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FINANZEN/105: Genossenschaften - Sozialromantik oder reale Alternative zum Finanzkapitalismus? (spw)


spw - Ausgabe 5/2010 - Heft 180
Zeitschrift für Sozialistische Politik und Wirtschaft

Genossenschaften: Sozialromantik oder reale Alternative zum Finanzkapitalismus?

Von Walter Vogt


Der Shareholder Value erlebte - beflügelt durch die neoliberale Doktrin - seit den 1990er Jahren seinen Aufstieg als dominierender Maßstab für die Steuerung von Unternehmen und zur Messung von Geschäftserfolgen. Folge war die reine Orientierung an kurzfristigen Renditekennziffern zu Lasten eines langfristigen Unternehmenswachstums(1). Weil eine Vielzahl von selbst vom Shareholder Value getriebenen Banken das Spiel munter mitgemacht hat, mutierte dieser Shareholder-Kapitalismus in einen Finanzkapitalismus, dessen Scherben sich jetzt in einer Finanz- und Wirtschaftskrise globalen Ausmaßes zeigen. Langfristig offenbart die Shareholder-Orientierung eine Schwäche der Innovationskraft und damit einhergehend den Verlust der Wettbewerbsposition, was in hohem Maße den Fortbestand der Unternehmen gefährdet. Für die Beschäftigten heisst das: Erpressung, Zugeständnisse, Lohndruck, Rationalisierung und Abbau von Arbeitsplätzen.

Allerdings scheint derzeit ein schmales Zeitfenster für eine demokratischere Neuorientierung offen zu stehen. Dabei geraten auch Genossenschaften(2) wieder zunehmend ins Blickfeld. Kann die Rechtsform der eingetragenen Genossenschaft ein Modell für eine Unternehmensausrichtung im Interesse der Beschäftigten sein? Und inwieweit könnte ihre Renaissance im Rahmen eines wirtschaftsdemokratischen Gesamtkonzepts eine nachhaltige Rolle spielen?


Genossenschaftlicher Gedanke, genossenschaftliche Grundsätze

Der Genossenschaftsgedanke in Deutschland ist rund 150 Jahre alt. Die Befreiung der Bauern, aufkommende Gewerbefreiheit und die Aufhebung von Zoll- und Handelsschranken bei fortschreitender Industrialisierung führte in der zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts zur Verschärfung des Wettbewerbs und zu weiteren sozialen Brüchen in der Bevölkerung. War seinerzeit vorwiegend das Proletariat Leidtragender dieser Entwicklung, so sind es heute im wesentlichen die prekär Beschäftigten. Im Kern zeigen sich die Probleme von damals zu denen von heute kaum verändert:

• Um gegenüber der Großindustrie überhaupt konkurrenzfähig zu sein, müssen die Betriebe in ihr Produktivvermögen investieren. Dafür fehlt es aber gerade kleinen Betrieben an Eigenkapital.

• Fremdkapital ist aufgrund mangelnder persönlicher Bonität kaum zu erhalten, und wenn, dann nur zu überhöhten Zinsen.

• Der Wareneinsatz ist teuer. Preisvorteile können vom Einzelnen allein nicht ausgeschöpft werden.

• Zunehmende Landflucht trifft auf knappes Wohnungsangebot in den industriellen Ballungsräumen mit der Folge überbordender Mieten und weiterer Prekarisierung.

Entscheidend für die genossenschaftliche Entwicklung war, dass der Gedanke "Wie können wir uns selbst helfen?" von verantwortungsbewussten Personen(3) aufgegriffen und stetig weiterverfolgt wurde - allerdings ohne dem Staat hierbei eine entscheidende Rolle zukommen zu lassen!

Genossenschaften heute

Das Ziel von damals ist heute aktueller denn je, nämlich die Lösung von wirtschaftlichen und sozialen Problemen aus eigenem Antrieb und durch gemeinsames Handeln. Aber was ist davon geblieben? Lediglich im Bankenbereich und in der Wohnungswirtschaft gibt es bei uns noch wesentliches genossenschaftliches Eigentum. In Deutschland zählt man heute etwa 7.000 Genossenschaften mit rund 20 Millionen Mitgliedern. Das darf aber nicht darüber hinweg täuschen, dass alleine die Banken des genossenschaftlichen Finanzverbunds mehr als Dreiviertel aller Mitglieder ausweisen. Daneben stellen rund 3 Millionen Mitglieder in Wohnungsbaugenossenschaften einen weiteren wesentlichen Teil. Ehemals klassische genossenschaftliche Betätigungsfelder (beispielsweise in der Landwirtschaft, im Einkauf oder Absatz) haben im Laufe der Zeit an Bedeutung verloren oder ihr Betrieb wurde in anderen Rechtsformen fortgeführt.

War in den Anfangsjahren der Genossenschaftsgedanke rein auf Förderung der Mitglieder begrenzt, so hat sich dieser heute etwas überholt. In jüngerer Zeit trug dazu wesentlich die Reform des Genossenschaftsgesetzes im Jahr 2006 bei, in welcher passive "Nicht-Nutzer-Mitglieder" tendentiell gestärkt wurden. Denn Genossenschaften betreiben inzwischen häufig auch ein "Nicht-Mitglieder-Geschäft", wodurch aber die Identität von Mitglied und Geschäftspartner zunehmend verwässert wird. "Nicht-Mitglieder" - oder besser passive, nicht nutzende Mitglieder - unterhalten kaum (noch) Leistungskontakte zum genossenschaftlichen Geschäftsbetrieb, weil sie entweder rein kapitalverwertende Interessen zeigen oder ihre Bindungen an die Genossenschaft nach und nach eingestellt haben.

Eine weitere Neuerung der Reform war die Erweiterung möglicher Zielsetzungen auf soziale und kulturelle Zwecke. Ferner ist seit 2006 in der Europäischen Union auch die Rechtsform der Europäischen Genossenschaft möglich.

Identität wahren: Förderauftrag und "Member Value"

Beim weitaus überwiegenden Teil der deutschen Genossenschaften handelt es sich um Fördergenossenschaften, wobei viele Menschen heute zeitlebens (passive) Mitglieder einer Genossenschaft sind, dennoch keine "greifbare" Förderleistung erhalten (oder wenn, dann nicht sofort)(4). Was motiviert sie folglich zu einem Eintreten? Aus der Shareholder-Sicht ist das nicht zu verstehen, denn mit dem Beitritt ist regelmäßig ein sofortiger Zahlungsmittelabfluss (mindestens in Höhe der Pflichtanteile) verbunden. Und ob sich daraus ein künftiger Rückfluss einstellt ist unsicher, denn ein Anspruch auf Dividende oder Verzinsung des Anteils ergibt sich selbst bei wirtschaftlich erfolgreicher Geschäftstätigkeit der Genossenschaft per se nicht. Worin liegt also der Nutzen einer Mitgliedschaft?

Sieht man einmal vom genossenschaftlichen Finanzverbund und seinem großen Anteil am Nicht-Mitglieder-Geschäft (Zahlungsverkehr, Einlagengeschäft) ab, ist diese Frage nur mit dem genossenschaftlichen Grundgedanken zu beantworten. Es ist der Exklusivvorteil der Mitgliedschaft, dieser "Member Value", welcher ausschließlich den Mitgliedern zusteht, der in der Satzung verankert ist und der in diesen Grenzen in sich ändernden Rahmenbedingungen immer aufs Neue gefunden werden, und auf Akzeptanz stoßen muss. In der Genossenschaft steht das Mitglied mit seinen wirtschaftlichen Bedürfnissen klar im Mittelpunkt, abgegrenzt zur Förderung allgemeiner Interessen oder Begierden Dritter. Hier verbünden sich Gleichgesinnte zu einem gemeinsamen und solidarischen Handeln. Eine Geschäftsbeziehung mit (noch) passiven Mitglieder oder KundInnen kann dabei zunächst die Wettbewerbsposition der Genossenschaft verbessern helfen, muss aber, damit der Genossenschaftsgedanke nicht verwässert wird, ein Nebenzweck der Mitgliederförderung bleiben. Ziel muss sein, das Interesse an einer aktiven Mitgliedschaft aufzubauen, indem ihre Exklusivvorteile klar erkennbar herausgestellt werden. Das bedeutet einerseits strategisch, dass die Genossenschaft ihre Exklusivvorteile zur eigenen Profilbildung regelmäßig überprüfen muss, bedingt andererseits aber auch, dass wirtschaftlich ein auskömmliches "fördernotwendiges" Jahresergebnis erzielt wird, das wiederum die Grundlage für den Förderzweck stellt. Und das heißt nichts anderes, als dass ein Fördererfolg auch eine angemessene Gewinnerzielung voraussetzt!


Mitgliederorientierung vor Renditeinteressen

In der genossenschaftlichen Selbstverwaltung zeigt sich ihr Demokratieverständnis: Sie wird von den Mitgliedern in Eigenregie geführt, womit gegenseitige Solidarität und Einstehen für den Anderen ("Gemeinsam sind wir stark") verbunden sind. Dieser Grundgedanke widerspricht Profitmaximierung und Übervorteilung wirtschaftlich Schwächerer. Oder anders ausgedrückt: Die Genossenschaft funktioniert deshalb, weil niemand gierig ist!

Auch bei Abstimmungen sind alle Mitglieder gleichberechtigt, jedes Mitglied hat eine Stimme. Weitere wirtschaftsdemokratische Elemente sind:

• Die Mitglieder leiten ihre Genossenschaft eigenverantwortlich unter Beachtung der satzungsrechtlichen Beschränkungen (Vorstand, Paragraph 27 I GenG) und der Mitgliederförderung (Paragraph 1 GenG).

• Die Mitglieder kontrollieren ihre Genossenschaft
(Aufsichtsrat, Paragraph 36ff. GenG).

• Die Mitglieder besetzen ihre, vielfach ehrenamtlich tätigen, Organe aus ihren eigenen Reihen (Selbstorganschaft, Paragraph 9 II GenG) unter Wahrung strikter Ämtertrennung (Paragraph 37 I GenG).

• Die Mitglieder bestimmen die Leitlinien der Ausrichtung ihrer Genossenschaft ("Unternehmenspolitik"), stellen den Jahresabschluss fest und beschließen über die Gewinnverwendung (Mitglieder-, bzw. Vertreterversammlung als höchstes Willensbildungsorgan, Paragraph 48 I GenG).

Kapitalbeteiligung, Willensbildung und Kontrolle sind damit die wesentlichen Elemente demokratischer Ausrichtung. Daneben sichern lange Kündigungsfristen den Zusammenhalt und unterbinden Spekulation von Anfang an.

Stabiler Kapitalerhalt anstelle eines anonymen und fungiblen Kapitalverkehrs

Die Mitgliedschaft in einer Genossenschaft ist freiwillig und nach oben hin offen(5), insofern ist auch das Beteiligungskapital (Geschäftsguthaben) variabel. Genossenschaften müssen zwingend Rücklagen bilden. Sie dienen als kollektiver und stabiler Eigenkapitalbestandteil der Verfolgung des Gesellschaftszwecks. Die Auszahlung einer Dividende sowie die Verzinsung des Geschäftsguthabens werden oftmals nicht vorgenommen, denn thesaurierte Jahresüberschüsse, bzw. wesentliche Bestandteile davon, stärken die Haftungsmasse für Krisenzeiten und wirken zudem nutzerfreundlich: Mitglieder werden nicht als anonyme Shareholder gesehen, sondern als Kunden, welche genossenschaftliche Leistungen in Anspruch nehmen. Das Streben nach Maximalrenditen ist also ganz und gar nicht genossenschaftlich, würde es doch die Exklusivrechte ihrer Mitglieder beschneiden. Vielmehr gilt es in der strategischen Ausrichtung, die noch "inaktiven" Nicht-NutzerInnen zu aktiven Mitgliedern zu machen, um diese ebenfalls in den Genuss von Exklusivrechten gelangen zu lassen. Erfolg im genossenschaftlichen Sinne misst sich also gerade nicht an Renditekennzahlen sondern vielmehr an der Erfüllung des jeweiligen Förderauftrags - und damit an der Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Lage der Mitglieder.

Auch für Genossenschaften steigt der Kapitalbedarf in Abhängigkeit davon, wie und in welchem Umfang Wachstum generiert werden soll. Und da die Rechtsform für klassische Investoren unattraktiv ist, müssen zur Finanzierung Wege gefunden werden, ohne genossenschaftliche Grundsätze und Fördergedanken zu verlassen. Kritisch wird es dann, wenn die Ausrichtung auf die Mitgliederförderung verloren geht und das "Nicht-Mitgliedergeschäft" in den Vordergrund tritt. Genossenschaften sind nicht für die Allgemeinheit da, sondern zum Wohle ihrer Mitglieder! Die Geschäftsführung durch den Vorstand ist dabei geprägt von günstiger Positionierung der Genossenschaft im Haifischbecken Wettbewerb bei gleichzeitiger Wahrung genossenschaftlicher Identität und im Sinne der Förderung des Wohls ihrer Eigner (= Mitglieder).

Regionaler Bezug

Die regionale Verwurzelung von Genossenschaften bildet die Grundlage für ihren abgegrenzten, überschaubaren Geschäftszweck und schaltet nicht erkennbare Risiken von vornherein aus. Die daraus resultierenden Transaktionskostenvorteile stellen eine wichtige Ressource dar. Genossenschaften wirken als Stabilisator der regionalen Wirtschaft, binden Arbeitsplätze und fördern die lokale Entwicklung.

Ein solides Geschäftsmodell schützt dabei die Mitglieder auch in Krisenzeiten: Wohnungsgenossenschaften bieten Schutz vor feindlichen Übernahmen oder Wohnungsprivatisierung durch Investoren oder Heuschrecken. Banken des genossenschaftlichen Verbunds kamen weitaus besser aus der aktuellen Krise als andere Institute und besinnen sich, trotz schwacher Margen, auch weiterhin aktiv ihrer Finanzierungsfunktion für den regionalen Mittelstand.

Prüfung durch einen Verband

Die Kontrolltätigkeit des Aufsichtsrats wird durch Prüfungen, die exklusiv von einem genossenschaftlichen Prüfungsverband vorgenommen werden, unterstützt. Jede Genossenschaft muss als Pflichtmitglied einem Verband, dem das Prüfungsrecht verliehen ist, angehören. Bestandteil der genossenschaftlichen Pflichtprüfung sind nicht nur Rechnungswesen und Jahresabschluss, sondern auch die formelle und materielle Ordnungsmäßigkeit der Geschäftsführung (und damit unter Gläubigerschutzgesichtspunkten auch die Prüfung des Förderauftrags). Weitere Aufgabe der Verbände ist es, ihre angeschlossenen Genossenschaften in rechtlichen, steuerlichen und betriebswirtschaftlichen Fragen zu beraten und zu betreuen. In Summe stützt dies die offene und transparente Unternehmensführung im Interesse der Mitglieder.


Neue Herausforderungen für Genossenschaften: Kooperation und Multiplikation

In einem globalisierten Wettbewerbsumfeld müssen sich auch Genossenschaften neuen Trends stellen, ohne dabei ihre Stärken zu verspielen. Das kann durch vermehrte Kooperationen wie beispielsweise lnteressenzusammenschlüssen, Allianzen, Netzwerken oder Joint Ventures geschehen, indem der Gedanke "Gemeinsam sind wir stark" in "Gemeinsam sind wir noch stärker" erweitert wird. Kraft Auftrag leben Genossenschaften diesen Kooperationsgedanken durch die "Hilfe zur Selbsthilfe" bereits in ihrem Innenverhältnis. Im Verbund mit anderen Genossenschaften gilt es um so mehr, durch die Bündelung unternehmensübergreifender Kräfte entsprechende Vorteile zum Wohle aller Mitglieder zu erreichen, und sich damit gegenüber einem kapitalistisch-egoistisch geprägten Wettbewerbsumfeld ausreichend Handlungsstärke zu bewahren. Das heißt im Endeffekt betriebswirtschaftlich nichts anderes als die bestehenden Wettbewerbsvorteile auszubauen, zumindest aber zu erhalten. Im Verbund können den Mitgliedern dann neue Vorteile zuteile werden.

Förderleistung und Member Value sind die wesentlichen Wettbewerbsvorteile von Genossenschaften, mit denen sie sich auf ihren Märkten positionieren und sich gegenüber anderen Rechtsformen abgrenzen. Wenn diese Vorteile verwässert werden, verliert das Genossenschaftsmodell schnell seinen Alleinstellungscharakter. Genossenschaften stehen in Geschäftsbeziehung und Konkurrenz mit Unternehmen anderer Rechtsform. Insofern kommt es darauf an, diese Vorzüge zu bewahren und auszubauen. Kritisch muss aber konstatiert werden, dass sich auch Genossenschaften heute oft nicht mehr dem Trend zum Größenwachstum entziehen können und als erwerbswirtschaftliche Unternehmen versuchen, mit ihrem Geschäftsmodell auch solche Wettbewerbsvorteile zu generieren, die mittels internen Wachstums allein nicht mehr realisiert werden können. Sie unterscheiden sich damit nicht von ihren Wettbewerbern anderer Rechtsform. Vielfach können nur durch Konzentrationsprozesse ("Wachstum durch Fusion") Synergien gehoben werden, was auf der anderen Seite aber die Gefahr der Entfremdung der Mitglieder birgt. Diese Entfremdung vom Förderzweck stellt die größte Gefahr des Genossenschaftsmodells dar. Insofern ist eine aktive Mitgliederentwicklung der Kernpunkt einer jeden genossenschaftlichen Geschäftsführung, welche es offensiv zu entwicklen und kommunizieren gilt.

Gesellschaftliche Wirksamkeit entfalten Genossenschaften immer dann, wenn sie ihre Selbstdarstellung fördern und ihre Werte und Leistungsfähigkeit überzeugend am Markt präsentieren. Ziel muss sein, Vertrauen herzustellen und ein positives Image aufzubauen. Über die Darstellung gesellschaftsnützlicher Aufgaben kann ein positives Umfeld für Genossenschaften erzeugt werden mit dem Ziel, im Zusammenschluss von Gleichgesinnten auch in neue Geschäftsfelder und alternative Bereiche vorzustoßen. Diese könnten beispielsweise liegen:(6)

• In bisher kommunal geprägten Aufgaben wie der Übernahme von kulturellen oder sportlichen Aufgaben (wie dem Betrieb von Schwimmbädern oder Wiederbelebung von ländlicher Infrastruktur durch den Betrieb von Lebensmittelläden).

• In sozialen oder ökologischen Projekten wie Mehr-Generationen-Wohnen oder in der Übernahme sozialer Dienstleistungen in gemeinsamen Verbund.

• Im Bereich der Energietechnik durch Koordination von Marketing und Lobbyarbeit für die Mitglieder und der Generierung von Einkaufsvorteilen (zum Beispiel im Bereich alternativ regenerativer Energieträger oder, gerade auf oligopolistisch geprägten Märkten, durch den eigenen Betrieb von Anlagen zur Energiegewinnung wie Wind- oder Heizkraftwerken).

• Im freiberuflichen Sektor durch Zusammenschluss von Ärzten, um dadurch als mächtigerer Verhandlungspartner im Pharmageschäft wahrgenommen zu werden oder um neue Leistungen in Eigenregie am Markt anbieten zu können.

• Im Handwerk durch den Aufbau genossenschaftlicher Kooperationsstrukturen als Gegenmacht zu Großunternehmen. Viele Handwerksbetriebe sind auf Dauer zu klein, um sich am Markt eigenständig behaupten zu können. Gleichzeitig könnten solche Kooperationen auch zum Gütesiegel werden, und damit ein Wettbewerbsvorteil sein.

Diese Praxisbeispiele zeigen: Genossenschaftsgründungen entstehen vielfach im Rahmen von Bürgerinitiativen unter Bündelung der unterschiedlichsten Fachkompetenzen aus den Reihen der Verantwortung zeigenden Personen. Und dass Genossenschaften aus kleinsten Anfängen heraus auch zum Marktführer werden können beweist die Datev: 1966 von 65 Steuerberatern mit dem Ziel gemeinsamer, damals noch in Kinderschuhen steckender, EDV-Nutzung gegründet, ist sie heute als Genossenschaft eines der größten Softwarehäuser Europas(7).

Von der Förder- zur Produktivgenossenschaft: Die Genossenschaft als eine Form der Belegschaftsinitiative.

In fortgeschrittenen Stadien einer Unternehmenskrise ist die Frage der Gewinnung neuer Finanzspielräume vorrangige Aufgabe zur Sicherung von Unternehmen und Beschäftigung. Bei unklarem Unternehmenskonzept verweigern Banken die weitere Finanzierung. Wenn auf Gesellschafterebene eine Liquiditätszufuhr unmöglich ist, wird die Insolvenz unvermeidbar(8).

Zur Restrukturierung im Sinne der Beschäftigten im Rahmen eines Buy Outs kann die Rechtsform der Genossenschaft eine mögliche Form darstellen. Der Gedanke der Fördergenossenschaft wird hier zur Produktivgenossenschaft weiter entwickelt.(9) Die Mitglieder werden in die Genossenschaft so weit integriert, dass sie zugleich ArbeitnehmerInnen und ArbeitgeberInnen sind (Mitgliederförderung wäre demnach die Bereitstellung des Arbeitsplatzes und Entlohnung). Zugegeben: Eine Realisation dieses Gedankens ist schwierig und stellt hohe Anforderungen. In der Praxis werden, wenn es überhaupt zur Gründung von Mitarbeitergesellschaften kommt, diese meist als GmbH ausgestaltet. Ergebnis ist häufig, dass diese mittelfristig wieder ausbluten, da die Beschäftigten ihre Anteile über kurz oder lang veräußern. Arbeitsplatzwechsel, Tod oder finanzielle Gründe sind die Hauptursachen. Selbst wenn ein Turn-Around geschafft werden kann, ist die sanierte GmbH mit ihrer vielschichtigen Gesellschaftsstruktur und den oft inhomogenen Gesellschafterinteressen ein Zielobjekt für neue, vom Shareholder Value getriebene Investoren. Um dies zu vermeiden ist die Rechtsform der Genossenschaft eine überlegenswerte Alternative. Dazu bedarf es, unter fachlicher Mithilfe externer Beratung, der Erstellung eines tragfähigen und belastbaren Unternehmenskonzepts in der Belegschaft und einer Durchsetzung dieses Konzepts bei den Banken. Neben der Aufbringung von Eigenkapital durch die Beschäftigten sind als weitere unabdingbare Voraussetzungen die Verpflichtung auf die genossenschaftlichen Grundsätze und die Bereitschaft zur unbedingten Kooperation zu nennen. Gelingt dies, werden die Mitglieder durch transparente und demokratische Strukturen belohnt. Mitarbeiterbeteiligung beschränkt sich dann nicht mehr nur auf Teilhabe am Kapital und Erfolg, sondern auch an demokratischer Unternehmensmitbestimmung und echter Partizipation an der Willensbildung.


Genossenschaftliche Perspektiven

1.
Das altmodische Image von Genossenschaften als angestaubte Einrichtung von SparerInnen, MieterInnen oder Landwirten bekommt im Zuge des Finanzkapitalismus einen neuen Stellenwert. Eine Repolitisierung der Debatte lohnt und ist fruchtbar wenn es gelingt, weitere Multiplikatoren für den Genossenschaftsgedanken zu gewinnen. Gewerkschaften mit ihrem Mitgliederpotential können dabei eine aktive Rolle einnehmen und neben ihrer kritischen Haltung zum Mainstream des Shareholder Value parallel den Genossenschaftsgedanken positiv besetzen. Selbstverständlich kommt dabei den am Markt etablierten Genossenschaften und ihren Verbänden durch mediale Profilierung, Networking und Lobbyarbeit die Hauptrolle zu.

2.
In einem positiv besetzten Umfeld können genossenschaftliche Zusammenschlüsse aus eigenem Antrieb entstehen, wobei Neugründungen, so zeigt die Praxis, zunehmend auch außerhalb der traditionellen Bereiche denkbar und möglich sind. Gelingen kann das mit viel Engagement, Idealismus, Kreativität und der Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen. Die genossenschaftlichen Verbände müssen mit ihren Beratungs- und weiteren Leistungen diese Fortentwicklung zielbezogen flankieren.

3.
Genossenschaften sind als Unternehmensform des privaten Rechts auf die dauerhafte Teilnahme am wirtschaftlichen Verkehr ausgerichtet. Derweil gestalten sich die Spielregeln von Markt und Wettbewerb auch für sie zunehmend rauher. Dabei sind die Wettbewerbsvorteile von Genossenschaften nicht die schlechtesten. Die am Markt etablierten Genossenschaften müssen sich dem Wettbewerb durch Ausbau ihrer Vorteile selbstbewusst stellen. Anpassungen sind dabei vielfach unumgänglich, dürfen sich aber nicht in einer langfristigen Schwächung des Genossenschaftsgedankens auswirken und zu einem Profilverlust führen.

4.
Das Leitbild der Genossenschaft bietet eine Richtlinie für solidarisches und wirtschaftsdemokratisches Handeln. Das bedeutet nicht, dass sie zwangsläufig linke Positionen vertreten, sondern dass sie für eine Alternative zum kurzfristigen Shareholder- und Finanzkapitalismus zu sehen sind. Damit stellen Genossenschaften keineswegs ein Auslaufmodell dar, sondern sind heute zeitgemäßer denn je.

Walter Vogt ist politischer Sekretär beim Vorstand der IG Metall, Ressort Betriebswirtschaft; daneben ist er Aufsichtsratsmitglied in einer Wohnungsbaugenossenschaft. Er gibt seine persönliche Meinung wider.


ANMERKUNGEN

(1) Das Buy Out-Modell von Finanzinvestoren ist letztlich Ausfluss aus dem nimmersatten Shareholder-Denken: Oft wird die Rendite unter Einsatz von Fremdkapital noch "gehebelt", d.h. dem Unternehmen Eigenkapital mittels (Sonder)Ausschüttungen entzogen und dieses durch Fremdkapital substituiert.

(2) Gemeint sind in den weiteren Ausführungen die Unternehmen in Rechtsform der eingetragenen Genossenschaft (e. G.)

(3) Insbesondere Hermann Schulze-Delitzsch, Friedrich Wilhelm Raiffeisen und Victor Aimé Huber

(4) z.B. Beitritt in eine Wohnungsgenossenschaft: Nutzungsanwartschaft ohne sofortigen Anspruch auf Überlassung einer Wohnung

(5) Die Mitgliedschaft ist in einer Fördergenossenschaft nicht gedeckelt, sie kann durch Gründung, durch spätere Aufnahme oder auch im Rahmen einer Fusion mit einer anderen Genossenschaft erfolgen

(6) Siehe DGRV, Deutscher Genossenschafts- und Raiffeisenverband e.V. unter www.neuegenossenschaften.de

(7) http.//www.datev.de/portal/ShowPage.do?pid=dpi&nid 302,
Zahlen 2009: 39.625 Mitglieder, 5.738 Beschäftigte, Umsatzerlöse 672,4 Mio. Euro

(8) Vgl. zur Finanzierungssituation der Realwirtschaft IG Metall Wirtschaftspolitische Informationen 02/2010 unter
http://www.igmetall,de/cps/rde/xbcr/internet/02_2010_Finanzierungssituation_0158973.pdf

(9) Auch Vollgenossenschaft, da sie die Mitglieder voll eingliedert. Diese Reinform ist in der deutschen Genossenschaftslandschaft (noch) sehr (zu!) selten


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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 5/2010, Heft 180, Seite 47-53
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Januar 2011