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FORSCHUNG/653: Ökologisches Investitionsprogramm kann Arbeitslosigkeit reduzieren (idw)


Hans-Böckler-Stiftung - 26.10.2009

Neue Studie
Ökologisches Investitionsprogramm kann Arbeitslosigkeit vor 2020 unter zwei Millionen reduzieren


Deutsche Unternehmen und Anleger haben in den vergangenen Jahrzehnten immer weniger Geld in die Erneuerung der Wirtschaft investiert und sich stattdessen vermehrt auf den Finanzmärkten engagiert. Die aktuelle Krise hat dieses Modell massiv erschüttert. Sie birgt für Deutschland aber auch die Chance, mit Investitionen in grüne Technologien die Globalisierung positiv zu gestalten: indem die deutsche Wirtschaft fit wird für die globalen Märkte der Zukunft, und indem zugleich der Weg zur Lösung des globalen Klimaproblems eingeschlagen wird. Ein konsequenter Umbau der Produktionsstrukturen in Richtung Energie- und Ressourceneffizienz, Umwelttechnologien und Klimaschutz kann das durchschnittliche reale Wirtschaftswachstum der Bundesrepublik im kommenden Jahrzehnt auf deutlich mehr als zwei Prozent pro Jahr erhöhen. Dagegen ist bei einem Festhalten am bisherigen Wirtschaftsmodell lediglich eine schleppende wirtschaftliche Erholung mit einem durchschnittlichen Wachstum von jährlich kaum mehr als einem Prozent zu erwarten. Durch ein entschlossenes Umsteuern kann die Arbeitslosigkeit noch vor 2020 auf knapp zwei Millionen reduziert werden. Zu diesen Ergebnissen kommen Forscher des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK), des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW) und des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) in der Hans-Böckler-Stiftung in einer neuen Studie.

Voraussetzung für einen erfolgreichen Strategiewechsel ist ein nachhaltiger Investitionsschub, der bereits im kommenden Jahr ansetzen sollte. Da Investitionen in Deutschland im Wesentlichen aus Vermögenseinkommen finanziert werden, halten es die Forscher für entscheidend, dass Vermögenseinkommen durch geeignete Anreize wieder vermehrt in unternehmerische Investitionen fließen. Sie plädieren für einen mittelfristig aufkommensneutralen Umbau des Steuersystems, der unternehmerische Investitionen steuerlich entlastet und zugleich anderweitig verwendete Vermögenseinkommen belastet.

Ein nachhaltiger Investitionsschub kann in den Jahren 2010 bis 2013 die privaten jährlichen Bruttoinvestitionen um insgesamt rund 70 Mrd. Euro, die staatlichen jährlichen Bruttoinvestitionen um insgesamt rund 30 Mrd. Euro steigern, schreiben die Wissenschaftler in ihrer Untersuchung, die vom European Climate Forum koordiniert und vom Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit in Auftrag gegeben wurde.

"Es besteht die Tendenz, die globale Finanzkrise als bloßen Betriebsunfall zu betrachten, aus dem es nicht viel mehr zu lernen gibt, als dass die Finanzmärkte ein paar zusätzliche Regulierungen brauchen, während auf den übrigen Märkten die Lobbies alter Industrien im Namen des Beschäftigungsschutzes vermehrtes Gehör finden", sagte Prof. Dr. Carlo Jaeger vom PIK bei der Vorstellung der Studie am heutigen Montag. Eine Strategie des "Weiter so" bedeute jedoch eine Unterhöhlung der sozialen Marktwirtschaft und eine Fortsetzung der Massenarbeitslosigkeit. Denn bei dieser Strategie dürfte das Pro-Kopf-Einkommen im kommenden Jahrzehnt um wenig mehr als 1 Prozent pro Jahr steigen, während der Produktivitätsfortschritt um die 1,5 Prozent betragen dürfte. Die sinkende Bevölkerungszahl und der wachsende Anteil der Senioren machten das Problem nicht einfacher, sondern ernster.

Eine Strategie des "Weiter so" stelle in jeder der drei Dimensionen der Nachhaltigkeit eine Fehlentwicklung dar, warnen die Wissenschaftler von PIK, IMK und IfW:

ökologisch: weil die Innovationen und der Strukturwandel, die für den Schutz regionaler Landschaften und des globalen Klimas erforderlich wären, bei schleppender wirtschaftlicher Entwicklung nicht zustande komme

sozial: weil sich die Schere zwischen neuen und alten Bundesländern weiter öffne, und weil ein großer Teil der Jugend in prekäre Existenzen am Rand der Gesellschaft hineinwachse

ökonomisch: weil Deutschland seine historischen Standortvorteile verspiele, wenn es nicht neue Industrien und Dienstleistungsbereiche entwickelt.

Die Krise hat nach der Analyse der Wissenschaftler für Deutschland besonders gravierende Konsequenzen, weil es in den vergangenen Jahrzehnten von einem Hoch- zu einem Niedriginvestitionsland geworden ist. Trotz steigender Vermögenseinkommen sank die Investitionsquote stetig. Von einem Spitzenplatz im Jahr 1970 rutschte die deutsche Wirtschaft mit einer Bruttoinvestitionsquote von 18,2 Prozent unter den OECD-Durchschnitt (vgl. Abbildung 6 in der Studie; Angaben zum Download stehen am Ende der Presserklärung). Diese Entwicklung ist bedenklich, warnen die Autoren, denn sie führt zu sinkenden Wachstumsraten, zu andauernder Massenarbeitslosigkeit und zu einem sukzessive veraltenden Kapitalstock.

Auch viele Auslandsengagements waren nicht besonders produktiv, zeigt die ökonomische Feinanalyse: Bis zum Ausbruch der Finanzkrise sind deutsche Vermögenseinkommen zunehmend ins Ausland geflossen, und dort nicht etwa vorwiegend in Unternehmen, sondern in staatliche Schuldscheine und andere Finanzanlagen. "Diese Entwicklung hat sich vollzogen, obwohl der Anteil der Gewinne am Sozialprodukt gestiegen ist und die Investitionsrenditen in Deutschland keineswegs niedriger sind als in vergleichbaren Ländern", sagt Prof. Dr. Gustav A. Horn, wissenschaftlicher Direktor des IMK. "Mittlerweile zeigen sich ihre gesamtwirtschaftlich verhängnisvollen Folgen ganz deutlich. Zugleich hat die Orientierung an Exportüberschüssen die Idee der sozialen Marktwirtschaft mit den schleichenden Risiken interner und externer Interessenskonflikte belastet."

Vor diesem Hintergrund entwirft die Studie eine Strategie der nachhaltigen Entwicklung für Deutschland. Sie beruht auf folgenden Elementen:

Kurzfristig ist eine Stimulierung der Binnennachfrage durch Inkaufnahme höherer Defizite, also staatliches Deficit-Spending sinnvoll. Wie die Clinton-Administration gezeigt hat, kann auch ein großes Budgetdefizit in wenigen Jahren abgebaut werden, indem die strukturellen Staatsausgaben weniger schnell wachsen als die Wirtschaft.

Internationale Koordination, insbesondere im Rahmen der EU, ist ein absolutes Muss: Die weitere Forcierung deutscher Exportüberschüsse wird den Euro-Raum in Schwierigkeiten führen, ohne dass Deutschland das Regime der Massenarbeitslosigkeit verlassen würde. Dabei geht es nicht um Reduktion der deutschen Exporte, sondern um Steigerung der deutschen Importe mit entsprechenden Wohlstandsgewinnen für die Bevölkerung.

Die effektive Nachfrage ist insbesondere durch weitere Anreize zur energetischen Gebäudesanierung zu steigern. Derzeit wird pro Jahr nur etwa ein Prozent aller Gebäude energetisch saniert. Stiege diese Quote auf das Dreifache, könnte dies Investitionen in der Bauwirtschaft, Anlagentechnik und der erneuerbaren Wärmeerzeugung auslösen - und damit mehr Beschäftigung.

Stromnetze, Gas- und Fernwärme sollten ökologisch umgebaut werden, erneuerbare Energien stärker zum Einsatz kommen, raten die Forscher - all das idealerweise im Rahmen einer langfristigen europäischen Energiestrategie. Diese könnte es beispielsweise ermöglichen, in großem Maßstab Solarenergie aus Südeuropa und Nordafrika zu nutzen. Für mehr Gütertransport per Bahn empfehlen die Wissenschaftler, Engpassstellen im Schienennetz zu beseitigen. Vielerorts sind Investitionen in die zum Teil bereits über 100 Jahre alte Kanalisation notwendig.

Regionale Cluster im Bereich der nachhaltigen Energieproduktion sind einer der wichtigsten Ansatzpunkte für zukunftsfähige Industrien in Deutschland. Davon würden auch Zukunftsentwicklungen in der Automobilindustrie profitieren: Eine Optimierung der bestehenden Antriebe, aber auch die Entwicklung der Elektromobilität.

An den Finanzmärkten ist ein Finanz-TÜV angezeigt (wie er in Chile erfolgreich praktiziert wird). Finanz-Produkte werden nur zugelassen, wenn sie für den Finanz-TÜV transparent sind und keine systemischen Risiken erwarten lassen. Systemische Finanzrisiken sind zusätzlich durch geringfügige Transaktionssteuern zu reduzieren, die spekulative Transaktionen im Sekundenbereich verteuern.

Der Finanz-TÜV kann Instrumente für nachhaltige Geldanlagen zertifizieren und es dadurch privaten Investoren leichter machen, ihr Geld entsprechend anzulegen. Zusätzlich sind finanzielle Anreize für nachhaltige Investitionen angezeigt.

Die Forscher skizzieren in ihrer Untersuchung auch einen detaillierten Fahrplan für den angestrebten wirtschaftlichen Kurswechsel. Er benennt die vordringlichen Maßnahmen für den Zeitraum 2009 bis 2011. Zudem spielen sie verschiedene alternative Szenarien für die Entwicklung der globalen Wirtschaft durch. Mit ihrer Hilfe kann das ökologische Investitionsprogramm flexibel an sich verändernde Situationen angepasst werden.

Der Schlussbericht der Studie "Wege aus der Wachstumskrise" kann auf http://www.European-Climate-Forum.net heruntergeladen werden.

Die wissenschaftlichen Grundlagen der Studien sind Thema der Tagung "Beyond the Financial Crisis - Globalization at the Crossroads", die am 5./6. November im Hilton Hotel am Gendarmenmarkt stattfindet. Anmeldungen sind auf derselben Website möglich.

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
http://idw-online.de/pages/de/institution621


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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Hans-Böckler-Stiftung, Rainer Jung, 26.10.2009
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Oktober 2009