Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → WIRTSCHAFT


DISKURS/126: Die neuen Oligarchien - Vorboten der Refeudalisierung (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 6/2016

Die neuen Oligarchien - Vorboten der Refeudalisierung

von Sighard Neckel


In zahlreichen westlichen Ländern vollzieht sich gegenwärtig ein sozialer Wandel, der "neofeudale" Privilegien für vermögende Kreise etabliert, während untere Schichten vielfach mit prekarisierter Arbeit und sozialem Ausschluss konfrontiert sind. Zur Erklärung dieser neuen Form von Klassengesellschaft wird in der aktuellen Sozialforschung von einer ständischen Verfestigung sozialer Ungleichheit gesprochen, die allen modernen Versprechen von gesellschaftlichem Ausgleich und sozialer Mobilität widerspricht. Offensichtlich hat der Aufstieg des Finanzmarktkapitalismus gesellschaftliche Muster in der Verteilung von Wohlstand, Lebenschancen und Macht mit sich gebracht, die an vormoderne Zeiten erinnern. Und so verfügen die heutigen Oberschichten nicht nur über ein historisch einmalig großes Vermögen. Sie gewinnen zunehmend auch politischen Einfluss und mitunter sogar direkte staatliche Macht. Welchen wirtschaftlichen Mechanismen verdanken die neuen Reichtumsoligarchien ihre beherrschende Stellung und gibt es noch Möglichkeiten der demokratischen Kontrolle ökonomischer Macht?

Die Vertiefung sozialer Ungleichheit

Der beispiellose Wohlstand dieser neuen Reichtumsoligarchie an der Spitze der Sozialstruktur geht nicht auf moderne ökonomische Prinzipien wie Leistungserbringung, Wettbewerb oder Markterfolge zurück, wie dies dem Selbstverständnis einer bürgerlich-kapitalistischen Sozialordnung entspräche, sondern auf Strategien der Privilegiensicherung, die ihren eigentlichen Ursprung in vorkapitalistischen Zeiten haben.

Nehmen wir als Beispiel hierfür die Entwicklung der Spitzeneinkommen im ökonomischen Top-Management: In den Vereinigten Staaten lag Mitte der 60er Jahre das Verhältnis der Einkommen von CEOs zu den Durchschnittsgehältern bei 20:1. Im Jahr 2012 ist die sogenannte CEO Pay Ratio in den USA auf das 273-Fache gestiegen. Auch in jenen europäischen Gesellschaften, die sich noch immer als "soziale Marktwirtschaften" verstehen, hat sich eine ähnliche Entwicklung vollzogen. So erhielten die Vorstände der 30 größten börsennotierten Unternehmen in Deutschland 1989 ein Jahresgehalt von durchschnittlich 500.000 D-Mark, was seinerzeit ebenfalls das 20-Fache der durchschnittlichen Arbeitnehmereinkommen bedeutete. Im Jahr 2010 waren die Vorstandsgehälter auf jährlich sechs Millionen Euro gestiegen, womit sich das Verhältnis zu den Durchschnittseinkommen auf das 200-Fache vergrößert hat.

Versucht man die Ursachen dieser immensen Zugewinne zu ermitteln, stellt man fest, dass es keinen einzigen wirtschaftlichen Faktor gibt, der diesen sprunghaften Anstieg der Einkünfte des Topmanagements auf dramatisch zunehmende Leistungsdifferenzen und einen plötzlichen Anstieg ihrer Produktivität zurückführen könnte. Die Spitzeneinkommen sind kein pay for performance, sondern Ausdruck einer gewachsenen Macht in den Vorständen und Aufsichtsräten von Aktiengesellschaften, den Unternehmen wesentlich mehr Einkünfte zu entziehen als irgendeine Spitzenkraft als eigenen Leistungsbeitrag seiner Firma hinzufügen kann.

Nicht weniger leistungsfern als die Verteilung von Einkommen stellt sich die Vermögensverteilung dar. Das reichste Zehntel aller Haushalte, das 1970 noch über 44 % des gesamten Nettovermögens verfügte, besaß 2010 bereits 66 % des Gesamtvermögens in Deutschland. Das reichste Hundertstel, das pro Kopf ein Vermögen von mindestens 800.000 Euro besitzt, kam auf 36 %, das reichste Tausendstel auf 23 % aller Vermögenswerte. Hingegen verfügt ein Fünftel aller Erwachsenen über gar kein Vermögen, und bei rund 7 % sind die Schulden größer als der Besitz. Insbesondere Arbeitslose mussten nach Einführung der Hartz IV-Gesetzgebung ihre Vermögenswerte opfern, so dass zwei Drittel von ihnen gänzlich ohne Vermögen oder sogar verschuldet sind. Der Gini-Koeffizient, der die Vermögensungleichheit misst und international vergleichbar macht, lag 2012 in Deutschland mit einem Wert von 0,78 höher als in jedem anderen Euroland. Bei den vergleichbaren Ländern weisen nur die USA eine höhere Vermögensungleichheit auf.

Die Gründe für diese drastische Zunahme der Vermögensungleichheit liegen jenseits der vielzitierten Leistungsgerechtigkeit. Seit den 90er Jahren sind Kapitaleinkünfte und Unternehmensgewinne deutlich gestiegen, während im Verhältnis dazu die Arbeitseinkommen schrumpften. Dadurch wurden Besitzer von Sach- und Finanzvermögen, von Immobilien und Unternehmensbeteiligungen gegenüber denjenigen ökonomisch bevorteilt, die für ihren Vermögensaufbau auf Arbeitseinkommen angewiesen sind. Weiterhin spielt die leistungslose Vermögensübertragung durch Erbschaften eine wichtige Rolle. Allein zwischen 2000 und 2010 wurden zwei Billionen Euro vererbt. Dies sind 27 % des Gesamtvermögens in Deutschland. Über zwei Drittel des vererbten Vermögens entfällt auf nur 20 % der Erben (die häufig bereits vermögend sind), während fast die Hälfte der Bevölkerung gar nicht in den Genuss von Erbschaften kommt.

Privilegierung jenseits von Leistung und Wettbewerb

Ökonomisch beruhen die heutigen Prozesse der Reichtumssteigerung bei den Spitzenverdienern und den Hochvermögenden nicht darauf, besonders erfolgreich im wirtschaftlichen Wettbewerb zu sein, sondern Marktprozesse zu unterlaufen. Markthandeln ist ja stets mit der Ungewissheit darüber verbunden, ob sich die eingesetzten Aktiva auch tatsächlich verwerten lassen. Wettbewerb, obwohl eine unabdingbare Voraussetzung von Märkten, vermag Gewinnaussichten zu vereiteln, weil Konkurrenz die erwarteten Erlöse zunichtemachen kann. Daher ist es stets die vorteilhafteste Option, unbehelligt vom Wettbewerb Erträge zu sichern. Die Möglichkeiten zu einem solchen marktfernen Bezug eigener Einkünfte sind sozial aber höchst ungleich verteilt. In den gesellschaftlichen Oberschichten sind zahlreiche Chancen vorhanden, sich dem Markt zu entziehen, um höchste Erträge ohne Leistung und Wettbewerb zu erzielen. Die Statuspositionen bevorteilter Gruppen in Vorständen, Aufsichtsräten und anderen wirtschaftlichen Führungsgremien geben Gelegenheit, sich gegenseitig Privilegien zu gewähren, sei es als direkte Zahlungen, als Vergünstigungen, garantierte Prämien oder Versorgungsansprüche.

Dieser "Entmarktlichung" der Privilegierten steht eine zunehmende "Vermarktlichung" der Lebenslage breiter Bevölkerungsgruppen und insbesondere der unteren Sozialschichten gegenüber. In dem Maße, wie durch die Schwächung von Gewerkschaften und Tarifverträgen garantierte Leistungsansprüche bei den Beziehern niedriger Einkommen zersetzt worden sind, Arbeit prekarisiert wurde und sozialpolitische Anrechte nach der Hartz-IV-Gesetzgebung erheblich eingeschränkt sind, verschärfte sich der Konkurrenzdruck auf den Arbeitsmärkten und wurden die unteren Schichten zunehmend den Nachfrageregeln eines deregulierten Arbeitsmarktes ausgesetzt.

Das Privileg leistungsloser Renten ist aber nicht der einzige Faktor, der heute zu einer Art Feudalkapitalismus und einem new gilded age führt, wie dieses Phänomen in der internationalen Ungleichheitsforschung mittlerweile bezeichnet wird. Weitere Faktoren sind direkt politischer Natur. Die beispiellose Bevorteilung der heutigen Reichtumsklasse ist Resultat einer Art staatlicher Gabenökonomie für die Vermögenden. In den meisten westlichen Ländern wurden in den letzten 20 Jahren milliardenschwere Geschenke in Form massiver Steuersenkungen auf Kapitalerträge, Erbschaften und hohe Einkommen vergeben. Auch in Deutschland haben die Steuerreformen seit Mitte der 90er Jahre hohe Einkommen und Vermögen entlastet. Während die Vermögenssteuer nicht mehr erhoben wird, wurde der Einkommenssteuerspitzensatz von 57 auf 42 % gesenkt. Kapitalerträge werden seit 2009 nur noch pauschal mit 25 % Abgeltungssteuer belastet. Die Steuer auf Kapitalerträge ist heute viel geringer als die Steuer auf Arbeit, die zusammen mit den Verbrauchssteuern gegenwärtig 80 % des gesamten Steueraufkommens ausmacht.

Refeudalisierung des Kapitalismus

Die neoliberale Steuersenkungspolitik für die Reichen und die Unternehmen und Banken, die von ihnen kontrolliert werden, geht hauptsächlich darauf zurück, dass es den reichen Bevölkerungsgruppen aufgrund ihrer ökonomischen Stärke politisch gelungen ist, faktisch eine Vetomacht gegen die Beeinträchtigung ihrer Vermögensinteressen zu etablieren. Nicht bürgerlich-kapitalistische Prinzipien wie Leistung und Wettbewerb entscheiden über Einkommen und Vermögen, sondern gesellschaftlicher Status, wirtschaftliche Stärke und die Gunst der politischen Macht. Zusammengenommen führen diese Entwicklungen dazu, dass die modernen Gesellschaften der Gegenwart wieder ein Ausmaß sozialer Ungleichheit aufweisen, das im frühen 19. Jahrhundert bestand, wie zuletzt die Studien von Thomas Piketty nachgewiesen haben. Seinerzeit verfügte das oberste Zehntel der Bevölkerung über mehr als 80 % des Gesamtvermögens. Heute sind auch Gesellschaften wie Deutschland dabei, erneut solche Ausmaße von Ungleichheit zu erreichen.

Thomas Piketty spricht in diesem Zusammenhang von der Rückkehr eines "patrimonialen Kapitalismus", der auf einer Hyperkonzentration des Kapitals in den Händen einer neuen oligarchischen Reichtumsklasse basiert. Er lässt dynastische Strukturen ökonomischer Macht entstehen, in denen Erbschaft, Heirat und große Vermögen wieder eine überragende Rolle spielen und Erträge abwerfen, zu denen man es durch Bildung, Arbeit und Leistung niemals bringen kann.

In einer langfristigen historischen Perspektive betrachtet, gehört es zu den Paradoxien dieses gesellschaftlichen Wandels, dass heute das reichste Segment eines Wirtschaftsbürgertums versucht, die eigene Position mit denselben Mitteln der Herausziehung von Renten und der Vererbung dynastischer Macht zu befestigen wie einst die aristokratische Oberschicht, gegen die das Bürgertum mit den Idealen von Leistung und Wettbewerb angetreten war. In dieser historischen Gemeinsamkeit stellen die großen Kapitaleigner zusammen mit den reichen Investoren auf den Finanzmärkten und dem Top-Management eine ständisch privilegierte Klasse dar. Ihre beherrschende Position in den ökonomischen Prozessen der Gegenwart verdanken sie einer gesellschaftlichen Entwicklung, die durch nichts anderes als durch eine Refeudalisierung des modernen Kapitalismus gekennzeichnet ist. Damit ist keine Rückkehr zur Vergangenheit gemeint, sondern eine gesellschaftliche Dynamik der Gegenwart, in der sich die Modernisierung des Kapitalismus als Bruch mit den Prinzipien einer modernen Sozialordnung vollzieht. Im Zuge eines neoliberalen Umbaus von Wirtschaft und Gesellschaft lässt Refeudalisierung überwunden geglaubte vormoderne Rangordnungen heute wieder entstehen. Der Aufstieg der neuen Oligarchien ist dafür ein sichtbares Zeichen.


Sighard Neckel hat den Lehrstuhl für Gesellschaftsanalyse und Sozialer Wandel am Fachbereich Sozialwissenschaften - der Universität Hamburg inne. Zahlreiche Veröffentlichungen zur sozialen Ungleichheit, zum Finanzmarktkapitalismus und zur Refeudalisierung der modernen Gesellschaft.
sighard.neckel@wiso.uni-hamburg.de

*

Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 6/2016, S. 20 - 23
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von
Kurt Beck, Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka,
Thomas Meyer und Bascha Mika
Redaktion: c/o Friedrich-Ebert-Stiftung
Hiroshimastraße 17, 10785 Berlin
Telefon: 030/26 935-71 51, -52, -53, Telefax: 030/26935 9238
E-Mail: ng-fh@fes.de
Internet: www.ng-fh.de
 
Die NG/FH erscheint zehnmal im Jahr (Hefte 1+2 und 7+8 als Doppelheft)
Einzelheft: 5,50 Euro zzgl. Versand
Doppelheft: 10,80 Euro zzgl. Versand
Jahresabonnement: 50,60 Euro frei Haus


veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Juli 2016

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang