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INTERNATIONAL/235: Brasilien - Wirtschaftsaufschwung im armen Nordosten, Unmut im reichen Süden (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 10. November 2014

Brasilien: Wirtschaftsaufschwung im armen Nordosten - Unmut im reichen Süden

von Fabiana Frayssinet


Bild: © Mario Osava/IPS

Der Industriehafenkomplex von Sauce im Nordosten Brasiliens
Bild: © Mario Osava/IPS

Rio de Janeiro, 10. November (IPS) - Gut 30 Jahre ist es her, dass Josefa Gomes ihre Heimatstadt Serra Redonda in Brasiliens halbtrockenem Westen verlassen hat, um im 2.400 Kilometer entfernten Rio de Janeiro ihr Glück zu suchen. Inzwischen bereut sie die Entscheidung. "Wäre ich doch bloß dort geblieben."

In der 7.000 Einwohner zählenden Stadt hat sich sehr viel zum Positiven verändert, wie sie bei ihren Besuchen in der alten Heimat feststellen konnte. "Die Menschen dort haben Strom, es gibt Arbeit in den Mehlmühlen, den Schuhfabriken oder den landwirtschaftlichen Genossenschaften." Auch wurde das Straßennetz ausgebaut und Busse verkehren regelmäßig. Von Serra Redonda bis in die fast 400.000 Einwohner zählende Stadt Campina Grande sind es nur noch 20 Minuten. "Zu meiner Zeit dauerte die Fahrt über eine Stunde", erinnert sich Gomes.

In der vergangenen Dekade hat die Wirtschaft in Brasiliens armem Nordosten einen landesweit überdurchschnittlich großen Aufschwung erlebt. Dass die Wirtschaft auf nationaler Ebene seit 2012 stagniert, hat damit zu tun, dass der traditionelle Motor des Landes, der Süden, stottert.


Rezession im Süden

Der südliche Bundesstaat São Paulo steckt in der Rezession. Der Anteil der lokalen an der nationalen Industrieproduktion belief sich 2011 auf 31,3 Prozent. Zehn Jahre zuvor waren es noch 38 Prozent gewesen, wie aus einer Anfang Oktober veröffentlichten Untersuchung des Nationalen Industrieverbands hervorgeht.

Zu den Verlusten von 6,7 Prozent trugen auch andere Bundesstaaten einschließlich der neun im Nordosten des Landes bei. Dieser Trend hat sich, ausgelöst durch eine industrielle Krise mit São Paulo als ihrem Epizentrum, weiter verschärft. So ging die Industrieproduktion in den ersten neun Monaten 2014 gegenüber dem Vergleichszeitraum des Vorjahres um 2,9 Prozent zurück.

Die industrielle Dezentralisierung des Landes hat zusammen mit anderen Faktoren die wirtschaftliche Ungleichheit zwischen den brasilianischen Regionen verringert. Doch ging diese Entwicklung zu Lasten der traditionellen Industriezentren dieses 200 Millionen Menschen zählenden, lateinamerikanischen Kraftzentrums.

Die Dichotomie der Wirtschaftsgeographie hat das Verhalten der Wähler bei den jüngsten Wahlen umgekehrt. So konnte Staatspräsidentin Dilma Rousseff bei der Stichwahl am 27. Oktober im Nordosten 71,7 Prozent der Stimmen für sich gewinnen. Allerdings wurde ihr Sieg durch die ablehnende Haltung einer breiten Mehrheit der Wähler in São Paulo gefährdet. Hier gaben 64,3 Prozent der Wahlberechtigten dem Geschäftsmann Aécio Neves ihre Stimme.

Die Polarisierung der brasilianischen Wählerschaft wird mit den Sozialprogrammen in Verbindung gebracht, die seit 2003 von dem ehemaligen Staatspräsidenten Luiz Inácio Lula da Silva und seiner Amtsnachfolgerin Rousseff umgesetzt werden und die rund 36 Millionen Brasilianer aus der Armut befreit haben. Das Programm verschafft armen Familien ein monatliches Zusatzeinkommen in Höhe von jeweils 70 US-Dollar.

Das Familienhilfsprogramm 'Bolsa Familia' kanalisiert rund 440 Millionen Dollar im Monat in den armen Nordosten. 6,5 Millionen Familien - fast die Hälfte der landesweiten Empfängerhaushalte - profitieren.

Bild: © Mario Osava/IPS

Ein Dorf im nordöstlichen Bundesstaat Pernambuco mit einer Regenwasserzisterne
Bild: © Mario Osava/IPS

Darüber hinaus sind im Nordosten, einer der fünf Regionen Brasiliens, in den letzten Jahren die meisten formellen Arbeitsplätze entstanden. Davon profitieren fast neun Millionen Beschäftigte - doppelt so viele wie noch zu Anfang des Jahrtausends, wie der Wirtschaftswissenschaftler Cícero Péricles de Carvalho vorrechnet. "Allein die Zahl der formellen Jobs in der Bauwirtschaft ist von 195.000 im Jahr 2003 auf derzeit 650.000 gestiegen."

Die Zunahme formeller Beschäftigungsverhältnisse geht mit einer besseren Bezahlung einher. Die Entwicklung ist auch auf die Erhöhung der Mindestlöhne durch Lula und Rousseff zurückzuführen. Der erleichterte Zugang zu Bankkrediten hat sich wiederum positiv auf die Kaufkraft und den Konsum ausgewirkt.


Aufschwung durch Sozialleistungen

"Die zusätzlichen Einnahmen im Nordosten, wie sie die Sozialprogramme und die Renten für 8,8 Millionen Senioren in der Region darstellen, verbunden mit der Entstehung neuer Arbeitsplätze haben den Konsum befeuert", erläutert Carvalho, Professor an der Föderalen Universität von Alagoas, einem kleinen Bundesstaat im Norden Brasiliens. Die erhöhte Nachfrage nach Konsumgütern half dem Handel auf die Beine: Ein Netzwerk von Supermärkten und neuen Industrien entstand, um die wachsende Nachfrage nach Baumaterialien, Kleidung, Nahrungsmitteln und anderen Erzeugnissen zu decken.

Ein weiterer Grund für den Aufschwung im Nordosten war das 2007 aufgelegte Programm für Wachstumsbeschleunigung. Es besteht aus einer Reihe wirtschaftlicher Maßnahmen, Investitions- und Infrastrukturprojekten. Gefördert wurden sowohl kleine kommunale Unternehmungen als auch Megaprojekte wie die Umleitung des Flusses São Francisco, die den Bau von 700 Kilometer langen Kanälen und Tunneln nach sich zog, um zwölf Millionen Menschen mit Wasser zu versorgen.

Diese unerwartete Dynamik habe sowohl zur Entwicklung der Wirtschaft als auch zu einer größeren sozialen Inklusion geführt, wobei sich der soziale Nutzen nicht allein auf die Einkommen beschränkte. So konnte über das Programm 'Licht für alle' Strom verfügbar gemacht sowie der Zugang zu Gesundheitsdiensten und Bildung erreicht werden, wie Carvalho berichtet. Allerdings, so fügte der Experte hinzu, liegt die Lebenserwartung in der Region unterhalb des nationalen Durchschnittswerts. Die Differenz verkleinert sich nur sehr langsam, vor allem weil sich das regionale Wirtschaftswachstum im Nordosten vor allem auf die Küstengebiete beschränkt.


De-Industrialisierung

Auch wenn sich der De-Industrialisierungsprozess in Brasilien nach Meinung von João Policarpo Lima, Wissenschaftler an der Föderalen Universität von Pernambuco, negativ auf den Nordosten ausgewirkt hat, so geschah dies nicht in dem Ausmaß wie in São Paulo. Laut Policarpo Lima gibt es mehrere Großprojekte wie das Fiat-Fertigungswerk in Pernambuco, die die Industrialisierung weiter vorantreiben werden, sobald sie ihr volles Potenzial entfaltet haben werden.

Großfirmen haben zudem zwei Hafenindustriekomplexe geschaffen: Suape in Pernambuco und Pecém im benachbarten Bundesstaat Ceará. Suape hat zudem mehr als 100 weitere Unternehmen angezogen, darunter einen Schiffshof und die größte Mehlmühle Lateinamerikas sowie eine Raffinerie und ein Petrochemiewerk.

Die schlimmste industrielle Regression erlebt derzeit die Zuckerrohrindustrie, die Zucker und Ethanol herstellt und 80 Prozent der landwirtschaftlichen Ökonomie von São Paulo ausmacht, wie der Unternehmer Maurilio Biagi Filho aus der 'Zuckerrohrhauptstadt' Ribeirão Preto erläutert. "Der Sektor steckt in einer schweren Krise, die ein Gefühl der Verzweiflung ausgelöst hat und sicherlich viele Jahre in Anspruch nehmen wird, bevor sie überwunden werden kann", fügt er hinzu.

Unternehmer und Analysten machen für die Krise die Benzinpreiskontrollpolitik verantwortlich, mit der die Regierung Rousseff die Inflation zu begrenzen versucht. Ethanol, das immer teurer wird, kann mit den subventionierten Preisen für fossile Brennstoffe nicht konkurrieren. Die Situation hat sich weiter durch den Niedergang der Zuckerpreise seit 2010 und die diesjährige Dürre verschärft, die in mehr als 130 Städten im Bundesstaat São Paulo zu Wasserversorgungsengpässen führte.

In den letzten Jahren mussten Dutzende Zuckermühlen ihre Produktion verringern oder einstellen, während sich andere auf Abkommen einließen, um Insolvenzverfahren zu verhindern, oder die Mühlen an ausländische Unternehmen verkauften. Schätzungsweise 300.000 Arbeitsplätze gingen verloren. (Ende/IPS/kb/2014)


Links:

http://www.ipsnoticias.net/2014/11/mas-igualdad-economica-trae-mas-polarizacion-politica-en-brasil/
http://www.ipsnews.net/2014/11/more-economic-equality-brings-greater-political-polarisation-in-brazil/

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 10. November 2014
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. November 2014