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MEINUNG/031: Ein "Tanz am Abgrund"? (Karl Mai)


Ein "Tanz am Abgrund"?

Ein Kommentar von Karl Mai, 24. Juni 2013



Am 12.05.2013 gab der gegenüber dem Mainstream kritisch eingestellte Hochschulprofessor Peter Bofinger ein längeres Interview im "Sonntag-Tagesspiegel" zur Perspektive des Euro. Sein erster Satz darin lautete: "Den Euro werden wir auch in 20 Jahren noch haben. Doch es wird ein Tanz am Abgrund." Doch wer will schon 20 Jahre lang am "Abgrund" tanzen? Wozu soll das gut sein?


Wenn man analysiert, welchen Interessen Bofinger hiermit zu dienen glaubt, so stößt man auf widersprüchliche Gesichtspunkte: Einerseits verkündet Bofinger alte Gewissheiten mit der These: "Es gibt keine objektiven Grenzen der Staatsverschuldung", und erklärt sich offenbar im Sinne des Titels seines Interviews "Die Schuldenbremse ist pervers" für eine Eskalation der Schulden analog der USA-Fed (Zentralbank der USA) auch in der EU als gezielten Wachstumsstimulator. Diese Grundposition zur Toleranz einer steigenden Staatsverschuldung ist Bofingers Credo, das ihn mit einigen "Links"-Kreisen verbindet. Hier stößt er jedoch auf die noch bestehende verfassungsmäßige Schranke in der EWU ("Schuldenbremse"), die er direkt nicht umgehen kann.

Als tragfähig für eine weiter eskalierende Staatsverschuldung in der EWU bringt er so zunächst die "gemeinschaftliche Haftung der Euro-Staaten" für Kreditschulden über 60 Prozent des nationalen BIP sowie "einen Finanzminister für alle Euro-Staaten" ins Spiel. Dieser EU-Finanzminister soll dann den Einzelstaaten exakt vorgeben, dass bei Überschreitung der zulässigen Haushaltskriterien zwangsweise z.B. "die Mehrwertsteuer um drei Punkte (!) erhöht wird." Ein solcher Zwang auf die nationalen Parlamente setzt aber die Änderungen der noch bestehenden "alten" Konsens-Grundlagen der EWU voraus und soll künftig durch Mehrheitsentscheidungen der EWU-Bürokratie schrittweise freigegeben werden.

Hier übergeht Bofinger schlicht die Tatsache, dass eine höhere allgemeine Mehrwertsteuer in einzelnen Defizitländern die wirtschaftlichen Disproportionen nicht beseitigen kann, die dort zwischen zu geringem Produktivitätszuwachs und privater Binnenmarktkonsumtion lange schon bestehen. Die vorgeschlagenen zusätzlichen Mehrwertsteuer-Einnahmen vermindern in den Defizitländern zwar zunächst die Haushaltsdefizite, könnten aber den zurückbleibenden volkswirtschaftlichen Produktivitätszuwachs nicht generell überwinden, solange sie vorrangig zum Schuldenabbau des Fiskus verwendet werden statt zur Erhöhung der staatlichen Investitionen für produktive Zwecke. Die anvisierte Mehrwertsteuererhöhung in den Defizitländern begünstigt also letztlich deren "ausweglose Lage" im Wettbewerb der EU-Länder. Das ergibt dann den schon erwähnten "Tanz am Abgrund" Bofingers.

Dies gilt für die Defizitländer vorwiegend im Süden Europas, für die u.a. Deutschland als Gläubigerland im EWU-Rahmen bürgt und für die Interessen der deutschen Banken als deren Groß-Gläubiger im Ausland verbissen eintritt. Macht sich Bofinger zu deren "wissenschaftlichem Gehilfen"? Er erwähnte im Interview ganz beiläufig die hohen Forderungen deutscher Banken im Euro-Raum von etwa 900 Milliarden Euro, ganz zu schweigen von den "Deutschen insgesamt" mit ihrem "noch viel größeren Vermögen im Euro-Ausland." (Zitat) Hier schimmert das wahre Interesse für Bofingers Auftritt im Interview zu Gunsten einer Euro-Rettung durch.[1] Inzwischen wurde durch attac bekannt, wie die speziell für Griechenland ausgezahlten Finanzhilfen konkret verwendet wurden:

"C. Überblick - Verwendung der ausbezahlten Programmmittel:

Bisher ausbezahlte Mittel: 206,891 Mrd.
Davon:
Rekapitalisierung griechischer Banken: mind. 58,2 Mrd. (28,13 Prozent)
GläubigerInnen des griechischen Staates: mind. 101,331 (48,98 Prozent),
davon:

• 55,44 Mrd. für auslaufende griechische Staatsanleihen
• 34,6 Mrd. um GläubigerInnen für den Schuldenschnitt im März 2012 zu gewinnen
• 11,291 Mrd. für den Schuldenrückkauf im Dezember 2012

Griechischer Staatshaushalt: max. 46,46 Mrd. (22,46 Prozent)
Griechischer Beitrag zum ESM: 0,9 Mrd. (0,43 Prozent)

Fazit: Mindestens 77,12 Prozent der Programmmittel flossen direkt (über Bankenrekapitalisierung) oder indirekt (über Staatsanleihen) an den Finanzsektor." (Zitat von "www.attac.at-Hintergrundpapier")

Auffälliger Weise entfernt Bofinger im zitierten Interview sich auch von der weitverbreiteten ursächlichen Vorstellung, dass gerade der Exportüberschuss der führenden Exportländer zur ausweglosen Staatsverschuldung in den wirtschaftlich schwächeren Staaten beiträgt, indem er deren ausländisches Kreditvolumen aufbläht bzw. das Auslandsvermögen in denselben erhöht. Hier wird erkennbar, dass allein finanzpolitische Reglementierung durch zwangsweise auferlegte Umsatzsteuererhöhungen die Lage der EU-Defizitländer nicht grundlegend konsolidieren kann. Sie bleiben der Übermacht der Exportüberschussländer wehrlos ausgeliefert, ohne ihre Wettbewerbsfähigkeit nachhaltig sanieren zu können. Damit ist auf längere Sicht auch keine durchgängige ökonomische Gesundung des EURO-Systems im Normalprozess möglich.

Die Lösung des Euro-Geburtsfehlers, die Folgen der klaffenden und sich verschärfenden ökonomischen Leistungsunterschiede der Teilnehmerländer betreffend, wird durch obige Bofinger-Vorschläge nicht gewährleistet, sondern in ein fortgesetztes Siechtum der Euro-Zone transponiert, das eine Angleichung der europäischen Realökonomien aus der Zielvorstellung verliert, weil sie das Problem der Export- und Leistungsbilanzüberschüsse innerhalb der EU-Länder offenbar wiederum ignoriert. Nötig werden also neue Vorschläge zur Drosselung der potenziellen Exportüberschüsse innerhalb der EU durch gezielte Erhöhungen der Binnenkaufkraft in den EU-Ländern - darunter auch in Deutschland. Was hierbei Deutschland speziell betrifft, so liegen schon von verschiedenen Seiten Vorschläge vor, die Lohnquote am BIP wieder zu erhöhen bzw. die Lohnhöhe mit der gewachsenen Produktivität wieder Schritt halten zu lassen. Dies wird nun wiederum auch von Bofinger gefordert, der sich so im Kreise seiner Vorschläge widerspruchsvoll dreht.

Es gibt für die Länder mit hohen Exportüberschüssen noch einen weiteren Aspekt:

Eine Importsteuer als Teil der inländischen Mehrwertsteuer-Einnahmen fällt hier um denjenigen Teil zu niedrig aus, der auf die Exportüberschüsse ursächlich zurückzuführen ist. Sinken diese Überschüsse (also die Ungleichgewichte in der Makroökonomie) durch eine gezielte Erhöhung der Importe, so verbessert sich die makroökonomische Stabilität in der EWU, aber auch gleichzeitig erhöhen sich die eigenen fiskalischen Einnahmen aus den inländischen Importsteuern. Die Höhe der Mehrwertsteuern insgesamt (für Importe und den binnenländischen Umsatz) ist Teil der fiskalischen Haushaltseinnahmen und daher auch mit Wirkung auf die staatlichen Defizite. Es geht hierbei nicht um den Endpreis von Unternehmen auf der Lieferseite, sondern um die Auswirkung auf den jeweils nationalen Fiskus, der unterschiedlich betroffen ist.

Grundsätzlich gilt für alle EU-Länder: Die binnenmarktmäßige private Kaufkraft wird durch eine allgemeine Erhöhung der Mehrwertsteuern insgesamt reduziert, es wird umverteilt zu Gunsten des Fiskus. Die marktwirtschaftlichen Netto-Einkommen in privater Verfügung sinken entsprechend. Es entsteht neuer ursächlicher Druck auf eine Erhöhung der Exportüberschüsse für die Länder mit Leistungsbilanzüberschuss im Sinne des bekannten volkswirtschaftlichen Bilanzsystems ("Saldenmechanik"), da und solange die nationale Produktivität nicht ausgleichend sinkt, was im Regelfall so zutrifft. "Ein Leistungsbilanzüberschuß (Lb > 0) impliziert hiernach, dass der Finanzierungsüberschuß der Privaten größer ist als ein evtl. bestehendes staatliches Finanzierungsdefizit", wie es in einem bekannten "Lehrbuch zur volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung" hierzu heißt.[2]

Ein Wegfall der Vorzugsbedingungen für den Export (infolge des Wegfalls der bestehenden gezielten "Befreiung von der binnenländischen Mehrwertsteuerpflicht") ist eher ein sinnvoller Vorschlag, der die Exportüberschüsse tendenziell absenken muss. Fällt diese Förderpolitik des Staates für Export generell oder partiell weg, erhöhen sich sofort die Mehrwertsteuereinnahmen des Fiskus zu Lasten des Exports und ebenso zu Gunsten der Reduktion von Haushaltsdefiziten in den Ländern mit Auslandsverschuldungen. Hierauf hat kürzlich Albrecht Müller von der NDS-Redaktion völlig zu Recht nachdrücklich hingewiesen.

Das bestehende widersprüchliche EWU-System kann nur über eine sinnvolle Einführung bzw. Erhöhung der Mehrwertsteuerpflicht für den Export mit dem Ziel der Senkung des einseitigen und übermäßigen Exportüberschusses innerhalb der EU endgültig fiskalisch gesunden. So allein wird der von Bofinger prophezeite "Tanz am Abgrund" vermieden, der den schwachen EU-Defizitökonomien einen zeitlich unbegrenzten Verarmungs- und Verelendungsprozess aufbürdet.


Anmerkungen:

[1] Über die Rolle der Banken bei der Eskalation der Euro-Krise gibt der Report Nr. 82 (Juni 2013) des IMK aktuelle Auskunft.

[2] Frenkel/John, "Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung", Verlag Vahlen, 6. Auflage, S. 29

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Quelle:
© 2013 by Karl Mai
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Juni 2013