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INTERNATIONAL/283: Brasilien - Geplatztes staatliches Erdölprojekt ruiniert die Stadt Itaboraí (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 27. Oktober 2015

Brasilien: Stadt der Geisterhäuser - Geplatztes staatliches Erdölprojekt ruiniert Itaboraí

von Mario Osava


Bild: © Mario Osava/IPS

Im Enterprise-Gebäude in Itaboraí stehen alle Büros und Läden leer
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ITABORAI, BRASILIEN (IPS) - Eigentlich sollte das Enterprise-Gebäude in Itaboraí zahlreiche Büros und Geschäfte beherbergen. Doch wie in vielen anderen Neubauten in der Großstadt nahe der brasilianischen Hauptstadt Rio de Janeiro herrscht auch hier gespenstische Leere. Schuld daran ist ein gescheitertes staatliches Erdöl-Großprojekt, das vor neun Jahren einen ungeahnten Bauboom auslöste, ohne die hohen Erwartungen erfüllen zu können.

Der damalige Staatspräsident Luiz Inácio Lula da Silva hatte 2006 den Bau des Petrochemischen Komplexes Rio de Janeiro (COMPERJ) angekündigt, der zwei Raffinerien und zwei petrochemische Fabriken umfassen sollte. Die Getulio-Vargas-Stiftung, ein renommierter Think Tank in Rio de Janeiro, sei davon ausgegangen, dass in der Stadt, die zu der Zeit etwa 218.000 Einwohner hatte, 221.000 neue Arbeitsplätze entstehen würden, erklärt Luiz Fernando Guimarães, der in der Stadtverwaltung für den Bereich Wirtschaftsentwicklung verantwortlich ist.

Die Baukosten für den neuen Industriekomplex des staatlichen Erdölkonzerns Petrobras wurden anfangs mit rund 6,5 Milliarden US-Dollar beziffert, stiegen aber rasch auf das Doppelte an. Inzwischen ist nur noch eine einzige Raffinerie vorgesehen, die täglich 165.000 Barrel Öl produzieren soll. Die Pläne für die Petrochemie-Fabriken und die zweite Raffinerie sind dagegen längst vom Tisch.


Rasanter Aufstieg zum 'El Dorado'

Nach Lula da Silvas Ankündigung und dem Baubeginn 2008 sei Itaboraí zu einer Art 'El Dorado' geworden, erinnert sich Guimarães. Aus ganz Brasilien und sogar aus dem Ausland seien Leute in die Stadt gekommen. Die Mieten explodierten, die Grundstückspreise verdoppelten sich, Lebensmittel und Dienstleistungen verteuerten sich.

"Die Einstellung von 30.000 Arbeitern und die Aussicht auf weitere Industrieanlagen im Umkreis des Petrochemie-Komplexes zogen damals hohe Investitionen an", erklärt der Finanzsekretär der Stadt, Rodney Mendonça. "Die Hoffnungen auf raschen Wohlstand in einer der ärmsten Städte des Landes waren groß."

Der Immobilienboom in der nur 45 Kilometer von Rio de Janeiro entfernten Stadt führte dazu, dass neue Gebäude, darunter zwei Hotels, gebaut wurden. Im Laufe weniger Jahren seien 4.000 neue Geschäfte und Bürogebäude entstanden, so Guimarães. Der ehemalige Manager in der Ölindustrie, der mit der Leitung einer neu eingerichteten städtischen Behörde, dem Sekretariat für Wirtschaftsentwicklung und Integration, beauftragt wurde, koordiniert die Kontakte zwischen der Stadtverwaltung und COMPERJ.

Als im vergangenen Jahr bekannt wurde, dass das Projekt auf eine Raffinerie beschränkt werden sollte, war der Schock für Itaboraí groß. In Wirklichkeit habe sich die Lage bereits 2010 verändert, doch die Öffentlichkeit sei nicht informiert worden, berichtet er. "Ich erfuhr damals, dass sich mehrere Tochterfirmen von Petrobras und dem größten lateinamerikanischen Petrochemie-Unternehmen Braskem aus dem Projekt zurückziehen wollten."


Bild: © Mario Osava/IPS

Der Eingang zu dem nahezu leeren Hellix-Gebäude, einer Luxusbüroimmobilie
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Eine lokale Universität stand zu dem Zeitpunkt kurz vor der Einführung eines neuen Studiengangs Petrochemie-Technologie, um die erwartete Nachfrage vom COMPERJ nach Arbeitskräften zu befriedigen. "Als ich dem Leiter der Universität sagte, was los war, hätte er mich am liebsten umgebracht", erinnert sich Guimarães.


Selbst Finanzierung für einzige Raffinerie noch nicht gesichert

Auch der Bau der ersten Raffinerie sei mittlerweile ins Stocken geraten. Laut Petrobras wird nach einer Finanzierung gesucht, um den zu 87 Prozent fertiggestellten Bau zu Ende zu bringen. Auf dem 45 Quadratkilometer großen Gelände, das für den Bau von COMPERJ gekauft worden war, baue Petrobras nun eine Anlage zur Aufbereitung von Erdgas. Zurzeit seien dort noch etwa 3.000 Arbeiter beschäftigt, so Guimaratilde;es. Um die fertige Anlage zu betreiben, würden später lediglich 80 Beschäftigte gebraucht.

Die Stadt ist durch die neuen Planungen hart getroffen worden. Viele Geschäfts- und Bürogebäude mit glänzenden Fassaden stehen leer. Überall sieht man Schilder mit der Aufschrift 'Zu vermieten' und 'Zu verpachten'. Die meisten Läden sind geschlossen. "Von 2006 bis 2014 war mein Parkhaus im Stadtzentrum immer voll", klagt der Unternehmer Valcir José Vieira. "Statt wie früher um die 200 Autos kommen heute höchstens noch hundert am Tag." Seit Ende vorigen Jahres hat Vieira die Parkgebühren halbiert, damit überhaupt noch jemand sein Parkhaus nutzt.

"Das Land der Orangen ist ein Land der weißen Elefanten geworden", witzelt Bruno Soares, Manager des Unternehmens Bazarzão, das Baumaterialien und Maschinenausrüstungen verkauft und seinen Sitz auf der Hauptstraße von Itaboraí hat. Ein 'weißer Elefant' ist ein Synonym für ein Geschenk, das seinem Empfänger mehr Sorgen als Freude bereitet. Thailänder sollen die in ihrem Land als heilig geltenden weißen Elefanten an Feinde verschenkt haben, die durch die hohen Kosten für den Unterhalt manchmal bis in den Bankrott getrieben wurden.


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Das Unternehmen Bazarzão, das Maschinenausrüstungen anbietet, verdoppelte seine Verkaufszahlen, als der Bau des Petrochemiekomplexes Rio de Janeiro begann. Doch dann ging es rapide bergab
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Bazarzão ist zwar kein offizieller Zulieferer von COMPERJ, bekam jedoch die Auswirkungen der Krise ebenfalls empfindlich zu spüren. "Unsere Verkaufszahlen haben sich seit Ende 2014 halbiert", sagt Soares. Inzwischen seien sie in etwa wieder auf dem Stand, den sie vor Beginn des Booms erreicht hatten. Mit den Geschäften sei es in den vergangenen fünf Jahren viel zu schnell bergauf und wieder bergab gegangen. "Itaboraí könnte ein Kraftzentrum für Lateinamerika sein, wenn der Petrochemie-Komplex gut arbeiten würde. Die Korruption hat aber alles zu Fall gebracht."


Korruptionsskandal zieht weiter Kreise

Über den Schmiergeldskandal, der COMPERJ und andere Petrobras-Projekte betraf, ist die brasilianische Öffentlichkeit bestens im Bilde. Dutzende Politiker und Bauunternehmen sollen in die unlauteren Machenschaften verstrickt sein. Die Stadtverwaltung von Itaboraí sitzt doppelt in der Klemme. Während die Steuereinnahmen jäh zurückgegangen sind, erhöhen sich die durch das Scheitern des Megaprojekts in die Höhe getriebenen Kosten immer weiter.

Die Mehrwertsteuer auf Dienstleistungen brachte der Stadt in den Jahren des COMPERJ-Baubooms jährlich etwa 64 Millionen US-Dollar ein. In diesem Jahr drohen die Einnahmen laut den Prognosen der Finanzbehörde um 40 Prozent zu sinken. Da etliche Unternehmen aufgrund der Krise Insolvenz anmelden mussten, dürften sich die Steuereinnahmen weiter schmälern.

Die vielen Arbeiter, die mit ihren Familien in die Stadt gezogen sind, werden dagegen die Kosten für öffentlich finanzierte Dienstleistungen, etwa in den Bereichen Gesundheit und Bildung, weiter in die Höhe treiben. Bereits jetzt werden laut Mendonça 30 Prozent des kommunalen Haushalts in den Gesundheitssektor gesteckt, doppelt so viel wie gesetzlich vorgeschrieben. Auch die 2.000 neuen Beamten, die angesichts des erhofften Wirtschaftsaufschwungs eingestellt wurden, müssen weiter bezahlt werden.

Itaboraí sucht indes fieberhaft nach Alternativen, um die Finanzlöcher zu stopfen. In der Region, in der auch unabhängig von COMPERJ Öl produziert wird, befinden sich Fabriken, Häfen und Schiffswerften. Guimarães ist daher überzeugt, dass die Zukunft der Stadt, in deren Nähe sich mehrere Autobahnen kreuzen, im Logistiksektor liegen wird. (Ende/IPS/ck/27.10.2015)


Link:

http://www.ipsnews.net/2015/10/itaborai-a-city-of-white-elephants-and-empty-offices/

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IPS-Tagesdienst vom 27. Oktober 2015
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Oktober 2015

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