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DISKURS/108: Gibt es noch Spielarten des Kapitalismus? (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 4/2012

Gibt es noch Spielarten des Kapitalismus?

Von Jan Turowski



Lange Zeit eingehegt durch Wohlfahrtsstaat und demokratische Kontrollmechanismen, ist spätestens mit der aktuellen Finanzkrise die demokratische Lenkbarkeit des Kapitalismus stark eingeschränkt. Die Demokratie gerät nun selbst an den Rand der Preisgabe ihrer universellen Werte, Prinzipien und Gerechtigkeitsnormen.


Von Beginn an stand der Kapitalismus in einem grundlegenden Spannungsverhältnis zur Demokratie. Historisch stellte das kapitalistische Wirtschaftssystem erst die notwendigen materiellen Ressourcen sowie Freiräume ökonomischer Tätigkeit bereit, die es dem Individuum erlaubten, aus traditionellen Zwängen und feudalen Abhängigkeiten auszubrechen und sein Leben fortan selbstbestimmt zu führen. Die Überwindung der Knappheit essenzieller Lebensmittel und das entsprechende Ende des alltäglichen physischen Existenzkampfes eröffneten den Menschen erst jene politisch-kulturellen Sphären autonomer Selbstgestaltung, die eine zentrale Voraussetzung funktionsfähiger Demokratisierung darstellen. Gleichwohl wurde auch sofort die Kehrseite der marktkapitalistischen Entfaltung sichtbar. Der Kapitalismus erzeugte neue Ungleichheiten, Unsicherheiten und Armut, die in einem fundamentalen Widerspruch zu der demokratischen Norm der gleichen Rechte aller Bürger standen. Die produzierten Abhängigkeiten und Ausgrenzungen hinderten die Menschen an der aktiven Wahrnehmung ihrer ureigenen demokratischen Rechte. Die dem Kapitalismus eingeschriebene, ungleiche ökonomische Ressourcenverteilung unterlief also das Gleichheitsprinzip der Menschenwürde.

Indem seine Leistungsfähigkeit und Innovationskraft die autonomen Handlungsräume der Menschen zweifellos vergrößerten wurde der Kapitalismus gewissermaßen zum Geburtshelfer der modernen liberalen Demokratie. Zugleich schränkten vielfältige Formen der Ausbeutung und sozioökonomische Not die Handlungsfreiheit vieler Bürger wieder massiv ein, so dass der Kapitalismus von Anbeginn an eine strukturelle Bedrohung der Demokratie darstellte.

Die Kritik an der vom Kapitalismus systematisch erzeugten Ausbeutung, Ausgrenzung und Verelendung motivierte ab dem späten 19. Jahrhundert zu einer ganzen Bandbreite von Sozialprogrammen und gesetzlichen Regulierungen, die, indem sie - peu à peu - für alle Bürger soziale Sicherung und Rechte bereitstellten, demokratische Entscheidungsteilhabe und politische Autonomie garantierten. Am Ende dieser Entwicklung stand der kapitalistische Wohlfahrtsstaat.

In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg massiv ausgebaut, schützte der Wohlfahrtsstaat über eine soziale Grundsicherung seine Bürger vor dem freien Spiel der Marktkräfte und sorgte über demokratisch-institutionalisierte Mechanismen für eine Ausbalancierung der ökonomischen Machtverhältnisse. Und tatsächlich: Bis weit in die 70er Jahre wurden die Gesellschaften der kapitalistischen Wohlfahrtsstaaten zunehmend gleicher: Durch ein freies Bildungssystem verbesserten sich die Aufstiegschancen auch der unteren sozialen Schichten. Arbeitsplatzsicherheit, Stabilität der Gehälter und der Sozialleistungen und relativ planbare Karrierewege gaben den Menschen Sicherheit und Gewissheit. Die breite Teilnahme an der Konsumgesellschaft eröffnete neue Lebensstile und eine Bedürfnisbefriedigung, die bis dahin nur einer kleinen Oberschicht vorbehalten war.

Der Grundwiderspruch kapitalistischer Demokratien zwischen gleichen Grundrechten und ungleicher ökonomischer Ressourcenverteilung schien nun endgültig aufgelöst worden zu sein. Durch einen "historischen Kompromiss" von Kapital und Arbeit schienen die dem Kapitalismus eingeschriebenen Interessengegensätze nicht mehr im Kampf ausgefochten, sondern als quasi-ritualisierte Formsache nur noch moderiert werden zu müssen.

In den demokratisch-kapitalistischen Wohlfahrtsstaaten verschwand mit dem "Erfolg" - Armut, Ungleichheit und Ausbeutung, welche der Marktkapitalismus hervorbringt, zumindest in seinen industriellen Zentren sozialpolitisch abgefedert zu haben - die Kritik an seinen systemischen Widersprüchen fast vollständig aus den Mainstream-Diskursen. Selbst als in den späten 70er Jahren die kapitalistischen Wohlfahrtsstaaten in eine Stagnationskrise schlidderten, sprach in den dann folgenden Jahren die neoliberale Krisenrhetorik nicht etwa von der Krise des Kapitalismus, sondern allein von wachstumsfeindlichen Fehlentwicklungen sozialstaatlicher Institutionen und Regulationsmechanismen. Ging es beim Wohlfahrtsstaat darum, die Demokratie vor dem Kapitalismus zu schützen, kehrte der Neoliberalismus das Argument nun um.


Den einen "Kapitalismus" gibt es überhaupt nicht

Nach dem Fall der Mauer 1989 wurde ohne ernstzunehmende Systemkonkurrenz das kapitalistische Wirtschaftssystem nun nicht mehr prinzipiell diskutiert, sondern nur noch hinsichtlich der Stärken und Schwächen seiner unterschiedlichen Varianten. Da gab es etwa den kompetitiven "amerikanischen" Kapitalismustyp, der so ganz anders organisiert und historisch gewachsen war als der korporativ-koordinierte und sozial egalitäre "rheinische" oder "skandinavische" Typ.

Die Unterschiede historischer Phasen kapitalistischer Entwicklung und die der verschiedenen Kapitalismusvarianten schienen bei genauer Betrachtung so groß zu sein, dass von dem Kapitalismus als einheitliche Formation eigentlich gar nicht die Rede sein konnte. Zugleich wurde aber auch immer deutlicher, dass nationalstaatliche Pfade mehr denn je in ein global finanzdominiertes Akkumulationsregime eingebettet waren und nationale Sonderwege im Sinne eines Abweichens oder gar Ausbrechens so gut wie unmöglich würden. In den Diskussionen über die unterschiedlichen Typen ging es folglich darum, wie gut oder wie schlecht sich die jeweiligen Staaten der zunehmenden Deregulierung des globalen Kapitalismus anpassen könnten; die Logik der Deregulierung und Entbettung wurde hingegen kaum in Frage gestellt.

Ende der 90er Jahre war die systematische Kapitalismuskritik gänzlich in wissenschaftlich-politische Randsegmente verbannt. Das bedeutete natürlich nicht, dass soziale Widersprüche, Ausbeutungs- und Machtverhältnisse, ökologische Zerstörung, Klima- und Rohstoffkrisen in den kapitalistischen Wohlfahrtsstaaten nicht mehr politisch thematisiert wurden. Sie wurden aber kaum mehr als strukturelle Fragen des Kapitalismus behandelt, sondern nur noch als Sachprobleme, denen man mit Polit-Management-Konzeptionen und technologischen Innovationen sinnvoll begegnen könnte.

Im Zeitgeist jener Jahre wagte Gordon Brown - damals noch britischer Schatzkanzler - die These, dass die moderne Wissensökonomie zu einer Umkehrung der Machtbeziehungen zwischen Kapital und Arbeit geführt habe: Arbeit könne über die wachsende Relevanz von Wissen und Fertigkeiten und dem daraus abgeleiteten Marktwert des individuellen Humankapitals nun das Kapital ausbeuten.


Finanzkrise 2008: Rückkehr der Kapitalismuskritik

Bei der Analyse der Unterschiede der jeweiligen kapitalistischen Volkswirtschaften geriet allerdings die eine machtvolle und unerbittliche Triebkraft des Kapitalismus aus dem Fokus der Kritik: Die verselbstständigte Form der Profitakkumulation, die allen Gesellschaften und dies in allen Kapitalismusvarianten gleichermaßen ihre Verwertungslogik und Handlungsbedingung aufzwingt.

Dies änderte sich allerdings mit der Finanz-, Wirtschafts- und Schuldenkrise ab 2008. Es wurde schnell deutlich, dass es nicht ausreichte, nur die Gier der Banker oder die Selbstüberschätzung und unverantwortliche Risikobereitschaft der Finanzinvestoren zu kritisieren, darauf zu verweisen, dass bloß Kontrollmechanismen eines ansonsten perfekten Systems nicht richtig funktioniert hätten oder zu behaupten, dass ja nur das anglo-amerikanische, finanzmarktgetriebene Wirtschaftsmodell gegen die Wand gefahren sei (auch wenn die Argumente jeweils ja nicht falsch waren). Es wurden zunehmend auch diejenigen Stimmen lauter, die darauf verwiesen, dass die gegenwärtige Krise aus den kapitalismusinhärenten, systemischen Risiken fast zwangsläufig erwachsen sei. Auch sei der deregulierte Finanzmarktkapitalismus, der als Sinnbild neoliberaler Fehlentwicklung für die Krise verantwortlich gemacht wurde, seinerseits die machtpolitisch restaurative Problemlösung der Krise des fordistischen Wirtschafts- und Sozialmodells der 70er Jahre gewesen. Immer neue Krisen und Spekulationsblasen in immer kürzeren Abständen seien weniger die natürliche Abfolge von konjunkturellen Auf- und Abschwüngen, sondern vielmehr Teil und Ausdruck einer Metakrise des über 200 Jahre währenden kapitalistischen Entwicklungs-, Wachstums- und Fortschrittsmodells, das offensichtlich nun an seine natürlichen und sozialen und nicht zuletzt systemimmanenten Grenzen gestoßen sei.

Der Wohlfahrtsstaat, vor allem in seiner spezifischen - und in der Rückschau auch idealisierten - Ausprägung der 70er Jahre gilt in heutigen Diskussionen vielfach als der normative Referenzpunkt eines demokratisch regulierten und kontrollierten Kapitalismus, zu dem man wieder zurück will. Zugleich macht sich jedoch das Gefühl breit, dass die gegenwärtige Krisensituation in seiner langen Geschichte viel eher den Normalzustand des Kapitalismus beschreibt und nicht die "goldenen Jahre" mit Wirtschafts- und Wohlfahrtsstaatswachstum, starken Gewerkschaften und Normalarbeitsverhältnis und nicht zuletzt kontinuierlicher Ausdehnung demokratischer Teilhabe und egalitärer Umverteilung von Wohlstand und Macht. Im historischen Rückblick sind diese Jahre wohl eher eine Ausnahme, die nur unter den sehr speziellen Bedingungen fordistischer Massenproduktion möglich war. Dieser Aspekt wird allerdings von einer nicht unwesentlichen, nostalgischen Kapitalismuskritik ignoriert, die versucht, die Gegenwart an vergangenen Idealen zu messen und soziale Konflikte mit Begriffen zu beschreiben, die in der kapitalistischen Krisenrealität des 21. Jahrhunderts kaum mehr Sinn ergeben.


Ein alter Widerspruch kehrt zurück

Schien durch die wohlfahrtsstaatliche Einbettung des Kapitalismus der Grundwiderspruch zwischen den strukturellen Risiken kapitalistischer Marktwirtschaft und der Inanspruchnahme gleicher Staatsbürgerrechte wie auch dem Prinzip der Mehrheitsentscheidungen in der Demokratie gelöst, schleuderte spätestens die Finanzkrise diesen Widerspruch zurück auf die Bühne der Geschichte.

Ungleichheit etwa ist prinzipiell im Kapitalismus nicht nur nicht zu überwinden, sie verschärfte sich vielmehr in den letzten Jahrzehnten in allen westlichen Gesellschaften wieder erheblich. Um die Wachstumsdynamik der Wirtschaft nicht zu behindern, wurden solcherart Ungleichheiten, Spaltungs- und Exklusionseffekte wieder akzeptiert, die nach nicht allzu langer Zeit eher schaurige Assoziationen an dunkle vordemokratische Zeiten hervorriefen. Wann ist der Schwellenwert erreicht, in dem gesellschaftliche Ungleichheit und soziale Unsicherheit die Substanz der Demokratie selbst berühren?

Zum anderen offenbarten die letzten Krisenpolitiken in Europa, dass die anonyme Macht der internationalen Finanzmärkte manchmal größer ist als die des demokratischen Souveräns. Märkte und internationale Institutionen erklären nationalen Regierungen, wie "vernünftige" Politik auszusehen habe: strikteste Einsparungen, Privatisierung, Rentenkürzungen, niedrige Löhne und Steuern. Was in den letzten 20 Jahren von so manchem politisch gewollt aber eben demokratisch nicht durchsetzbar war, erledigt jetzt ein postpolitisches technokratisches Regime "alternativloser" Krisenpolitik.

Wenn die Bürger keine wirkliche Wahl mehr haben, welche Politik sie verfolgt sehen wollen, dann ist das demokratische Prinzip faktisch außer Kraft gesetzt.

Und schließlich verkleinern im Postfordismus dieselben Triebkräfte unendlichen Wachstums und dynamischer Beschleunigung, die bereits aus Wohlfahrtsstaaten Wettbewerbsstaaten gemacht haben, auf individueller Ebene wieder die Sphären autonomer Selbstbestimmung, die durch den Wohlfahrtsstaat erst vergrößert wurden. Durch Subjektivierung der Arbeit, Selbstausbeutung, prekäre Lebens- und Beschäftigungsverhältnisse, Ausdehnung einer immer weitergehenden Wettbewerbslogik bis in die Bereiche der Freizeit hinein, durch ständige Selbstkontrolle über Quoten und Abgabefristen, den immer schnelleren Verfall von Qualifikation und Wissen werden immer größere Gruppen der Gesellschaft zu ständig Getriebenen der Umstände, die sie immer weniger kontrollieren können.

Eine kapitalistische Ökonomie - gewissermaßen als Sinn und Zweck in sich selbst, deren gesellschaftliche Konsequenzen schicksalsergeben hingenommen werden müssen - darf nicht von demokratischen Normen entkoppelt diskutiert werden. Indem die demokratische Lenkbarkeit des Kapitalismus stark zurückgegangen ist, gerät die Demokratie selbst an den Rand der Preisgabe ihrer universellen Werte, Prinzipien und Gerechtigkeitsnormen. Daher muss die Kapitalismuskritik wieder ein demokratisches Gebot sein.


Jan Turowski (* 1969) ist Politikwissenschaftler und Kulturtheoretiker und z.Zt. Associated Professor an der Nanjing University for Science and Technology (NJUST), China. (jan.turowski@snafu.de)

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 4/2012, S. 27-31
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Mai 2012