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FRAGEN/019: Jutta Allmendinger - Gute Arbeit ist viel mehr als bezahlte Erwerbsarbeit (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 4/2013

Gute Arbeit ist viel mehr als bezahlte Erwerbsarbeit

Gespräch mit Jutta Allmendinger



Jutta Allmendinger, Soziologin und Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung, hat sich in ihren früheren Arbeiten vorrangig damit auseinandergesetzt, wie Bildung, Arbeitsmarkt und Wohlfahrtsstaat die Lebensverläufe der Menschen prägen, und viel zur Ungleichheit der Geschlechter geforscht. Seit einiger Zeit widmet sie sich der Bildungssoziologie. Im Gespräch mit der NG/FH erläutert sie u.a., was sie unter »guter Arbeit« versteht und wie man der Prekarisierung der Arbeitswelt entgegenwirken kann. Die Fragen stellte Thomas Meyer.


NG/FH: Was genau bedeutet »gute Arbeit« in einer fortgeschrittenen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft wie der unsrigen? Lassen sich alle Arbeitsverhältnisse hierzulande im Sinne einer »guten Arbeit« gestalten? Und ist gute Arbeit für alle in einem überschaubaren Zeitraum erreichbar?

Jutta Allmendinger: Fragen nach der »guten Arbeit« zielen meistens auf bezahlte Erwerbsarbeit. Ich würde gern breiter ansetzen. Ein gelingendes Miteinander von bezahlter und unbezahlter Arbeit ist für mich die wichtigste Voraussetzung guter Arbeit. Nur im Licht des gesamten Lebens erweist sich, was gute Erwerbsarbeit ist. Was nutzt mir die beste Bezahlung, der unbefristete Arbeitsvertrag und das angenehme Arbeitsumfeld, wenn ich für all dies auf Partnerschaft, Kinder, auf Nähe zu Eltern und Freunden, auf Kultur und Gemeinschaft verzichten muss? Gute Arbeit heißt für mich, tätig sein zu können, ohne sich der Erwerbsarbeit völlig hingeben zu müssen. Eine gute Erwerbsarbeit wiederum beinhaltet sozialversicherte Arbeitsverträge, ein Einkommen, von dem man leben kann, Planungssicherheit, über den Lebensverlauf gestaltbare Arbeitszeiten und ein die Gesundheit erhaltendes Arbeitsumfeld.

Sozialversicherung, Mindestlohn und Planungssicherheit müssen Bestandteil aller Arbeitsverhältnisse sein. Auch dann werden sich die unterschiedlichen Formen von Erwerbsarbeit noch sehr voneinander unterscheiden: in den Qualifikationsvoraussetzungen, im sozialen Status, in den Einkommen, in den Aufstiegschancen, in der Mitbestimmung, in der Autonomie. Für mich ist aber entscheidend, dass wir unsere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nach unten absichern. Bei entsprechendem politischen und unternehmerischen Willen kann das schnell gelingen.

NG/FH: In Deutschland arbeiten gegenwärtig fast zehn Millionen Menschen in befristeten Arbeitsverhältnissen, Leiharbeit oder Minijobs. Eine zunehmende Zahl an Werkverträgen ermöglicht faktisch »Lohndumping«. Der Niedriglohnsektor umfasst acht Millionen Beschäftigte. Man kann also von einer Prekarisierung der Arbeitswelt sprechen. Was müsste eine wirksame Beschäftigungspolitik unternehmen, um sich dem Ziel »gute Arbeit für alle« möglichst rasch anzunähern? Was kann der Gesetzgeber tun, um der Prekarisierung der Arbeitswelt und damit der Spaltung der Gesellschaft entgegenzuwirken?

Allmendinger: Das Ausmaß prekärer Beschäftigung in Deutschland hat im Laufe der Jahre zugenommen, das ist richtig. Aber das Bild ist nicht so eindeutig, wenn man auch hier den Arbeitsbegriff breit fasst. Heute sind mehr Frauen erwerbstätig und haben ein eigenes Einkommen. Ja, viele dieser Frauen arbeiten Teilzeit, viele sind nur geringfügig beschäftigt und beziehen einen sehr niedrigen Lohn. Aber als Hausfrauen waren Frauen früher häufig auch »prekär«. So waren sie meist vom Einkommen des Mannes abhängig und standen oft vor dem Nichts, wenn dieser Unterhalt wegfiel.

Doch zurück zu Ihrer Frage: Um prekäre Beschäftigung zu bekämpfen, muss früh, also schon in den Schulen angesetzt werden. Durch gute vorschulische und schulische Bildung - und damit meine ich nicht nur die auf die Erwerbsarbeit hin orientierte Ausbildung - muss der Anteil von Menschen mit geringer Bildung verkleinert werden.

Erst Bildung befähigt die Menschen, an der Gesellschaft und am Erwerbsarbeitsleben teilzuhaben. Ich verweise hier auf den Bericht des Fortschrittsforums der Friedrich-Ebert-Stiftung, der den Befähigungsansatz in den Mittelpunkt seiner Ausführungen zum guten Leben stellt.

Des Weiteren sind Mindestlöhne eine Voraussetzung für »gute Arbeit«. Um gezielt gegen den Niedriglohnbereich vorzugehen, müssen dann aber die einzelnen Formen von prekärer Arbeit unterschieden werden, da sie unterschiedliche Antworten verlangen. So werden immer mehr befristete Arbeitsverträge abgeschlossen, inzwischen betrifft das rund die Hälfte aller Einstellungen. Das ist für viele Beschäftigte »prekär«, weil es Abhängigkeit und Unsicherheit mit sich bringt. Immer mehr Menschen schaffen den Sprung in eine unbefristete Beschäftigung nicht, denn auch der Anteil der befristet Beschäftigten an der Gesamtzahl der Beschäftigten ist mit gut einem Zehntel heute höher als früher.

Diese Entwicklung kann gebremst werden, wenn man die Möglichkeit wiederholter Befristungen einschränkt. Tatsächlich wurden sachgrundlose Befristungen in den letzten Jahren aber ausgebaut. Befristungen sind auch dann eher zu ertragen, wenn man darauf vertrauen kann, bald wieder eine gesicherte Beschäftigung zu finden und bis dahin bedarfsgerechte Transferzahlungen erhält. Verlässliche Perspektiven sind hier das Stichwort. Bei der Zeitarbeit als prekärer Beschäftigung hat man durch die tarifvertraglichen Regelungen schon Fortschritte erzielt. Große Probleme sehe ich bei den Werkverträgen. Hier müssen Gesetzgeber und Tarifpartner klare Regeln ausarbeiten und Grenzen setzen. Zusammenfassend sind also präventive und therapierende Ansätze gleichermaßen nötig und möglich. Wir müssen vermeiden, dass Menschen in den Niedriglohnbereich hineinrutschen. Und es sind die Wege aus der Niedriglohnbeschäftigung heraus zu ebnen.

NG/FH: Hat die Beschäftigung im öffentlichen Dienst eine Art Vorbildfunktion für gute, gesicherte Arbeit?

Allmendinger: Im öffentlichen Dienst gibt es in der Tat weniger Befristungen und eine geringere Spreizung der Einkommen im Vergleich zur Privatwirtschaft. Insofern hat er schon eine Vorbildfunktion. Allerdings müssen wir bedenken, dass der öffentliche Dienst nicht so sehr von konjunkturellen Einflüssen und vom internationalen Wettbewerb beeinflusst wird, wie es in weiten Teilen der privaten Wirtschaft der Fall ist.

Doch auch im öffentlichen Sektor ist bei Weitem noch nicht alles erreicht. Den Beschäftigten wird viel zu wenig Weiterbildung angeboten, Frauen in Führungspositionen findet man kaum. Auch die Besserstellung von Beamten gegenüber Angestellten ist oft nicht zu rechtfertigen. In vielen Bereichen könnte man Verbeamtungen abschaffen oder einschränken.

NG/FH: Viele Befunde aus der letzten Zeit geben über die Schattenseiten der Rund-um-die-Uhr-Arbeitsgesellschaft Auskunft: Zunahme an psychischen Erkrankungen, erschöpfungsbedingte Ausfallzeiten, alltägliche Kämpfe um Teilhabe und Anerkennung für geleistete Arbeit usw. Die Mehrheit der Beschäftigten erlebt Arbeitsbedingungen, die zum vorzeitigen Gesundheitsverschleiß führen.Was kann dagegen getan werden, wer ist hier in der Pflicht: Arbeitgeber, Gewerkschaften, der Gesetzgeber?

Allmendinger: Wir haben uns viel zu lange vor der Frage gedrückt, wie wir eine Arbeitswelt gestalten, in der mehr und mehr erwerbsfähige Menschen auch tatsächlich erwerbstätig sind. Das Normalarbeitsverhältnis alter Prägung lässt sich nicht beliebig auf alle Menschen übertragen. Wenn früher der Mann zu 100% erwerbstätig war und die Frau alles im Haushalt erledigte, so sehen wir heute eine Verdichtung der Arbeit für beide Geschlechter. Männer bekommen jetzt einiges außerhalb der Erwerbsarbeit nicht mehr selbstverständlich erledigt und müssen selbst ran. Ihre tatsächliche Gesamtarbeitszeit erhöht sich also. Viel gravierender ist es bei den Frauen: Zusätzlich zu der gestiegenen bezahlten Arbeit leisten sie weiterhin jede Menge unbezahlter Arbeit, im Haushalt oder bei der Kinderbetreuung.

Aus diesem Grund bin ich für eine Senkung der Normalerwerbsarbeitszeit - gerechnet über den gesamten Lebensverlauf. Selbst wenn man den dringend nötigen Ausbau von Ganztagsschulen und guten Betreuungs- und Bildungsstätten für Kinder geschafft hat, ist bei doppelter Vollzeiterwerbstätigkeit kein gutes Leben realisierbar. Zeit für die Partnerschaft, für Kinder und Eltern fehlt, Weiterbildung ist kaum möglich. Durch eine solche Umverteilung von Arbeitszeit zwischen Männern und Frauen muss man sich nicht um das gesamtwirtschaftliche Arbeitsvolumen sorgen. Es bleibt stabil. Die Produktivität dürfte sogar steigen, da man die gute Bildung von Frauen mehr ausschöpft und eine oft unproduktive Anwesenheitskultur der Männer abbaut. Diese grundsätzlichen Fragen anzugehen, ist Aufgabe der Zivilgesellschaft, die Umsetzung Pflicht der Unternehmen, Tarifpartner und des Staates.

NG/FH: Wie müssen Familien- und Arbeitsmarktpolitik integriert werden, um die Geschlechterungleichheit, den sogenannten gender-bias im Arbeitsleben und bei den gesellschaftlichen Lebenschancen zu überwinden?

Allmendinger: Die Bildungs- und Sozialpolitik würde ich hier gleich mit ins Boot nehmen. Im Vordergrund muss stehen, dass die hohen Einkommensunterschiede zwischen Männern und Frauen aufgrund unterschiedlicher Arbeitszeiten abgebaut werden. Hier muss eine Umverteilung von Zeit zwischen den Geschlechtern einsetzen - im Erwerbsleben wie auch im Haushalt. Wichtiger als der gender wage gap ist allemal der gender income gap, also wichtiger als Unterschiede im Stundenlohn von Männern und Frauen sind die Unterschiede im Monatseinkommen. Diese führen maßgeblich zu den oft geringen Altersrenten von Frauen. Es ist unverantwortlich, dass Unterhaltsrecht zu ändern und Frauen drei Jahre nach der Scheidung auf sich selbst zu stellen, ohne zuvor die Vereinbarkeit von Beruf und Familie hergestellt und die Arbeitszeiten von Männern und Frauen angepasst zu haben.

NG/FH: Macht es angesichts der beschäftigungspolitischen Erfolgsmeldungen und Leistungsbilanzen überhaupt noch Sinn, mit bloßen Beschäftigten-Zahlen zu hantieren? Was sollte dann aber an deren Stelle treten?

Allmendinger: Nein, das machte es aber auch noch nie. Es werden ja laufend Zahlen über erwerbstätige und arbeitslose Menschen erhoben. Diese werden analysiert und es wird darüber berichtet. Auch die Menschen, die nicht erwerbstätig sind, sich aber nicht bei den Arbeitsagenturen melden, müssen stärker in die Betrachtungen einbezogen werden. Und zusätzlich brauchen wir eine Berichterstattung, die mehr als bisher die Arbeitszeiten erfasst. Denn es ist ja ein Unterschied in der Bilanz der Beschäftigungspolitik, ob mit einer steigenden Beschäftigtenzahl auch die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden steigt oder nicht. Außerdem müssen die Art der Beschäftigungsverhältnisse und ihre Veränderungen sowie die Lohnspreizung genauer in den Blick genommen werden. All diese Zahlen gibt es ja, in den großen Meldungen der Medien tauchen aber meist nur die Arbeitslosen auf, manchmal wird dann noch die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten angegeben.

NG/FH: Die schwarz-gelbe Regierungspolitik verschärft die Spaltungen auf den Arbeitsmärkten. Der Zuwachs atypischer Arbeitsverhältnisse zu Lasten des voll sozialversicherungspflichtigen Normalarbeitsverhältnisses wird geduldet, zum Teil aktiv gefördert.Was sind die Hauptelemente der Alternativstrategie »Gute Arbeit«, die in diesem Jahr zur Wahl steht?

Allmendinger: Die Agenda 2010 und eine damit einhergehende moderate Tarifpolitik haben viel Gutes gebracht, bei aller Kritik an einzelnen Elementen. Die guten Arbeitsmarktzahlen gehen zum Teil auf diese große und mutige Reform zurück. Aber es ist schwer, und noch nicht wissenschaftlich befriedigend gelöst, die Zunahme der Beschäftigung den einzelnen Reformelementen zuzurechnen. Einige kritische Stellen wurden mittlerweile von den Tarifpartnern und Schwarz-Gelb angegangen, etwa die Tarifbindung in der Leiharbeit. Zu tun bleibt noch jede Menge:zum Beispiel die Einführung allgemeiner Mindestlöhne und eine Reform des Steuer- und Sozialversicherungsrechts, die weniger Anreize für Minijobs schafft. Auch das Ehegattensplitting muss umgebaut werden, es ist nicht mehr zeitgemäß. Milliarden könnten so in die präventive Arbeitsmarktpolitik gesteckt werden, also in eine frühe Förderung von Kindern, die insbesondere sozial schwachen Familien hilft.

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 4/2013, S. 47 - 50
herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Siegmar Gabriel,
Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka, Thomas Meyer, Bascha Mika und Peter Struck (†)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Mai 2013