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AUSSENHANDEL/1662: Exportweltmeister 4.0 - Industrie 4.0 (FUE Rundbrief)


Forum Umwelt & Entwicklung - Rundbrief 1/2017

We are the Champions
Exportweltmeister Deutschland: Erfolgsmodell oder Problem für den Rest der Welt?

Exportweltmeister 4.0 - Industrie 4.0
Revolution im Norden, Kontinuität der Ausbeutung im Süden

von Michael Reckordt


Für Produkte 'Made in Germany' importiert Deutschland nahezu 100 Prozent der benötigten Primärmetalle. Das Umweltbundesamt (UBA) erwartet, dass wir 2030 das Dreifache an Aluminium und Zink sowie das Doppelte an Kupfer, Chrom, Gold und Platin im Vergleich zum Jahr 2010 verbrauchen werden. Durch die Digitalisierung der Wirtschaft im Zuge von Industrie 4.0 kann der Verbrauch von Zukunftsmetallen wie Seltenen Erden oder Lithium noch dramatischer werden. Die sozialen und ökologischen Folgekosten werden dabei externalisiert und bleiben den Gemeinschaften in den Abbauregionen überlassen.


Seit einigen Jahren versprechen Wirtschaft, Politik und Forschungsinstitute die vierte Welle der industriellen Revolution. Im angelsächsischen Raum wird vom Internet der Dinge ("Internet of Things") gesprochen; in Deutschland firmiert die Digitalisierung der Fertigung und des Vertriebs unter dem Begriff "Industrie 4.0". Für den Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) ist Industrie 4.0 ein radikaler Strukturwandel: "Neue Daten, Vernetzung, Automatisierung und die digitale Kundenschnittstelle sprengen bestehende Wertschöpfungsketten." Industrie 4.0 sei die Neukonfigurierung des globalen Produktionssystems oder gar eine "Reindustrialisierung". Industrie 4.0 ist nicht nur die Digitalisierung der horizontalen und vertikalen Wertschöpfungsketten der Unternehmen, sondern wird auch große Veränderungen im Produkt- und Dienstleistungsportfolio der Unternehmen nach sich ziehen. Der BDI rechnet, dass ein Zuwachs von 1,25 Billionen Euro an industrieller Bruttowertschöpfung bis 2015 möglich ist, warnt aber auch vor möglichen Verlusten in Höhe von 605 Milliarden Euro in der Wertschöpfung, wenn nicht die passenden Weichen gestellt werden. Industrie 4.0 ist also das Versprechen, Exportweltmeister bleiben zu können, wenn nur die Chancen genutzt werden.

Fehlender sozio-ökologischer Diskurs

Es sind vor allem große Wirtschaftsverbände aus dem Bereich Elektronikindustrie (ZVEI), Maschinen- und Anlagenbau (VDMA) sowie der Verband der digitalen Industrie (BITKOM), die, unterstützt von der Bundespolitik, den Diskurs der Industrie 4.0 und entsprechende Umsetzungsprozesse vorantreiben. Alle drei Verbände sind wichtige Mitglieder im BDI und haben die Plattform Industrie 4.0 initiiert. "Bundeswirtschaftsministerin Brigitte Zypries und Bundesforschungsministerin Prof. Dr. Johanna Wanka steuern und leiten die Plattform gemeinsam mit hochrangigen Vertretern aus Wirtschaft, Wissenschaft und Gewerkschaften", steht auf der Homepage der Plattform. Das Ziel ist, gemeinsame Handlungsempfehlungen für einheitliche und verlässliche Rahmenbedingungen auszuarbeiten. Zwar arbeitet das von der Industrie dominierte Bündnis in der Plattform mit einigen Forschungsinstituten und der Gewerkschaft IG Metall zusammen, eine Beteiligung von Umwelt- oder Entwicklungsverbänden findet aber nicht statt. So fehlt bislang auch jeglicher Diskurs über ökologische und menschenrechtliche Auswirkungen von Industrie 4.0.

Die industrielle Veränderung wirkt gewaltig

In einer vom Bundeswirtschaftsministerium (BMWi) im Jahr 2015 erarbeiteten Zukunftsvision geht die Bundesregierung von Veränderungen auf unterschiedlichen Ebenen aus: Dazu gehören neue Marktchancen und Exportmöglichkeiten, eine nachhaltigere Wirtschaft inklusive Ressourcenschonung und Energieeffizienz, Entstehung von qualitativ hochwertigen Arbeitsplätzen, neue Freiräume und soziale Teilhabe sowie eine steigende Lebensqualität, "weil die Digitalisierung zum Nutzen der Menschen eingesetzt wird". Das klingt so, als würden einige der drängenden Probleme der Zukunft bald gelöst werden.

Industrie 4.0 verspricht, dass durch die Entwicklung von neuen Technologien gewisse Krisen gelöst werden können. So sollen Wertschöpfungsketten ressourceneffizienter neuorganisiert werden. Industrie 4.0 hat im Kern ein ähnliches Versprechen wie die Grüne Ökonomie. "Mit mehr technologischer Innovation schaffen wir die Effizienzrevolution und die Entkopplung der Wirtschaftsleistung vom Energie- und Materialverbrauch", fassen die KollegInnen der Heinrich-Böll-Stiftung, Thomas Fatheuer, Lili Fuhr und Barbara Unmüßig, in ihrer 'Kritik der Grünen Ökonomie' die Ziele der selbigen zusammen. Beiden Narrativen kann man eine Technologiegläubigkeit unterstellen, die blind ist "für Fragen der Macht und Politik und für Fragen von Gerechtigkeit und Demokratie".

In Studien betont die Deutsche Rohstoffagentur (DERA) - laut eigener Aussage das rohstoffwirtschaftliche Kompetenzzentrum der Bundesanstalt für Geowissenschaft und Rohstoffe - derweil, dass die Digitalisierung der Industrie und die dafür benötigten Technologien, wie Sensoren, Radio Frequency Identification (RFID)-Tags, Industrie-Roboter, Displays oder bleifreie Lote, andere Rohstoffe in hohem Maße verbrauchen. Alleine für 42 Zukunftstechnologien, so schätzt die DERA, wird bis 2035 das Vierfache der heutigen Produktion an Lithium, das Dreifache an Schweren Seltenen Erden sowie das Anderthalbfache an Leichten Seltenen Erden und Tantal benötigt. Durch die häufige Nutzung von Elektronik gehen ExpertInnen davon aus, dass die weltweite Kupfer-Nachfrage in den nächsten Jahren bis 2050 zwischen 213 und 341 Prozent zunehmen wird.

Keine Atempause, Geschichte wird gemacht: Es geht voran

Diesen vollkommen verantwortungslosen Mehrverbrauch an metallischen Rohstoffen, der schon heute zu gewaltsamer Vertreibung, politischen Morden und ökologischen Katastrophen führt, wird mit einem starken Glauben an den Fortschritt begegnet. Dieser Glaube grenzt stellenweise gar an Wahnsinn. So sprechen VertreterInnen der Wirtschaft und Politik stellenweise von einer Dematerialisierung durch die Industrie 4.0. In einer von der Deutschen Telekom finanzierten Publikation wird vorgerechnet, dass im Bereich der E-Paper - durch elektronische Zeitungen und Bücher - ein Einsparpotential von 9,5 Millionen Tonnen Papier bestünde. Dies würde einem theoretischen Reduktionspotenzial der Treibhausgase um 4,5 Megatonnen CO2-Emissionen entsprechen. Nun fehlt in dieser Rechnung scheinbar die Einberechnung der E-Reader und Computer, die man benötigt, um in Zukunft die Daten zu lesen. Auch der elektrische Strom, den diese Geräte in Produktion und Betrieb benötigen sowie der für Recycling aufgewendet wird, müssten mit den Einsparzielen verglichen werden. Und selbst wenn diese mitberechnet würden, bleibt Holz im Gegensatz zu metallischen Rohstoffen ein nachwachsender Rohstoff. Zumal die Metalle häufig in so kleinen Mengen, als Legierungen, Lötpunkte etc., in den Elektronikprodukten aufgetragen werden und deshalb nicht zurückgewonnen werden können, dass sie de facto verbraucht werden.

Die Potenziale der Dematerialisierung sind bisher nur an Einzelbeispielen analysiert und noch nicht systematisch zusammengetragen worden. Doch schon jetzt scheint es auch in der Industrie eine Skepsis zu geben, ob die Dematerialisierung Wirklichkeit wird. "Für die Technologien von morgen brauchen wir mehr Rohstoffe - für ein Elektroauto zum Beispiel 60 Kilogramm mehr Kupfer, 50 Kilogramm mehr Aluminium, 20 Kilogramm mehr Stahl und 10 Kilogramm mehr Nickel als für einen herkömmlichen Verbrenner. Bei Erneuerbaren Energien und der Telekommunikation spielen Aluminium, Kupfer, Magnesium, Nickel, Zink, Blei und andere Metalle ebenfalls eine wichtige Rolle", schreibt zum Beispiel die Wirtschaftsvereinigung Metalle auf ihrer Homepage. Der BDI wird noch deutlicher: "Ohne Rohstoffe keine Energiewende, keine Elektromobilität, keine schnellen Breitbandnetze, und keine Industrie 4.0", schreibt er im Rahmen seines fünften Rohstoffkongresses im Jahr 2016, der den Titel hatte: 'Rohstoffsicherung 4.0'.

Auch die von Politik und Industrie beschworene Ressourceneffizienz muss nicht zwangsläufig zu einer Verringerung des Verbrauchs führen. Wie uns die Forschung zu Rebound-Effekten zeigt, werden knapp 50 Prozent der Effizienzeffekte durch höheren Verbrauch der Mehrproduktion und stärkeren Konsum aufgefressen. Bei vielen Entwicklungen wird es also nicht um eine Dematerialisierung oder eine höhere Effizienz gehen, sondern vor allem um einen Wechsel der Rohstoffströme. Fossile oder nachwachsende Rohstoffe werden bei Elektromobilität und Erneuerbaren Energien durch metallische Rohstoffe ersetzt. Eine Dematerialisierung findet nicht statt.

Ebenfalls ungeklärt ist bisher der Einfluss von Industrie auf zunehmende Gefahren für Mensch und Umwelt durch Hackerangriffe auf Großindustrieanlagen wie Schmelzen und Raffinerien, den Verlust von Arbeitsplätzen und Wertschöpfung in den Ländern des Globalen Südens sowie den Energieverbrauch durch die Digitalisierung von Billionen von Gegenständen. Industrie 4.0 birgt das Risiko, die planetarischen Grenzen endgültig überzustrapazieren. Es wird Zeit, dass sich Umwelt-, Menschenrechts- und Entwicklungsorganisationen in die Diskussion einmischen!


Autor Michael Reckordt arbeitet bei PowerShift als Koordinator des AK Rohstoffe, einem bundesweiten Netzwerk von Umwelt-, Menschenrechts- und Entwicklungsorganisationen.

Die ausführliche Studie inklusive einer Betrachtung der rohstoffpolitischen Auswirkungen und ausführlichen Quellen steht online zur Verfügung unter:
https://power-shift.de/ressourcenfluch-4-0/.

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Quelle:
Rundbrief 1/2017, Seite 20 - 21
Herausgeber:
Forum Umwelt & Entwicklung
Marienstr. 19-20, 10117 Berlin
Telefon: 030/678 1775 93, Fax: 030/678 1775 80
E-Mail: info@forumue.de
Internet: www.forumue.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Mai 2017

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