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RENTE/680: Alterssicherung - Plädoyer für einen Strategiewechsel (spw)


spw - Ausgabe 5/2016 - Heft 216
Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft

Alterssicherung: Plädoyer für einen Strategiewechsel

Von Christoph Ehlscheid, Dirk Neumann und Hans-Jürgen Urban


Die gesetzliche Rente erfreut sich eines unerwarteten Comebacks. Die Beitragseinnahmen sprudeln, die Beitragssätze konnten mehrfach gesenkt werden und zugleich waren Leistungsausweitungen möglich. So hielt das "Rentenpaket" des Jahres 2014 deutliche Verbesserungen für Mütter, langjährig Versicherte und Erwerbsgeminderte bereit. Und Rentnerinnen und Rentner erhielten 2016 ein Rentenplus von 4,25 Prozent im Westen und 5,95 Prozent im Osten. Daraus aber zu folgern, die Alterssicherung sei in Deutschland für kommende Herausforderungen gut aufgestellt, wäre ein Trugschluss. Das Gegenteil ist der Fall: Das System der Alterssicherung ist renovierungsbedürftig. Darüber besteht sowohl in Fachdiskursen als auch in der aktuellen politischen Debatte ein breiter Konsens. Nicht nur Sozialverbände und Gewerkschaften verweisen seit langem auf den dringenden Reformbedarf. Auch in der Politik werden die Stimmen derjenigen, die ein rentenpolitisches "Weiter-So" propagieren, immer schwächer. Zugleich tönen die Rufe derer, die neue Reformvorschläge anpreisen oder die Entwicklung neuer Vorschläge ankündigen immer lauter: Schwarz-grüne "Deutschland-Rente" aus Hessen, vollmundig bayrische Forderungen der CSU, die Altersbezüge für alle erhöhen und die "Riester-Rente" abwickeln zu wollen oder die Ankündigung der Ministerin für Arbeit und Soziales, diesen Herbst ein rentenpolitisches Gesamtkonzept vorzulegen, sind nur einige Schlaglichter der aktuellen Debatte.(1) Alle reden über die Rente - und das ist gut so! Doch hinter der hektischen Betriebsamkeit der Politiker auf der Rentenbaustelle verbergen sich höchst unterschiedliche Einschätzungen über tatsächlichen Renovierungsbedarf und über Art und Umfang der notwendigen Baumaßnahmen. Während die einen mit ein paar Reparaturarbeiten auskommen wollen, verweisen die anderen auf marode Fundamente und eine neu zu justierende Statik des Alterssicherungssystems. Um es gleich zu sagen: in dieser Debatte um kleine Korrekturen im System oder eine große Reform am Systems plädiert dieser Artikel für einen grundlegenden Strategiewechsel in der Alterssicherungspolitik und eine große Rentenreform. Wie diese aussehen könnte, wird anhand der Vorschläge zum Neuaufbau einer solidarischen Alterssicherung erläutert, wie sie der Vorstand der IG Metall im Juni 2016 beschlossen hat.


Großbaustelle Alterssicherung

Trotz der aktuell guten Zahlen: Die Weichen sind falsch gestellt. Wenn nichts passiert, wird das Rentenniveau weiter sinken, und die Regelaltersgrenzen werden weiter steigen. Diesen Leistungskürzungen stehen mit größter Wahrscheinlichkeit ab etwa 2021 zugleich Beitragssatzerhöhungen entgegen. Diese Prognose und die mit ihr verbundenen Folgeprobleme entspringen keineswegs nicht vorhersehbaren Entwicklungen in der Wirtschaft oder am Arbeitsmarkt. Sie sind vielmehr Resultat gravierender sozialpolitischer (Fehl-)Entscheidungen: So wurden mit einer ganzen Serie von Rentenreformen tiefe Schneisen in die Leistungen der gesetzlichen, umlagefinanzierten Rente geschlagen, der Ausbau der kapitalgedeckten privaten Vorsorge propagiert und der Finanzstandort Deutschland gefördert. Die rot-grüne, die erste schwarz-rote und die schwarz-gelbe Koalition haben seit Anfang der 2000er Jahre das deutsche System der Alterssicherung grundlegend umgebaut. Dabei sind die im raschen Tempo aufeinander folgenden Reformen Ausdruck eines Paradigmenwechsel in der Alterssicherungspolitik: Die gesetzliche Rentenversicherung wird von einem leistungsorientierten System ("defined-benefit-system") zu einem beitragsorientierten System ("defined-contribution-system) umgebaut. Während bei ersterem die Beitragspolitik dem sozialpolitischen Sicherungsziel der Aufrechterhaltung des Lebensstandards im Alter folgte, werden nun die Leistungen dem Ziel der Beitragssatzsenkung und -stabilität untergeordnet. Über die Altersvermögensgesetze (2001), das Alterseinkünftegesetz und das RV-Nachhaltigkeitsgesetz (beide 2004) sowie das Altersgrenzenanpassungsgesetz (2007) wurde die gesetzliche Rente von der Lohnentwicklung abgekoppelt und die Regelaltersgrenzen schrittweise angehoben, um mit diesen Leistungskürzungen die Beitragsentwicklung zu bremsen. Zugleich wurde die kapitalgedeckte, private Vorsorge ausgebaut, um die durch den Rückbau der gesetzlichen Rente entstehenden Versorgungslücken wieder zu schließen. Der privaten, kapitalgedeckten Vorsorge wird damit im System der Alterssicherung eine neue Rolle zugewiesen. Während ihr vor dem paradigmatischen Wechsel im System der Alterssicherung eine ergänzende Rolle zur gesetzlichen Rente zukam, muss sie nunmehr eine zumindest partiell ersetzende Rolle übernehmen. Mit anderen Worten: die private Vorsorge wird zum Ausfallbürgen für Lücken in der gesetzlichen Rente.(2)

Zwar werden die Verfechter des rentenpolitischen Paradigmenwechsels bis heute nicht müde, die segensreiche Wirkung der Kapitaldeckung zu propagieren. Die Fakten haben sie freilich längst widerlegt: Eingetreten sind lediglich die negativen Auswirkungen auf die Leistungen der gesetzlichen Rente. Das Sicherungsniveau vor Steuern wird bis 2030 auf voraussichtlich rund 43 Prozent sinken. Eine Lebensstandardsicherung im Alter rückt damit für Viele in weite Ferne. Mehr noch: heute ist offensichtlich, dass bis weit in die "arbeitnehmerische Mitte" hinein sozialer Abstieg und Altersarmut wieder zu einem ernsthaften Risiko zu werden drohen. Und die private Vorsorge kann die Lücken in der gesetzlichen Rentenversicherung nicht schließen. Die jüngsten Entwicklungen an den Kapitalmärkten und insbesondere das anhaltend niedrige Zinsniveau strafen alle Prognosen über die vorgebliche Effektivität einer kapitalgedeckten Altersvorsorge Lügen. Von einem Zinssatz von vier Prozent auszugehen, geht an der heutigen Realität der Märkte vorbei. Damit ist das in den Rentenversicherungsberichten ausgewiesene Gesamtversorgungsniveau(3) für die Versicherten nicht erreichbar! Für die Zukunft muss sogar noch mit weiter sinkenden Renditen gerechnet werden. Hinzu kommen eine Reihe weiterer Probleme: So entlässt die kapitalgedeckte Privatvorsorge die Arbeitgeber gänzlich aus der Mitfinanzierung. Hierin liegt sicher - neben den Zweifeln an Rentabilität und Sicherheit der Produkte - der Hauptgrund für die geringe Verbreitung der staatlich geförderten Privatvorsorge. Etwa 34,4 Millionen Förderberechtigten stehen bislang nur 16 Millionen "Riester-Verträge" gegenüber, und die Entwicklung der Vertragszahlen stagniert. Bei Beziehern unterer und mittlerer Einkommen geht die Zahl der Verträge sogar seit Jahren zurück. Und rund ein Fünftel der Verträge ist ruhend gestellt.(4)

Doch damit nicht genug: der aktuelle Strukturwandel auf dem Arbeitsmarkt und die Erosion des Normalarbeitsverhältnisses erzeugen zusätzlich erhebliche Sicherungsrisiken im Alter. Mit der Zunahme von Niedrigeinkommen und porösen Erwerbsbiografien verlieren die Menschen die Möglichkeit, ausreichend Anwartschaften in der gesetzlichen Rentenversicherung, der betrieblichen Altersversorgung und der privaten Vorsorge anzusammeln.

Das alles ist nicht nur aus versorgungspolitischen Gründen besorgniserregend. Diese Entwicklung bedeutet auch, dass selbst Versicherte mit mittleren Einkommen mehrere Jahrzehnte in die Rentenversicherung einzahlen, im Alter aber nur knapp oberhalb der Armutsschwelle landen werden. Zugespitzt formuliert: die Betroffen werden letztlich einen großen Teil ihre Beiträge "umsonst" in die Rentenkasse einbezahlt haben. Ihr Alterseinkommen ist nicht wesentlich höher als jenes, das jemand bekommt, der nie in die Rentenkasse eingezahlt hat und immer auf staatliche Fürsorgeleistungen angewiesen war. In dem Maße wie angesichts von Strukturveränderungen am Arbeitsmarkt und dem sinkenden Rentenniveau die skizzierte Problematik vom Ausnahmefall, der nur bei spezifisch problematischen Erwerbsverläufen relevant wird, zum Regelfall wird, gerät die gesamte Statik der gesetzlichen Rentenversicherung ins Wanken. Damit sind letztlich auch die politische Legitimation und die verfassungsrechtliche Legitimität der gesetzlichen Rente bedroht. Mit anderen Worten: Eine Rentenversicherung, die steigende Pflichtbeiträge einsammelt aber vielfach Altersarmut und einen Absturz beim Lebensstandard nicht verhindert, verliert fast zwangsläufig an Akzeptanz und Legitimation.


Strategiewechsel ist unverzichtbar!

Gleichwohl darf die Bedeutung des Rentenpaktes 2014 nicht unterschätzt werden. Mit diesen Leistungsausweitungen in der gesetzlichen Rentenversicherung hat sich die Versorgungssituation vieler Betroffener verbessert. Und mehr: diese "kleinen" Korrekturen der Agenda-Politik dürfen trotz identifizierbarer Schwächen als Erfolge gewerkschaftlicher Mobilisierung und als Ermutigung für weitere Auseinandersetzungen gewertet werden. Aber die notwendige Strukturreform im Feld der Alterssicherung ersetzen sie nicht. Das gilt auch für die aktuell noch im Koalitionsvertrag angekündigten weiteren Maßnahmen: Solidarische Lebensleistungsrente, Rentenangleichung Ost-West, Stärkung der betrieblichen Altersversorgung und "Flexi-Rente" sind Projekte, die einen höchst unterschiedlichen Entwicklungsstand erreicht haben. Bei manchen erscheint es, wie bei der Ost-West-Angleichung oder der Lebensleistungsrente, gegenwärtig zweifelhaft, ob sie in dieser Legislaturperiode noch realisiert werden können. Zudem sind die Vorhaben in ihren versorgungs- und ordnungspolitischen Wirkungen höchst umstritten. Das gilt im besonderen Maße für die sich abzeichnenden Neuregelungen bei der "Flexi-Rente", die dem Leitbild der "Rentnerarbeit" verpflichtet ist und die Arbeit nach Erreichen der Regelaltersgrenze attraktiver machen will.(5)

Aber selbst bei bestmöglichen Annahmen werden die in Rede stehenden Projekte nicht reichen. Angesichts der tief greifenden versorgungspolitischen Defizite und der drohenden massiven Legitimationskrise des Alterssicherungssystems ist es höchste Zeit für einen Perspektivwechsel in der Rentenpolitik. Nicht der weitere Rückbau durch die programmierten Kürzungen, sondern der Ausbau der gesetzlichen Rentenversicherung gehört auf die gesellschaftliche und politische Agenda. Nötig ist ein erneuter Strategiewechsel in der Alterssicherungspolitik: Eine auskömmliche Rente, nicht möglichst niedrige Beitragssätze, muss wieder zur zentralen Zielgröße der Rentenpolitik werden.


"Mehr Rente - mehr Zukunft!": Für den Neuaufbau einer solidarischen Alterssicherung

Der Vorstand der IG Metall hat die skizzierten Problemlagen zum Anlass genommen und unter dem Motto "Mehr Rente - Mehr Zukunft" ein Reformprogramm zum Neuaufbau einer solidarischen Alterssicherung beschlossen und zugleich eine politische Kampagne zur Durchsetzung entsprechender Forderungen gestartet:(6)


Das Drei-Phasen-Konzept: Eckpfeiler einer großen Rentenreform

Im Zentrum der Vorschläge steht eine gestärkte gesetzliche Rentenversicherung, die nicht nur vor Armut im Alter schützen soll, sondern die auch wieder einen deutlich höheren Beitrag zur Sicherung eines angemessenen Lebensstandards leistet. Zur Umsetzung dieser Leitlinie dient ein sogenanntes "Drei-Phasen-Konzept". Demnach soll in einer ersten Phase ein weiteres Absinken des Leistungsniveaus der gesetzlichen Rente verhindert werden. Nach den jüngsten Prognosen der Bundesregierung liegt das Rentenniveau aktuell bei 47,5 Prozent. Das entspricht seit 1. Juli 2016 einer Standardrente (45 Entgeltpunkte) von rund 1.370 Euro. Bis voraussichtlich 2021 zeigen die Berechnungen, dass das Rentenniveau weitgehend stabil bleiben wird. Diese Prognose muss als politisches Zwischenziel definiert und festgeschrieben werden. Um mittelfristig zu verhindern, dass ab spätestens 2021 die Dämpfungsfaktoren in der Rentenanpassungsformel (Nachhaltigkeits- und Beitragssatzfaktor) den weiteren schleichenden Wertverlust der Renten im Vergleich zu den Löhnen befördern, ist eine zweite Phase nötig. In dieser Ankopplungsphase soll die Rentenentwicklung wieder grundsätzlich an die Entwicklung der Löhne und Gehälter angekoppelt werden. Dazu müssen die Dämpfungsfaktoren in dieser Phase schrittweise aus der Rentenanpassungsformel heraus genommen werden. Mit dem Stopp der weiteren Absenkung und der Ankopplung an die Lohnentwicklung ist gleichwohl noch nicht wieder ein angemessenes Leistungsniveau in der gesetzlichen Rentenversicherung erreicht. Daher sollte in einer dritten Phase (Anhebungsphase) eine schrittweise Anhebung des Leistungsniveaus der gesetzlichen Rente auf ein neues Sicherungsziel erfolgen. Dessen Höhe wäre ebenso in einer gesellschaftlichen Debatte zu definieren, wie die Geschwindigkeit, mit der dieses Ziel erreicht werden soll.

Das Gesamtversorgungsniveau, das im jährlichen Rentenversicherungsbericht als Versorgungsziel von gesetzlicher und "Riester-Rente" ausgewiesen wird, könnte dabei als eine Art Orientierungsgröße dienen. Dieser Betrag liegt aktuell bei rund 1.450 Euro (brutto) und damit rund 5,25 Prozent höher als die aktuelle Standardrente. Dieses Sicherungsniveau - in heutigen Werten - könnte ein Reformziel für die gesetzliche Rentenversicherung darstellen. Zugleich sollten die erwerbsbiografischen Annahmen der neuen Standardrente berücksichtigen, dass nicht 45, sondern 43 Entgeltpunkte den Durchschnitt einer "normalen Vollzeiterwerbsbiografie" darstellen. Die IG Metall schlägt daher vor, sich an dieser Realität auszurichten und 43 Entgeltpunkte zum Bezugspunkt einer neuen Standardrente zu machen. Diese Standardrente von rund 1.450 Euro sollte also mit 43 Entgeltpunkten erreichbar sein. Da diese Anhebung des Rentenniveaus über eine allgemeine Aufwertung der individuellen "Rentenpunkte" ("Entgeltpunkte") umgesetzt werden soll, wäre eine entsprechende Anhebung aller Renten die Folge. Denn Entgeltpunkte sammeln alle Versicherte an. Insgesamt wäre damit in etwa das Sicherungsniveau von vor den "Rentenreformen" der letzten Jahre erreicht, allerdings unter zeitgemäßen Bedingungen.


Zweiter Pfeiler "Solidarische Erwerbstätigenversicherung"

Der zweite Pfeiler, auf dem die neue Architektur ruht, ist die Weiterentwicklung der gesetzlichen Rentenversicherung zu einer Erwerbstätigenversicherung. Für die gesetzliche Rentenversicherung gilt, ebenso wie für die anderen Zweige der deutschen Sozialversicherung, dass sie eng auf den Arbeitnehmer-Status zugeschnitten ist. Ein ausreichender Versicherungsschutz ist dabei faktisch nur bei durchgehender, angemessen entlohnter und sozialversicherungspflichtiger Erwerbsarbeit erreichbar. Die wachsende Zone prekärer und unterwertig entlohnter Arbeit hat diesem Modell ebenso zu schaffen gemacht wie der Umstand, dass Selbständige und Freiberufler, von wenigen Ausnahmen abgesehen, sowie Beamte weder in den Versicherungsschutz einbezogen sind noch sich an der Finanzierung des Solidarsystems beteiligen. Für den Neuaufbau einer solidarischen Alterssicherung ist es daher perspektivisch von zentraler Bedeutung, dass alle Erwerbstätigen in einem gemeinsamen System pflichtversichert sind. Die IG Metall fordert langfristig die Weiterentwicklung der gesetzlichen Rentenversicherung zu einer Erwerbstätigenversicherung, in der alle zukünftigen Selbstständigen, Beamte und Politiker versichert sind.


Den dritten Pfeiler bildet ein Bündel von Maßnahmen

Den dritten Pfeiler bildet ein Bündel von Maßnahmen, dass angesichts des hier nur begrenzt zur Verfügung stehenden Raumes in seinen Details nicht erläutert werden kann. Dazu gehören etwa Vorschläge zur Gestaltung eines fairen und passgenauen Altersübergangs und weitere Maßnahmen zur Armutsvermeidung, die all jenen zugutekommen sollen, die trotz eines verbesserten Leistungsniveaus der gesetzlichen Rentenversicherung, aber aufgrund der Fehlentwicklungen am Arbeitsmarkt und brüchiger Erwerbsbiografien nicht in ausreichendem Maße für das Alter abgesichert sein werden. Dazu gehören etwa die Aufwertung niedriger Einkommen (Rente nach Mindestentgeltpunkten), Beiträge für Langzeitarbeitslose und Ausfallzeiten etwa wegen Kindererziehung oder familiärer Pflege sowie die Anhebung der Grundsicherung im Alter in Verbindung mit Freibeträgen für Einkünfte aus der Altersvorsorge. Zudem hat die IG Metall Vorschläge vorgelegt, wie eine Stärkung der Betriebsrente erreicht werden kann.


Zur Verteilungsbilanz

Finanziert werden könnten die Leistungsverbesserungen bei der gesetzlichen Rente durch einen Mix aus (zusätzlichen) Steuern, der Ausweitung des versicherten Personenkreises und einer Demographie-Reserve. Nur für den Fall, dass diese Instrumente politisch scheiterten, könnte der Beitragssatz bis 2030 nicht wie angenommen auf 22, sondern auf maximal 25 Prozent steigen.

An dieser möglichen Beitragssatzsteigerung beißen sich die Kritiker fest und warnen vor den Lasten für die Wirtschaft und vor allem für die Jungen. Doch die tatsächliche Verteilungsbilanz ist eine andere: Beim geltenden rechtlichen Status quo stehen heutigen Beitragszahlern und künftigen Rentnern letztlich drei Wege offen: Sie laufen ohne Gegenwehr in die Unterversorgung und lassen sich durch die steuerfinanzierte Grundsicherung auffangen. Oder sie "riestern", um die Versorgungslücke zu schließen. Dazu müssten sie, nach akzeptierten Berechnungen, allerdings sechs bis acht Prozent ihres Einkommens in kapitalgedeckte Produkte investieren - ohne zu wissen, was die Gewinne der Versicherungsunternehmen und das Niedrigzinsumfeld übrig lassen. Solidarischer und verlässlicher ist der Weg über den Finanzierungs-Mix mit moderater Beitragssatzerhöhung. Drei Beitragssatzpunkte mehr hieße eineinhalb Punkte mehr für die Beschäftigten. Das wären nach heutigen Werten 45 Euro im Monat beim Durchschnittsverdiener. Die Gegenleistung fiele beispielsweise bei der zur Diskussion gestellten neuen Standardrente von 1450 Euro bei 43 Entgeltpunkten ansehnlich aus. Verglichen mit der zur erwartenden "alten" Standardrente (45 Entgeltpunkten) und einem Sicherungsniveau vor Steuern von 43 Prozent in 2030 wäre das umgerechnet in heutige Werte ein Rentenplus von fast 300 Euro mehr. Das ist sicher nicht nur ein eindrucksvoller Beleg für die Ergiebigkeit der gesetzlichen Rentenversicherung. Zugleich würde damit ein Weg beschritten, der die Lasten der Alterssicherung neu verteilt. Die bisherige "Umverteilungspumpe" aus Entlastung der Arbeitgeber durch gedrosselte Beitragssatzsteigerungen und der Belastung der Beschäftigten durch den Zwang, einen immer größeren Anteil ihres Einkommens in kapitalgedeckte Privatprodukte zu investieren, würde umgekehrt. Während die Versorgung künftiger Rentnergenerationen verbessert und die Versicherten entlastet würden, würden die Arbeitgeber wieder stärker in die Finanzierung der Alterssicherung einbezogen. Nachdem es Arbeitgeberlobbyisten und wirtschaftsnahen Wissenschaftler über fast zwei Jahrzehnte hinweg gelungen ist, ihre verteilungspolitischen Interessen unter dem Deckmantel einer angeblich demografiefesten nachhaltigen Finanzierung der Alterssicherung zu tarnen, wird es höchste Zeit für eine Reformbewegung, die die verteilungspolitischen Interessen der Beschäftigten in die rentenpolitische Waagschale wirft.


Offensive Rentenpolitik als sozial- und gesellschaftspolitisches Kernprojekt

Alle Anzeichen sprechen dafür, den skizzierten Strategiewechsel in der Alterssicherungspolitik zu einer bedeutenden gewerkschaftlichen Kampagne zu machen. Aus Perspektive der abhängig Beschäftigten sind das in erster Linie versorgungs- und verteilungspolitische Aspekte. Für die Gewerkschaften bedeutet das, dass sie ihr sozialpolitisches Mandat annehmen und eine offensive Rentenpolitik auf die Tagesordnung setzen müssen. Die IG Metall hat das mit ihrer Kampagne "Gute Arbeit - gut in Rente" bereits seit einigen Jahren getan und etwa mit der abschlagsfreien Rente ab 63 erste Erfolge erzielt. Mit dem Start der nächsten Etappen der Kampagne im Sommer des Jahres 2016 rücken jetzt die Stärkung der gesetzlichen Rente und die Stabilisierung und Anhebung des Rentenniveaus ins Zentrum gewerkschaftlicher Mobilisierung. Und auch die übrigen DGB-Gewerkschaften und der Dachverband stützen diesen Ansatz.

Dabei können die Gewerkschaften bei ihrer rentenpolitischen Offensive mit der breiten Unterstützung der Beschäftigten rechnen. Die Sorgen um die Absicherung im Alter bewegen, und das Thema Rente ist emotional stark besetzt. Das zeigen praktische Erfahrungen ebenso wie eine Reihe von Umfragen. So haben etwa bei der großen Beschäftigtenbefragung der IG Metall sowohl die Aufforderung sich für den Erhalt und den Ausbau der sozialen Sicherungssysteme zu engagieren als auch Vorschläge für eine andere Rentenpolitik höchste Zustimmungswerte erzielt.(7) Die Gründe dafür sind wohl auch dem Umstand geschuldet, dass der in den 2000er Jahren vollzogene Paradigmenwechsel in der Alterssicherungspolitik zurecht als eines jener Kernprojekte des marktradikalen Um- und Abbaus des Sozialstaates wahrgenommen wird, das erhebliche soziale Sicherungsrisiken hervorgebracht und die Lasten so ungerecht zwischen Beschäftigten und Arbeitgeber verteilt hat. Eine Solidarreform der Alterssicherung könnte in diesem Sinne als Kernprojekt einer Bewegung für eine allgemeine Sozialstaatsreform und eine Erneuerung in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik ein erhebliches Mobilisierungspotenzial entfalten.

Und damit nicht genug: das gesellschaftliche und politische Umfeld wird zunehmend von einer Art rechtspopulistischer Rebellion geprägt, die einem wachsenden Teil der von Status- und Prekarisierungsängsten getriebenen und politikverdrossenen Mittelschichten eine Stimme verleiht. Offensichtlich neigt sich aktuell ein wachsender Anteil der empörten Wutbürger nicht links-reformistischen Forderungen und linken Parteien- und Regierungsbündnissen zu. Soll AfD & Co. nicht der gesellschaftliche Raum überlassen werden, in welchem sie die Verunsicherten und Unzufriedenen für ihre menschenfeindlichen Politikkonzepte und ihre völkisch-nationalistische Ideologie gewinnen, braucht es strahlkräftige Projekte gegen ungerechte soziale Verhältnisse. In diesem Sinne könnte eine offensive Rentenpolitik auch als fortschrittliche Gesellschaftspolitik verstanden werden. Dabei wird sich die erforderliche gesellschaftspolitische Prägekraft nur erringen lassen, wenn Ansprache und Mobilisierungskonzepte dem Frust und der Wut der Unzufriedenen in Sprache und Aktionsformen gerecht werden. Kurzatmiges politisches Taktieren, das nur auf Mehrheiten bei der nächsten Landtags- oder Bundestagswahl zielt und den kleinsten gemeinsamen Nenner in chirurgisch kleinen sozialpolitischen Eingriffen sucht, die etwa die falsche rentenpolitische Weichenstellung unangetastet lassen, wird diesem Anforderungsprofil allerdings nicht gerecht.


ANMERKUNGEN

(1) Vgl. Dirk Neumann: Revitalisierung der gesetzlichen Rente?!, in: Hans-Jürgen Urban/Christoph Ehlscheid (Hrsg.): Das (sozial)politische Mandat der Gewerkschaften. Horst Schmitthenner zum 75. Supplement der Zeitschrift Sozialismus 7-8/2016.

(2) Vgl. ausführlich zum Paradigmenwechsel in der Alterssicherung Hans-Jürgen Urban: Von den Wandlungen des Sozialstaates, in: Hans-Jürgen Urban/ Christoph Ehlscheid/Axel Gerntke (Hrsg.): Der Neue Generationenvertrag. Sozialstaatliche Erneuerung in der Krise, Hamburg 2010, S. 11ff.

(3) Zum Gesamtversorgungsniveau: Der Gesetzgeber hat die Bundesregierung verpflichtet, im Alterssicherungsbericht auch die zukünftige Entwicklung des Gesamtversorgungsniveaus (dem Verhältnis von Alterseinkünften zu Erwerbseinkünften) für "typische" Rentnerinnen und Rentner darzustellen. Beim Gesamtversorgungsniveau wird neben der gesetzlichen Rente auch die "Riester-Rente" einbezogen. Die zugrunde gelegten Annahmen gehen von einer Sparquote von 4%, einer Rendite von 4% und Kosten der Versicherung von 10% aus; vgl. dazu Rentenversicherungsbericht der Bundesregierung 2015.

(4) Vgl. hierzu die Antwort der Bundesregierung auf eine kleine Anfrage der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen vom 15.8.2016, BT-Drs. 18/9398.

(5) Vgl. Hans-Jürgen Urban/Christoph Ehlscheid/Dirk Neumann: (K)ein Recht auf Ruhestand, in: Soziale Sicherheit 2016, S. 67ff.

(6) Zum Konzept der IG Metall vgl. IG Metall-Vorstand (Hrsg.): Neuaufbau einer solidarischen Alterssicherung. Vorschläge der IG Metall, Frankfurt 2016. Zur Kampagne vgl.
www.mehr-rente-mehr-zukunft.de.

(7) Zwischen Mai und August 2013 führte die IG Metall eine Beschäftigtenbefragung durch. Mehr als eine halbe Million der Befragten antworteten (n=514.134), darunter etwa ein Drittel unorganisierte Beschäftigte (31%). Die wichtigsten Ergebnisse der Befragung finden sich in IG Metall Vorstand (Hrsg.) (2013): Arbeit: sicher und fair! Die Befragung. Ergebnisse, Zahlen, Fakten, Frankfurt am Main. Vgl. auch Hans-Jürgen Urban/Christoph Ehlscheid: Plädoyer für ein arbeits- und sozialpolitisches Mandat - Einige Ergebnisse einer Beschäftigtenbefragung der IG Metall, in: WSI-Mitteilungen 8/2013, S. 614ff.


Christoph Ehlscheid ist Bereichsleiter Sozialpolitik beim Vorstand der IG Metall.

Dirk Neumann ist Gewerkschaftssekretär im Ressort Allgemeine Sozial- und Arbeitsmarktpolitik beim Vorstand der IG Metall.

Hans-Jürgen Urban ist Geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall und dort für Sozialpolitik, Gesundheitsschutz und Arbeitsgestaltung zuständig.

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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 5/2016, Heft 216, Seite 59-65
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. November 2016

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