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MEINUNG/030: Zehn Jahre Agenda 2010 - Ausbruch aus der Abwärtsspirale? (Sozialismus)


Sozialismus Heft 4/2013

Ausbruch aus der Abwärtsspirale?
Zehn Jahre Agenda 2010

von Joachim Bischoff



Zehn Jahre nach der Verkündigung der Agenda 2010 haben führende Politiker der SPD - der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder, der damalige Kanzleramtsminister Frank-Walter Steinmeier und andere mehr - eine positive Bilanz gezogen. Schröder konstatierte: »Man sieht ja jetzt: Deutschland ist besser durch die Krise gekommen als alle anderen europäischen Länder.« Parteichef Sigmar Gabriel unterstreicht: Die Agenda 2010 war sehr erfolgreich; und der SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück kritisiert die zeitweilig distanzierte Haltung seiner Partei zu dieser epochalen »Reform«, denn die SPD hätte viel selbstbewusster und stolzer damit umgehen müssen: »Wir sind Deppen, dass wir die Agenda immer mit Hartz IV gleichgesetzt haben.« Damit könne nun Schwarz-Gelb die Rendite einfahren.

Der Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion und als damaliger Kanzleramtsminister einer der Hauptgestalter der Agenda 2010, Frank-Walter Steinmeier, wiederum ist überzeugt davon, dass die Agenda 2010 verhindert habe, dass Deutschland jetzt in einer Reihe mit Italien, Frankreich und Spanien vor deutlich größeren Problemen inmitten der Euro-Krise stünde. Auswüchse wie bei der Leiharbeit dürfe man eben nicht fürs Ganze nehmen.

Gerhard Schröder stellte am 14. März 2003 im Bundestag ein umfassendes Paket von Strukturveränderungen vor. Er reagierte damit auf die hohe Arbeitslosigkeit, den Druck zur Erhöhung der Sozialbeiträge und das schwache Wirtschaftswachstum. Die Leitidee war damals: »Wir müssen den Mut aufbringen, in unserem Land jetzt die Veränderungen vorzunehmen, die notwendig sind, um wieder an die Spitze der wirtschaftlichen und der sozialen Entwicklung in Europa zu kommen ... Deutschland hat ... mit einer Wachstumsschwäche zu kämpfen, die auch strukturelle Ursachen hat. Die Lohnnebenkosten haben eine Höhe erreicht, die für die Arbeitnehmer zu einer kaum mehr tragbaren Belastung geworden ist und die auf der Arbeitgeberseite als Hindernis wirkt, mehr Beschäftigung zu schaffen. Investitionen und Ausgaben für den Konsum sind drastisch zurückgegangen, übrigens nicht zuletzt, seit an den Börsen allein in Deutschland während der vergangenen drei Jahre rund 700 Milliarden Euro buchstäblich vernichtet worden sind. In dieser Situation muss die Politik handeln, um Vertrauen wieder herzustellen.«

Alle kapitalistischen Hauptländer standen damals unter dem Eindruck der geplatzten Vermögenspreisblase der New Economy. Dass Deutschland hiervon besonders betroffen war und die rote Laterne des internationalen Konjunkturgeleitzuges trug, war ein Gemeinplatz in der öffentlichen Meinung. Allerdings wurde das Vertrauen bei einem Großteil der Bevölkerung nicht wiederhergestellt, sondern im Gegenteil extrem belastet.

Die damalige rot-grüne Regierung hat Leistungen des Staates gekürzt und mehr Eigenleistung von den BürgerInnen abgefordert. Die umfassende Strukturreform war mit Einschnitten bei der Rente, der Arbeitslosenunterstützung und im Gesundheitssystem die tiefgreifendste Sozialreform der Nachkriegszeit.

Das System des »Förderns und Forderns« bei den aus dem Erwerbsleben ausgegrenzten BürgerInnen war mit einem riesigen, bis heute fortgeschriebenen Sanktionssystem verbunden. Die umfassende Transparenz der Erwerbslosen ist das zentrale Merkmal der erweiterten Arbeitsverwaltung; die früheren Sozialtransfers Arbeitslosen- und Sozialhilfe wurden zum Arbeitslosengeld II zusammengeführt, und die rigorose Kontrolle der Bedarfsgemeinschaften führt im Verein mit den Sanktionen (verschiedene Formen des Entzugs von Leistungen) dazu, dass sich im Volksmund der Name Hartz IV verallgemeinerte. Viele Deutsche setzen die Agenda 2010 mittlerweile mit Hartz IV gleich.

Etliche Jahre war das Hartz IV-Regime sozial und politisch-ideologisch ein Spaltungsgrund. Jetzt deutet sich im Vorfeld der Bundestagswahl 2013 ein Versuch der Umdeutung an. Die Agenda 2010 sei damals im eigentlichen Sinne des Wortes notwendig gewesen, sagt Ex-Kanzler Schröder. Ohne sie wäre Deutschland womöglich in Not geraten: »Die Gefahr bestand.« Angesichts der damaligen schlechten Wirtschaftslage und der hohen Arbeitslosigkeit »mussten wir die sozialen Sicherungssysteme verändern, damit sie für den Steuerzahler und den Beitragszahler bezahlbar blieben«. Außerdem sei es notwendig gewesen, die deutsche Wirtschaft wettbewerbsfähig zu machen, »denn Arbeitsplätze gibt es nur, wenn wir unsere Produkte auch exportieren können«.

Schröder appelliert heute wie damals zugleich an den Veränderungswillen der Deutschen: »Wichtig ist, dass wir eines nicht vergessen: Die sozialen Systeme können in einer älter werdenden Gesellschaft nicht statisch gehalten werden. Deshalb brauchen wir immer wieder Mut zur Veränderung!« Schröder fordert denn auch ein neues Reformpaket - eine Agenda 2020. »Deutschland kann seinen Vorsprung gegenüber aufstrebenden Wirtschaftsmächten wie Brasilien und China nur verteidigen, wenn wir hart an unserer Wettbewerbsfähigkeit arbeiten.« Nur wenn dies gelinge, gebe es »genug Arbeit, können Renten bezahlt werden, kann es gute Schulen und Straßen geben«. Als wichtigste Vorhaben nennt Schröder Investitionen in Forschung und Bildung. »Wir brauchen noch mehr Ganztagsschulen, um denen größere Chancen zu geben, die zu Hause nicht so gute Bedingungen haben. Wegen unserer niedrigen Geburtenrate haben wir zu wenige Fachkräfte. Deswegen sind gute Bildung und Betreuung so wichtig.«

Soviel Verlogenheit hatte die politische Klasse bislang an einem Gedenktag noch nicht mobilisiert. Der Arbeitgeber-Professor Michael Hüther, früher beim Sachverständigenrat und Chef-Volkswirt der Deka-Bank, gibt die Tonlage vor: Die Agenda 2010 sei ein unbedingter Erfolg: »Das Sozialsystem wurde neu justiert. Mit dem Doppel 'Fordern und Fördern' wurde ein Gleichgewicht in der sozialen Absicherung des Einzelnen angestrebt. Das war ein Perspektivwechsel und hat erhebliche Veränderungen bewirkt. Wir haben heute viel mehr Arbeit und ein bezahlbares Sozialsystem. Viele machen sich gar nicht klar, was das wert ist.«

Die Agenda 2010 wird von den politischen Akteuren als »Befreiungsschlag« verstanden: Deutschland galt damals als Krisenfall Europas, es herrschte Wachstumsschwäche, Investitionen und Konsumausgaben waren gesunken. Die Arbeitslosigkeit stieg 2003 auf mehr als vier Millionen. Kernpunkt der Agenda 2010 war die Neuordnung der Arbeitsmarktpolitik. Um die Frühverrentungsprogramme zu erschweren, setzte die damalige rot-grüne Koalition durch, dass das eigentliche Arbeitslosengeld I nur noch höchstens 18 Monate bezahlt wurde. Vor der Reform konnten Arbeitslose die Unterstützung bis zu 32 Monate erhalten. Entscheidend war weiter die Zusammenlegung der Sozial- und Arbeitslosenhilfe zu einer Leistung. Zugleich wurde dieses untere soziale Netz mit einer umfassenden Durchleuchtung der Krisenbetroffenen verbunden. Hüther erklärt den Zusammenhang: »Der Mechanismus ist eigentlich ganz einfach. Durch das Zusammenlegen von Arbeitslosen- und Sozialhilfe und die Verkürzung der Bezugszeiten wurde das untere Auffangnetz neu justiert. Der Druck, Arbeit aufzunehmen, ist dadurch gestiegen. Das hat geholfen, mehr Jobs zu schaffen. Heute zahlt es sich aus. Aber vor allem darf auch die psychologische Bedeutung der Agenda für die Wirtschaftsdebatte nicht unterschätzt werden.«(1)

Die »Neujustierung« des unteren Auffangnetzes basierte auf einer Herabstufung der Zumutbarkeit bei der Arbeitsaufnahme. Die Bedingungen für Fortbildung und Qualifikation wurden geändert und die Gefügigkeit der Arbeitssuchenden wurde mit einem harten kontroll- und Sanktionssystem erzwungen. Zu den Reformen der Agenda wurden auch Maßnahmen der konjunkturellen Flankierung und so genannte Strukturreformen auf den Weg gebracht. Die Lohnnebenkosten wurden durch Einschnitte im Gesundheitssystem deutlich zuungunsten der Kranken umverteilt.

Übersehen werden darf schließlich nicht, dass die damalige rot-grüne Bundesregierung nicht nur massiv die Steuern gesenkt, sondern auch eine Steueramnestie durchgesetzt hat. Einschließlich der Änderungen der Steuersätze aus den Vorjahren wurden die SteuerzahlerInnen insgesamt um 56 Mrd. Euro entlastet. Der Eingangssteuersatz sank gegenüber 1998 von 25,9% auf 15%, der Spitzensteuersatz von 53% auf 42%. Schröder kündigte auch eine Abgeltungsteuer auf Zinserträge an und stellte eine Straffreiheit für im Ausland angelegte Schwarzgelder in Aussicht.

Keine Frage: Die Agenda 2010 hat den weiteren Anstieg der Arbeitslosigkeit gestoppt und geholfen, die Zahl der Beschäftigten deutlich zu erhöhen. Erreicht wurde die Ausweitung der Erwerbstätigkeit allerdings nur durch die Beförderung der Ausbreitung atypischer, prekärer Beschäftigung. Die Kehrseite dieser erweiterten gesellschaftlichen Reichtumsproduktion ist die weitere Polarisierung in den Einkommens- und Verteilungsverhältnissen.

Das schwache Wirtschaftswachstum in den Jahren 2002ff. hing nicht zuletzt damit zusammen, dass die große Vermögenspreisblase geplatzt war, was in den meisten kapitalistischen Hauptländern einen konjunkturellen Abschwung nach sich zog. In Deutschland hätte geld- und fiskalpolitisch gegengesteuert werden müssen. Da allerdings die Europäische Währungsunion gerade praktisch wirksam geworden war, gab es keine eigenständige Zins- und Wechselkurspolitik mehr. Die Binnennachfrage schrumpfte von 2000 bis 2005 im Jahresdurchschnitt um 0,4%, die Exporte zogen mit der einsetzenden weltweiten Erholung an. Von einer strukturellen Wettbewerbsschwäche konnte damals keine Rede sein. Gleichwohl wurde die Neujustierung der sozialen Netze und die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes zum zentralen Politikansatz, der bis heute Schule macht.

Die Rosskuren einer »inneren Abwertung« sind seit 2010 den südeuropäischen Krisenländern aufgezwungen worden. Faktisch haben die Absenkung der Lohnkosten und die Deregulierung der Arbeitsmärkte keinen Ausbruch aus der Abwärtsspirale gebracht. Selbst der Internationale Währungsfonds hat eingeräumt, den negativen Einfluss der Sparmaßnahmen auf die Wachstumsraten der Europäischen Union stark unterschätzt zu haben. Weder eine Abwertung der Wechselkurse von mehreren Ländern (äußere Abwertung) noch eine interne Abwertung durch Senkung der Lohneinkommen sind praktikable oder erfolgreiche Mittel zur Überwindung von Stagnationstendenzen oder gar einer anhaltenden Schrumpfung des Wirtschaftsprodukts.

Die aktuelle Problemkonstellation ist dadurch gekennzeichnet, dass die mangelnde private Nachfrage - insbesondere der Konsum der Privathaushalte - in den europäischen Krisenländern die Verluste aus den Sparmaßnahmen nicht ausgleichen kann. Während der beiden letzten Jahrzehnte wurde das Wirtschaftswachstum dieser Länder vom Konsum getrieben, dessen Anteil am BIP historische Höchststände erreichte. Es wird immer deutlicher, dass Sparmaßnahmen und so genannte Strukturreformen nicht ausreichen, um die Peripherie der Eurozone aus der tiefen Rezession zu befreien. Damit die Inlandsnachfrage als Wachstumsfaktor wirksam werden kann, muss die Politik Ressourcen für einen neuen Mix von öffentlichen Investitionen und die Stärkung der binnenwirtschaftlichen Einkommens- und Wertschöpfungskreisläufe bereitstellen. In den letzten Jahren haben die sozio-ökonomischen Unterschiede in Europa zugenommen. Es wird die europäische Wirtschafts- und Währungsunion auseinanderreißen, wenn sich die Steigerung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit als zentrale Orientierung durchsetzen wird.

Demgegenüber zielt die Kritik der politischen Klasse in Deutschland darauf, dass die Agenda-Politik nicht als permanente Richtschnur akzeptiert wird. Noch einmal Michael Hüther: »Die Reife einer Gesellschaft erweist sich auch daran, wie sie mit Krisen umzugehen in der Lage ist. Ökonomisch betrachtet ist in den vergangenen fünf Jahren Deutschland gut zurechtgekommen. Politisch war die Krisenbewältigung zwar weitgehend angemessen, doch es fehlt jede vorwärtsgerichtete Agenda zur Weiterentwicklung der ökonomischen Grundlagen des Erfolgs. Gesellschaftlich hat die Krise tief greifende Spuren hinterlassen, indem nicht nur die üblichen Kritiker der Marktwirtschaft auf den Plan gerufen wurden, sondern weite Kreise des bürgerlichen Diskurses durch Zweifel an der Wirtschaftsordnung geprägt sind.«(2)

Ja - das gesellschaftliche Vertrauen ist auch in Deutschland immer noch nicht wiederhergestellt und die Bereitschaft für eine Radikalisierung der Agenda-Politik ist begrenzt. Die Aussichten auf eine weitere Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 70 oder der Verzicht auf eine wirksame Mindestlohnpolitik stimmen größere Teile der Bevölkerung skeptisch. Mehr als zwei Drittel der Bevölkerung erwarten, dass die sozialen Unterschiede wachsen und dass immer mehr Menschen wirtschaftlich und gesellschaftlich nicht mithalten können. Die Loyalität zur sozialen Marktwirtschaft und ihrem Versprechen, dass Leistung sich lohnt, befindet sich auf tiefstem Niveau. Dies geht einher mit der Wahrnehmung, dass die deutsche Gesellschaft nur sehr eingeschränkt durchlässig ist, und der Ausbreitung massiver Abstiegsängste auch und gerade bei den mittleren Einkommenslagen. Auch den Chefpropagandisten Hüther irritiert: Es gibt einen überproportionalen Anstieg des Unsicherheitsempfindens bei den mittleren Schichten. Die Abstiegsangst hat in Teilen der Gesellschaft deutlich zugenommen.

Die politische Klasse ist entschlossen, die Neujustierung von Arbeitsmarkt- und Armutspolitik fortzusetzen. Mit der Schuldenbremse im Rücken wird die Umverteilungspolitik fortgeführt und soll eine weitere Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit erzwungen werden. In den vergangenen zehn Jahren ist das Sicherungsniveau der gesetzlichen Rente beständig abgesenkt worden. Immer mehr RentnerInnen leben unter der Armutsgrenze. Gleichzeitig klafft die Schere zwischen armen und wohlhabenden RentnerInnenhaushalten in Deutschland immer weiter auseinander.

Der neoliberale Politikansatz zur Dynamisierung der Kapitalakkumulation ist gescheitert, dies ist die Erfahrung der letzten Jahrzehnte. Die praktisch wie theoretisch belegte Erfolglosigkeit der »neoliberalen Wirtschaftskonzeption« hindern die politischen Elite und den entsprechenden Block sozialer Kräfte nicht daran, beständig eine Radikalisierung dieser Therapie zu propagieren. Als Akkumulationsbremse wird nicht die chronische Überakkumulation von Kapital und eine massive Verzerrung der Verteilungsverhältnisse zugunsten der Kapital- und Vermögenseinkommen ausgemacht, sondern die vermeintlich überzogenen Ansprüche der Lohnabhängigen und der subalternen sozialen Schichten.


Joachim Bischoff ist Mitherausgeber von Sozialismus.


Anmerkungen

(1) »Die Krise war groß genug für Reformen«. Interview mit Michael Hüther in der Süddeutschen Zeitung vom 11.3.2013.

(2) Michael Hüther, "Fin du capitalisme?", in: Die Welt vom 6.3.2013.

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Quelle:
Sozialismus Heft 4/2013, Seite 14 - 17
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Juni 2013