinder, durch frühere Hilfen für die Familien, durch größere Rechtssicherheit für ihre Helfer, durch bessere Unterstützung für ihre Beschützer und durch konstruktive Kooperation aller Akteure.

Auch der Bundesrat hat sich in seiner Stellungnahme weitgehend positiv zum Regierungsentwurf geäußert. Hier ist eine parteiübergreifende Koalition für den Kinderschutz entstanden. Dafür danke ich Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Sie die langwierige Arbeit am Bundeskinderschutzgesetz vom Anfang bis zum Schluss konstruktiv begleitet haben. Ich habe die positiven Wortmeldungen gestern im Ausschuss als Angebot für eine weitere Zusammenarbeit beim Kinderschutz verstanden. Schließlich werden wir die Evaluation bald auf der Tagesordnung haben.

Umso beschämender finde ich aber, dass es auf Länderebene Versuche gibt, sich auf Kosten des Kinderschutzes in den Medien zu profilieren. Wir haben uns anderthalb Jahre Zeit genommen, um das Bestmögliche für den Kinderschutz herauszuholen. Das ist uns gelungen. Wer das Gesetz jetzt, nachdem wir anderthalb Jahre daran gearbeitet und breite Zustimmung aus der Fachwelt bekommen haben, blockiert, der macht sich mitschuldig. Er macht sich mitschuldig daran, dass längst bekannte Fehler bei der Früherkennung von Vernachlässigungen von Kindern nicht behoben werden. Er macht sich mitschuldig daran, dass neue Maßnahmen zur Vermeidung von Leid unnötig aufgeschoben werden.

Deshalb hätte ich auch keinerlei Verständnis dafür, dass sich das Inkrafttreten dieses Gesetzes auch nur einen Tag verzögert, nur weil einige Leute da draußen unbedingt eine mediale Bühne brauchen.

Wir sind den Ländern in den Verhandlungen weit entgegengekommen. Bei strittigen Punkten haben wir Kompromissvorschläge gemacht. Das gilt vor allen Dingen auch für die Bundesinitiative Familienhebammen. Wir sind uns alle einig, dass der Kinderschutz in den Familien beginnt. Die in unserem Gesetz geregelten frühen Hilfen und verlässlichen Netzwerke beugen schon in der Familie vor und sorgen dafür, dass Kinder gar nicht erst in Notlagen und Gefahrensituation geraten.

Dabei spielen Familienhebammen mit ihrer sozialpsychologischen Zusatzqualifikation eine besonders wichtige Rolle. Sie kennen die Familien. Sie haben das Vertrauen der Eltern. Sie stoßen auf eine riesige Akzeptanz in den Familien. Mit ihrer spezifischen Zusatzqualifikation können sie dieses Vertrauensverhältnis auch für die Beratung von Familien in schwierigen Situationen nutzen. Wir wollen deshalb, dass sie Familien mit einem besonderen Bedarf bis zu einem Jahr nach der Geburt eines Kindes begleiten.

In einigen Ländern, etwa in Niedersachsen, gibt es dazu schon vorbildliche Initiativen. Niedersachsen hat in über 30 Städten ein eigenes Programm für Familienhebammen aufgelegt. Dieses Beispiel zeigt also: Es geht.

Deshalb stellen wir im Rahmen unserer Bundesinitiative Familienhebammen auch insgesamt 120 Millionen Euro für einen Zeitraum von vier Jahren zur Verfügung. Wir sagen, dass wir auch über die Verstetigung der Unterstützung durch den Bund sprechen. Alle in diesem Raum wissen, dass die Bundesregierung mit dieser Formulierung an die Grenze der Möglichkeiten gegangen ist. Deshalb ist das wirklich ein fairer Kompromissvorschlag, der hier auf dem Tisch liegt.

Glauben Sie mir: Es war für uns angesichts der angespannten Haushaltslage nicht einfach, diese 120 Millionen Euro aufzutreiben. Aber wir haben alle Hebel in Bewegung gesetzt, um einen Beitrag des Bundes zu leisten. Das erwarte ich auch von den Ländern. Wer Kinderschutz zum Nulltarif fordert, der stiehlt sich aus der Verantwortung, auf Kosten von Kindern und von Jugendlichen.

Die meisten Länder sind sich ihrer Verantwortung glücklicherweise bewusst und unterstützen daher unseren Kompromiss. Das gilt auch für den zweiten Punkt, über den wir bis zum Schluss verhandelt haben, nämlich für die Qualitätsentwicklung in der Kinder- und Jugendhilfe. Das Gesetz trägt dazu bei, dass die bestehende, sehr unterschiedliche Praxis in den einzelnen Jugendämtern besser zusammenwachsen kann. Es darf für den Kinderschutz keinen Unterschied machen, ob ein Kind im Allgäu oder an der Nordsee aufwächst. Deshalb führt an gemeinsamen fachlichen Standards kein Weg vorbei. Das hat auch Christine Bergmann, der ich an dieser Stelle für ihre großartige Arbeit als unabhängige Beauftragte der Bundesregierung danken möchte, immer wieder angemahnt.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wirksamer Kinderschutz erfordert die Zusammenarbeit vieler Menschen und Institutionen in unserer Gesellschaft. Wir brauchen die Eltern. Wir brauchen die Lehrer und Fachkräfte. Wir brauchen die Kinderärzte. Wir brauchen die Mitarbeiter in den Behörden, in den Jugendämtern, im Gesundheitswesen, bei der Polizei und bei der Justiz. Das Bundeskinderschutzgesetz gleicht insofern einem schützenden Gewölbe, bei dem ein Stein den anderen stützt. Dass uns dies gemeinsam gelungen ist, ist eine Leistung, auf die wir stolz sein können.

Klar ist aber auch: Wenn dieses Gewölbe Kindern in Notsituationen zuverlässig Schutz bieten soll, dann brauchen wir jeden einzelnen Stein. Es kann daher nur schaden, wenn dieses Gesetz im Vermittlungsausschuss zerpflückt wird. Deshalb bitte ich Sie hier und heute noch einmal um Ihre Unterstützung.


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Quelle:
Bulletin Nr. 112-2 vom 27.10.2011
Rede der Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend,
Dr. Kristina Schröder, zum Bundeskinderschutzgesetz
vor dem Deutschen Bundestag am 27. Oktober 2011 in Berlin
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Oktober 2011