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MEINUNG/059: Entwicklungstendenzen des Computer-Kapitalismus (lunapark21)


lunapark 21, Heft 35 - Herbst 2016
zeitschrift zur kritik der globalen ökonomie

Herrschaftsmaschinen
Entwicklungstendenzen des Computer-Kapitalismus

Von Werner Seppmann


I

Die Technikgläubigkeit, die auch in der Linken eine wesentliche Rolle spielt, und die gut geölte Propagandamaschinerie der IT-Branche führten dazu, die inhumanen, anti-emanzipatorischen und zerstörerischen Tendenzen, die in der Digitalwirtschaft und die in einer vom Computer beherrschten Gesellschaft vorherrschen, zu übersehen, zu relativieren und zu verharmlosen.

Obwohl Computer und Internet mittlerweile fast alle Lebensbereiche beeinflussen und viele auch schon dominieren, befinden wir uns erst am Anfang einer Entwicklung, durch die viele der positiven Charakterisierungen, die den Siegeszug der IT-Technologien begleitet haben, in Frage gestellt werden. Zwar hat es schon seit Anfängen seiner Entwicklungsgeschichte kritische Stimmen gegeben, die beispielsweise darauf hingewiesen haben, dass ein unreflektierter Einsatz des Computers zu intellektueller Standardisierung und zu antisozialen Automatismen führe. Jedoch sind die Kritiker (die vieles antizipiert haben, was mittlerweile nur all zu offensichtlich geworden ist!) einsame Rufer in der Wüste der Technikgläubigkeit geblieben.

Zu massiv waren die (zunächst militärischen und staatlichen) Interessen, die seine Entwicklung vorangetrieben haben. Aber attraktiv waren auch die "lebensweltlichen" Versprechen: Der Computer solle die Arbeit erleichtern und dabei behilflich sein, ökonomische Prozesse effektiver zu organisieren. Mit der Ausbreitung des Internets kam noch die Perspektive hinzu, dass der intellektuelle Horizont der Nutzer erweitert und Kommunikationsprozesse intensiviert würden. Mythos und Realität sind jedoch auch beim IT-Komplex nicht deckungsgleich.

Die Dominanz eines positiven Bildes der Digitalisierung im Alltagsleben und in der Arbeitswelt ist zu einem wesentlichen Teil das Ergebnis der erfolgreichen Propaganda und der Einflussarbeit des informationskapitalistischen Komplexes.

Beispiel Google: Seit mittlerweile einem Jahrzehnt lässt der Konzern durch PR-Agenturen erfolgreich das Märchen verbreiten, dass er der "beliebteste Arbeitgeber der Welt" sei. Aber wie sieht die Realität bei dieser "Musterfirma" aus? Gut kann es um das "Betriebsklima" nicht bestellt sein, denn die durchschnittliche Verweildauer von Neuangestellten in diesem Moloch (der Umsatzrenditen von 20 bis über 30 Prozent erzielt) dauert 15 Monate. Man fliegt sehr schnell wieder heraus. Aufgrund des unerträglichen Leistungsdrucks sind viele schnell ausgelaugt und werfen das Handtuch.

Oftmals werden auch in linken Publikationen unter dem Einfluss "progressiver" Computer-Ideologien die Selbstdarstellungen der Digitalwirtschaft von freizeitparkähnlichen Arbeitsbedingungen kolportiert. Doch der Berufsalltag sieht wesentlich prosaischer aus. Der Münchener Industriesoziologe Andreas Boes, der sich seit Jahren immer wieder in den Zentren der Computer-Industrie, auch im Silicon-Valley, umgeschaut hat, berichtet, dass die Arbeitsgeschwindigkeit und der Erfolgsdruck ein unerträgliches Maß angenommen haben. Die betrieblichen Beziehungen seien durch Aggressivität und demonstrative Rücksichtslosigkeit geprägt. Zugrunde liegen diesen Feststellungen übrigens Erfahrungen mit Firmen, die als erfolgreich gelten. Man braucht nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, wie es in den Schwitzbuden der Digitalwirtschaft in Bangladore oder auch in Berlin aussieht.


II

Die IT-Technik ist nicht neutral. So unverzichtbar sie inzwischen in unserem Alltag ist, so ist sie doch zugleich mit der Tendenz zu Oberflächlichkeit und Faktengläubigkeit verbunden. Sie bewirkt einen schleichenden Realitätsverlust und eine fatale Umstrukturierung unseres Denkens. Bereits die Erwartung, eine elektronische Nachricht müsse unverzüglich beantwortet werden, ist inhuman, undemokratisch und irrational.

Zweifellos bietet die Computerisierung viele Vorteile im Arbeits- und im Alltagsleben - und offensichtlich ist auch, dass die Netzkommunikation neuartige Formen sozialer Kooperation ermöglicht hat. Jedoch sind die sozialen und zivilisatorischen Auswirkungen des Einsatzes der IT-Technologien nicht selten fragwürdig oder zumindest ambivalent. Es ist eine prägende Erfahrung besonders mit dem Internet, dass die (oft kleinen) Vorteile mit (teilweise beträchtlichen) Nachteilen verbunden sind: Man kann "kostenlose Dienste" in Anspruch nehmen - und bezahlt doch mit den Verzicht auf informationelle Selbstbestimmung und liefert sich computergesteuerten Beeinflussungsinitiativen aus. Auch kann man sich "informieren" und wird doch systematisch desorientiert. Dennoch scheint es mittlerweile undenkbar, auf den Einsatz der IT-Technologien verzichten zu können, weil der Computer zum unentbehrlichen Bestandteil der sozialen und ökonomischen Vermittlungsprozesse geworden ist.

Aber gerade das erfordert eine besondere Aufmerksamkeit für die problematischen Aspekte der Computerisierung. Mittlerweile kommt es zur lückenlosen Erfassung nicht nur aller Netzaktivitäten, sondern auch des Verhaltens im Alltag. Was nur die Spitze des Eisbergs bildet. Noch geschieht das vorrangig mit kommerzieller Absicht - aber auch die politische Verfügung ist auf Grundlage gegenwärtige Ausspähungs- und Datenverarbeitungssysteme prinzipiell möglich geworden. Die gesamte Apparatur eines Polizeistaates ist, nach den Worten des ehemaligen US-Vizepräsidenten El Gore, schon einsatzbereit. "Wir sind nicht mehr nur auf den Weg in eine neue Gesellschaft, sondern haben sie schon erreicht."

Eklatanter als die skandalöse Erfassungspraxis mit sowohl staatlichen als auch privatwirtschaftlichen Hintergrund sind gegenwärtig jedoch die negativen Auswirkungen der Digitalisierungsprozesse auf die Nutzer. Hierzu zählen eine Tendenz zu Oberflächlichkeit und Faktengläubigkeit, ein schleichender Realitätsverlust und eine Umstrukturierung des Denkens.

Bei der Analyse der fortschreitenden Digitalisierungs-Prozesse fällt schon auf der unmittelbaren Wahrnehmungsebene auf, in welcher Intensität die von Computer und Internet ausgehenden Zwänge und Normierungen das Alltagsleben beeinflussen. So wird mit Hilfe der digitalen Kommunikationsmittel in vielen Bereichen den Menschen ein lebensfeindlicher Rhythmus aufgezwungen. Der offensichtlichste Ausdruck dieser Tendenz ist die Erwartung, dass auf eine elektronische Nachricht unverzüglich geantwortet wird.

Es entwickeln sich veränderte Verhaltensweisen und Normen, die eine Verfestigung bestehender Repressionsverhältnisse bedeuten; die Menschen werden nicht nur überwacht und kontrolliert, sondern auch verwertungskonform geprägt. Mit dem Computer wird zwar nichts bewirkt, was nicht auch ohne ihn geschehen würde, aber mit seiner Hilfe können die Vorgänge der Verfügung und "leistungsgesellschaftlichen" Instrumentalisierung mit größerem Grad an Effizienz organisiert werden. Wer die Meinung vertritt, dass die IT-Technik "neutral" sei, sollte nicht übersehen, dass sie bei der Durchsetzung herrschender Interessen eine Hebelwirkung besitzt: In ihrer Haupttendenz sind Computer und Internet wichtige Hilfsmittel, um dem Kapitalismus trotz seiner enormen Krisentendenzen und seiner zunehmenden Fragilität weiter über die Runden zu helfen. Und vieles deutet darauf hin, dass die Negativ-Geschichte der Digitalisierung des Sozialen noch lange nicht zu Ende ist!


III

Durch den Einsatz der kombinierten Kommunikations- und Informationstechnologien erfolgt eine zunehmende Verfügung über die Lebenszeit der Menschen entsprechend den Bedürfnissen intensivierter Kapitalverwertungsstrategien. IT-Technologie und Neoliberalismus verschmelzen miteinander und verstärken sich wechselseitig bei Ausbeutung, Mehrwertauspressung und Unterwerfung der Menschen unter die Kapitallogik.

Jonathan Crary, der in seinem Buch "24/7 - Schlaflos im Spätkapitalismus" die "Durchökonomisierung in einer Daueralarmgesellschaft" kritisiert, konstatierte: "Die persönliche Identität wird [in der computerisierten Gesellschaft] so umgeformt, dass sie mit der ununterbrochenen Tätigkeit der Märkte, Informationsnetze und anderer Systeme in Einklang gebracht werden kann." Die digital flankierten Anpassungsprozesse sind die aktuellen Mechanismen, mit denen der neoliberal auf Vordermann gebrachte Kapitalismus sich jene Menschen schafft, die er für sein reibungsloses Funktionieren benötigt. Zur Realisierung dieser umfassenden Umwandlung der Subjekte haben sich Neoliberalismus und IT-Technologie miteinander zu einer fast ununterscheidbaren Einheit verschmolzen.

Verallgemeinert haben sich beispielsweise eklatante Mehrfachbelastungen. Im modischen Jargon als "Multitasking" bezeichnet, geht es um eine Art digital organisierten Taylorismus, durch den erzwungen wird, dass die Menschen permanent zwischen verschiedenen Anforderungen hin- und herspringen müssen. Auch sorgt der Computer dafür, dass der Pegel beruflicher Anforderungen immer hoch bleibt. Meist steigt er sogar, beispielsweise in Gestalt ununterbrochener Mail-Eingänge, die bearbeitet werden müssen: Überforderung wird als Lebensprinzip institutionalisiert, dadurch die Fähigkeiten zur Konzentration und Reflexion beschädigt.

Zur Formatierung eines verwertungsoptimierten Menschen wird systematisch versucht, rationale Kontrollinstanzen zu unterlaufen, Gefühle zu stimulieren und zu Manipulationszwecken in die Bereiche des Un- und Vorbewußten einzudringen. Organisiert wird dieses Vorgehen mit Hilfe der verbreiteten digitalen Kommunikationsgeräte (Tablets und Smartphones). Je mehr sich dabei die Menschen den digitalen Welten ausliefern (den Apps-"Hilfen", aber auch im Fall der "Welterkundung" via Google etc.), verstärken sie die Wirkungen der Systeme der Fremdsteuerung, dessen Grundlage mittlerweile eine Erfassung aller Netz- und Lebenstätigkeiten ist, die zum Totalitären tendiert.

Das ist kein Zufall. So wie das Verhalten der Nutzer mit informationstechnologischen Methoden erfasst wird, findet auch ihre Steuerung nach den neuesten Erkenntnissen der Beeinflussungspsychologie statt - und zwar mit einem Wirkungsgrad, der alle Konzepte der Bewusstseins- und Konsummanipulation der Vergangenheit in den Schatten stellt. Die Digitalisierung macht es möglich: Es werden beispielsweise bei der Smartphone-Nutzung Apps eingesetzt, die suchtähnliche Zustände hervorrufen - was von den Protagonisten des IT-Komplexes (noch nicht einmal hinter vorgehaltener Hand) auch eingestanden wird. Der manische Umgang mit den Smartphones ist also keineswegs Zufall. Diese sind gezielt so programmiert, dass die Nutzer durch die Stimulierung von biochemischen Prozessen gelenkt werden können. Die sichtbarste Konsequenz ist das Verlangen nach immer intensiveren Netz-Aktivitäten.


IV

Die (nicht mehr ganz so neuen) Medien wie Facebook und Twitter sind in erster Linie Gleichschaltungsmaschinen. Sie verstärken die herrschende Ideologie als die Ideologie der Herrschenden. Sie sind dabei auch deshalb so erfolgreich, weil sie den Beherrschten die Scheinfreiheit direkter Kommunikation mit einer anonymen Masse von Beherrschten gewähren.

Auch die "Sozialen Netzwerke" sind nicht primär Instrumente zur intensivierten Kommunikation, wie dies von den Computer-Ideologen behauptet wird. In der Regel ist sogar das Gegenteil der Fall: Die elektronische Kommunikation im Alltag verbindet und isoliert zugleich. Man hat hunderte "Freunde", aber kaum noch verlässliche Bezugspersonen. "Social Media erzeugen Zersplitterung, eine Echokammer, Isolation." So Andrew Keen, u.a. Autor von "Das digitale Debakel". Die totale Vernetzung erhöht die Kommunikationsfrequenz, institutionalisiert jedoch gleichzeitig Distanz und konstituiert eine unsichtbare Wand, die Nähe vortäuscht, sie faktisch jedoch verhindert. Die jungen Menschen sitzen sich im Bistro gegenüber, aber schauen sich nicht in die Augen, sondern jeder auf sein Handy. Dominant bei der digitalen Kommunikation sind inhaltliche Oberflächlichkeit und normative Beliebigkeit, Selbstpräsentationen nach Werbeschablonen und der Austausch von Belanglosigkeiten.

Eine aufschlussreiche Facette der kommunikativen Regressionsvorgänge ist die Verbreitung von Haßtiraden und von rassistischen Vorurteilen, von Vernunftverweigerung und Fremdenfeindlichkeit. Mit den "sozialen Medien" werden nicht primär linke Mobilisierungen in einem relevanten Umfang, sondern PEGIDA-Aufmärsche organisiert. Durch die Internet-Welten wird auch eine neue Form ideologischer Spiegelung konstituiert, durch die Netz-Dienste wird eine die Realität überlagernde Kunst- und Ersatzwelt geschaffen. Vor allem jedoch sind die neuen Medien auch "Gleichschaltungsmaschinen": Mit ihnen wird eine bereits verbreitete Bereitschaft verstärkt, sich den Mehrheitsmeinungen und den hegemonialen Einstellungstrends anschließen.

Die Vervielfältigungswirkung herrschender Orientierungen durch digitale Kommunikationsmittel wurde durch die Initiative einer Internet-Plattform deutlich, die ihre Teilnehmer aufgefordert hatte, favorisierte Bilder zu verbreiten. Das Ergebnis war - anders als erwartet - keine Vervielfachung und Intensivierung ästhetischer Erfahrungen, denn in der Mehrzahl wurden bloß jene Bilder an andere Nutzer weitergeleitet, die die Beteiligten im Rahmen dieses Projekts selbst erhalten hatten. Die intendierte Seh- und Erlebniserweiterung endete in einer medialen Kreisbewegung, in der Verbreitung des Immergleichen.


V

Google und Wikipedia erschienen lange Zeit erstens als Wissensbringer und zweitens als nicht gewinnorientiert. Sie erschienen als "die Guten" in der IT-Welt. Eine solche Wertung war bereits früher problematisch. Inzwischen hat sich die Situation drastisch verändert: Google hat sich zu einer primär an der Profitmaximierung und an Werbeeinnahmen orientierten IT-Krake entwickelt. Das Wissen, das Google und Wikipedia vermitteln, ist oft einseitig, meist von der herrschenden Ideologie bestimmt und zunehmend sogar direkt kommerziell beeinflusst. Vor allem aber führt die Nutzung dieser IT-Medien zu einem Verlust von kritischer Denkfähigkeit - problematische Veränderungen des menschlichen Gehirns (neuronale Regressionen) inbegriffen.

Die netzspezifische Wissensdistribution, für die symbolisch die Namen Google und Wikipedia stehen ist alles andere als unproblematisch. Untersuchungen dokumentieren, dass im Internet nur derjenige etwas Relevantes findet, der in der Lage ist, gezielt zu recherchieren und ungefähr weiß, was er sucht. Wer kein Vorwissen besitzt, bleibt bei der Netz-Nutzung Spielball fremder Interessen. Er wird systematisch an der Nase herum geführt, denn es wird ausgenutzt, dass der durchschnittliche Google-Nutzer nur die ersten beiden Einträge zur Kenntnis nimmt. Bei diesen handelt es sich in der Regel um kommerzielle Schaltungen.

Aber Google ist nicht nur ein Werbemoloch, der immer präziser das Netzverhalten der Nutzer erfasst, um Reklame zu platzieren. Es handelt sich auch um eine Einrichtung zur inhaltlichen Manipulation. Gibt man beispielsweise die Suchbegriffe "Digitale Bildung" oder "Kritik des Computerlernens" ein, erscheinen auf der ersten Seite ausnahmslos PR- und Propagandatexte von Verfechtern einer Intensivierung des "Automaten-Lernens". Bei vielen dieser "Interpretationsangebote" wird noch nicht einmal zu verschleiern versucht, dass Softwarefirmen die Fäden im Hintergrund ziehen und deren vom Kommerz geprägte Sichtweisen vertreten werden. Hinweise auf Portale und Einträge mit kritischer Tendenz über diesen wichtigen Problemkomplex sind mit "Google-Hilfe" nur mit Mühe zu finden. Eine Konsequenz der Nutzung der gängigen Portale ist der Kontrollverlust über die Informationen, weil den Nutzern die ihnen zugrunde liegenden Entstehungsvorgänge in der Regel nicht nachvollziehbar sind. Zwar gibt es auch progressive Informationen im Internet. Aber um sie nutzen zu können, muss man wissen, wo sie zu finden sind. Lässt sich der Nutzer nur treiben, werden (nicht nur durch die Google-Dienste) neuronale Regressionsvorgänge stimuliert: Das Gehirn verändert sich und die Fähigkeit zur Konzentration und zur Unterscheidung bildet sich analog zu den inhaltlichen Regressionen zurück.

Es ist mehr als nur eine provokante Rhetorik, wenn der US-amerikanische Autor Nicholas Carr als Resultat aufmerksamer Selbstbeobachtung die Frage aufwirft, ob "Google uns dumm" macht. Er führt dazu aus: "Während der letzten Jahre hatte ich das unangenehme Gefühl, dass irgendwas oder irgendjemand mit meinem Hirn spielt, die neuronale Architektur umbaut, meine Erinnerung umprogrammiert. Ich denke nicht mehr, wie ich zu denken gewohnt war".

Damit dies so bleibt, werden die Systeme der Fremdverfügung permanent "verfeinert". Wohin die Reise geht, verdeutlicht eine im letzten Jahr zunächst in den USA von Google eingeführte Neuentwicklung, durch die eine automatischen Beantwortung von E-Mails ermöglicht werden soll: Dem Empfänger werden konkrete Vorschläge unterbreitet, wie er antworten könnte. Nicht erst langfristig wird die automatisierte Mail-"Kommunikation" zu einer Gespensterwelt, einem Austausch bloßer Sprechblasen, zur Institutionalisierung eines "aneinander Vorbeiredens", zur kommunikativen Degradierung aller Beteiligten als Konsequenz dieses elektronisch gesteuerten "Austausch"-Prozesses führen.

Solche Dienste sind zwar absurd. Doch sie repräsentieren genau das, was die Silicon-Valley-Milliardäre eine "Verbesserung der Welt" nennen.


VI

In der Arbeitswelt führt die Computerisierung zum größten Angriff auf die Beschäftigten seit Erfindung des Fließbandes.

Besonders deutlich zeigen sich die negativen Konsequenzen der Digitalisierung in der Arbeitswelt. Gewerkschaftsrepräsentanten singen - im Chor mit Kapitalvertretern - in ihrer Mehrheit ein fröhliches Lied über die Vorzüge der Digitalisierung für den "Standort Deutschland". Es wird zwar von Gewerkschaftsseite auch von Risiken für die Beschäftigten gesprochen, aber gleichzeitig der Eindruck erweckt, als ob Vor- und Nachteile sich zumindest in einem Gleichgewichtsverhältnis befänden. Die Rede ist von einer "Umlenkung und Ausschöpfung der 'Digitalisierungsdividende'" zum Vorteil der Beschäftigten und einer Ummünzung der "technischen Umbrüche ... in gesellschaftlichen Fortschritt". So formulierte es der Ver.di-Vorsitzende Frank Bsirske.

Aber wie sieht die Realität aus? Gerade in von Ver.di betreuten Branchen haben sich schon weitgehend die Mitarbeiterlenkung, automatisierte Aufgabenverteilung und eine elektronische Leistungskontrolle durchgesetzt. Das gilt in vielen Verwaltungsbereichen des Öffentlichen Dienstes, jedoch noch stärker für die Supermarktkassen und bei der computergesteuerten Arbeitshetze in den Logistikzentren. Jede Regung der Kassiererin wird erfasst und die Lagerarbeiter beispielsweise tragen Computer am Körper, die jeden Handschlag registrieren und jeden Arbeitsschritt vorschreiben.

Vergleichbares gilt für die Industrie aus, für die die IG-Metall zuständig ist. Das für "technologische Innovationen" verantwortliche Vorstandsmitglied spricht zwar vom "gestaltenden Einfluss" seiner Gewerkschaft auf die "gravierenden Umbrüche" in den Betrieben. Aber wie sehen die konkreten Umsetzungen in der Metall- und Autoindustrie aus? Beispielsweise wird bei VW mit den sogenannten Google-Brillen gerade eine besonders intensive Form elektronischer "Mitarbeiterführung" installiert - und zwar mit Unterstützung des Betriebsrates. Auf den ersten Blick sehen die Dinger relativ harmlos aus. Die in den Brillen eingebaute Elektronik registriert die Arbeitsvorgänge und gibt den Beschäftigten mit Hilfe implantierter Konstruktions- und Servicepläne (die auf die Innenseiten der Brille projiziert werden) Hinweise auf ein sachgerechtes Vorgehen. Das mag man als Arbeitserleichterung verstehen.

Aber die Sache hat natürlich einen kapitalistischen Haken. Die Mini-Computer auf der Nase unterstützen nicht nur die einzelnen Arbeitsschritte. Sie registrieren auch jede Blickrichtung und jeden Handgriff der Arbeitenden. Das geschieht aus Kontrollgründen - aber nicht nur. Es geht auch darum, die Handlungsmuster zum Zwecke ihrer "Objektivierung" zu erfassen: Die Fertigkeiten der Arbeitenden sollen gespeichert, ihr implizites Wissen "generalisiert" und für andere Anwender nutzbar gemacht werden. Mit einem Wort: Den qualifizierten Produzenten soll ihr Können enteignet werden. Damit werden sie perspektivisch überflüssig. Sie können durch schlechter bezahlte Hilfskräfte ersetzt werden. Das ist einerseits das Grundprinzip des Taylorismus, was wiederum Grundlage der Revolutionierung der Arbeit u.a. mittels Fließbandes ist. Das ist andererseits der größte Angriff auf die Interessen der Lohnabhängigen seit der Einführung des Fließbandes.


VII

Neue IT-Techniken wie Apps verstärken die Entfremdung, indem sie eine permanente Selbstbeobachtung ohne kritische Reflektion und eine Erosion der Ich-Identität fördern. Die oft durchaus hilfreichen Navigationssysteme in Pkw oder mittels Google-Earth führen zum Verlust der geographischen Orientierung. Kurz: Es kommt zunehmend zu einer Orientierungslosigkeit in umfassender Form.

Angesichts der Perspektivpläne der IT-Industrie, die eine immer umfassendere Erfassung und Steuerung intendieren, spitzt sich die Frage dramatisch zu, wie wir eigentlich leben und arbeiten wollen, wie überhaupt noch personale Integrität und Selbstbestimmung realisiert werden können. Dabei sind die Chancen eines Perspektivwechsels durch die Verschmelzung von Unterwerfungshaltungen geringer geworden.

Ausdruck dieses Trends ist die Verbreitung digitaler Erfassungs- und Beeinflussungsnetze als Mittel individueller Selbstoptimierung. Zum Einsatz kommen zunehmend Anwendungsprogramme für die Smartphones (sog. Apps), um den Tagesablauf zu strukturieren und zu kontrollieren. Beispielsweise um zu überprüfen, was im Rahmen eines Fitness-Programms körperlich geleistet wurde. Aber auch das ist nur eine Zwischenstufe: Die Zielprojektion der IT-Multis geht von der "Überwindung" gegenwärtiger Geräteabhängigkeit durch molekulare Computer und biometrische Sensoren aus.

Vieles was mittlerweile auf Knopfdruck festgestellt werden kann, dient zur Selbstobjektivierung: Habe ich mich genug bewegt und bei meiner Nahrungsaufnahme "maßgehalten"? Diese Verfahrensweise ist jedoch nicht unproblematisch: Permanente Selbstbeobachtung, die von kritischer Reflexion abgeschnitten ist, führt nicht zum angestrebten Autonomiegewinn, sondern verstärkt latente Verunsicherungsgefühle und eine daraus resultierende Unterwerfungsbereitschaft. Sie führt zu keinem selbstbestimmten Weltverhältnis, weil die "Arbeit am eigenen Profil" in der Regel ununterscheidbar mit den "Erwartungen des Marktes" und mit den gestiegenen Anforderungen der Unternehmen an die Lohnabhängigen verbunden ist. Vor diesem Hintergrund sind die sich selbst "optimierenden" Subjekte bemüht, ihre körperlichen, aber auch ihre psycho-sozialen Voraussetzungen zu verbessern, um unbeschränkt leistungsfähig und mobil, entgrenzt und flexibel zu sein - und auch so zu wirken. Der Preis für diese Konkurrenzpositionierung, das Streben so zu sein, wie es die Anderen es erwarten, ist über die körperliche Ertüchtigung hinaus, die Herausbildung eines "Marketing-Charakters" und die Erosion der Ich-Identität.

Dadurch dass die elektronischen Krücken für die Nutzer immer (lebens-)wichtiger werden, verlernen sie es, "eigene Wege" zu finden und sich selbstbestimmt zu bewegen. Sehr deutlich ist das bei den Navigationssystemen in den Autos: Die Gewöhnung an dieses digitale Hilfsmittel führt langfristig nicht nur zum Verlust der Fähigkeit der geographischen Orientierung, sondern auch zur Rückbildung räumlicher Denkfähigkeit. Tendenziell wird die Weltwahrnehmung zusammenhanglos und bruchstückhaft.

Isoliert betrachtet, wirken viele auch der problematischen Computerwirkungen wie vernachlässigbare Episoden. In Rechnung zu stellen ist jedoch immer, dass sie nur Element eines umfassenden und zum Totalitären tendierenden Systems der Beeinflussung, Manipulation, Fremdverfügung und der Subjektformatierung sind.


VIII

Computervermittelte Wissensaneignung und "Informationsarbeit" vor dem Bildschirm stehen in Widerspruch zur gedanklichen Erfassung und zur Durchdringung von Sachverhalten; intensives Nachfragen und kritische Reflexion werden erst gar nicht gelernt.

Die Erfahrungen mit den Navigationssystemen sind nur ein Beispiel von vielen dafür, dass Computer und Internet nur selten die in sie gesetzten Erwartungen in der propagierten Weise erfüllen. Das ist auch bei ihrer Rolle als Bildungsmedien der Fall! Dennoch glauben viele (Mittelschichts-)Eltern, die "das Beste" für ihre Kinder wollen, ein früher Einsatz des Computers als Lernmaschine, würde deren schulischen Leistungen steigern und für ihre intellektuelle Entwicklung förderlich seien. Tatsächlich ist bei vielen Varianten der Computer-"Pädagogik" das Gegenteil zu konstatieren: Kognitive Entwicklungen werden ebenso behindert, wie emotionale Prozesse gestört.

Die Fakten sprechen eine deutliche Sprache: In einem Vergleich mit Kindern, die selektiv und sparsam mit Computern als Lernmedium umgehen, schneiden Lernende mit intensiver Computernutzung auf allen relevanten Feldern negativ ab. Bei Kindern, die intensiv mit Computer-Software traktiert werden, ist beispielsweise eine geringere Verarbeitungstiefe des Lernstoffes festzustellen. Weil spezifische Gehirnverknüpfungen nicht stattfinden, bleibt das "Wissen" oberflächlich. Die negative Beeinflussung der Aneignungsfähigkeit und -intensität drückt sich auch in reduzierten neuronalen Verknüpfungen und damit zusammenhängenden verschlechterten Gedächtnisleistungen. Die Ressourcen zu Phantasiebildung bleiben unterentwickelt. Organisiert wird ein kollektiver Gedächtnisverlust: Der Digital-Kapitalismus schickt sich an, nach den natürlichen Lebensgrundlagen, auch noch die kulturelle Potenziale zu zerstören.

In der Regel ist computervermittelte Wissensaneignung kaum geeignet, ein intensives Nachfragen zu fördern. "Informationsarbeit" vor dem Bildschirm stellt in wesentlichen Belangen ein Gegensatzprinzip zur gedanklichen Erfassung und zur Durchdringung von Sachverhalten dar. Der Computer fördert die Praxis eines erfahrungslosen Lernens, bei dem die Aneignungseffekte gering bleiben, weil nur ein enges Spektrum mentaler und emotionaler Fähigkeiten stimuliert wird. In einer OECD-Studie aus dem Jahre 2015 wird die Problematik digitalisierter Wissensvermittlung pointiert auf den Punkt gebracht: Auch die stärkste Technik kann selbst schwachen Unterricht nicht ersetzen: Computer-Lernen bleibt regelmäßig hinter der Intensität personalisierter Formen der Wissensaneignung zurück.

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Mit den notwendigerweise knappen Hinweisen kann nur angedeutet werden, worum es bei einer kritischen Beschäftigung mit den gegenwärtigen Verwendungsweisen des Computers geht: Herausgearbeitet werden muss dessen Beitrag bei der Organisation der selbstdestruktiven Vergesellschaftungsformen eines späten Kapitalismus. Nicht unerwähnt bleibt, dass durchaus vorhandene emanzipatorische Potenziale der neuen Technologien existieren. Diese bleiben jedoch durch ihre herrschenden Verwendungs- und Wirkungsweisen verschüttet. Der reformistische Traum, dass evolutionär aus den digital-kapitalistischen Verhältnissen der Sozialismus erwachen würde, der gegenwärtig von Paul Mason ("Postkapitalismus") reanimiert wird, rechtfertig praxisabstinente Haltungen und ist ideologisches Stabilisierungselement realkapitalistischer Verhältnisse.


Werner Seppmann studierte nach Berufstätigkeit Sozialwissenschaften und Philosophie und blickt auf eine langjährige Zusammenarbeit mit Leo Kofler zurück. Er war Vorstandsmitglied und zeitweilig Vorsitzender der Marx-Engels-Stiftung, Wuppertal, und langjähriger Mitherausgeber der Marxistischen Blätter. Jüngere Buchveröffentlichungen: Kapitalismuskritik und Sozialismuskonzeption - in welcher Gesellschaft leben wir? (2013), Neoliberalismus, Prekarisierung und zivilisatorischer Zerfall. Der lange Schatten von Hartz IV (2015), (zusammen mit Erich Hahn und Thomas Metscher) Kritik des gesellschaftlichen Bewußtseins. Über Marxismus und Ideologie (2016), Kritik des Computers. Der Kapitalismus und die Digitalisierung des Sozialen (2016).
Kontakt: wernerseppmann@aol.com

Vom Autor ist soeben erschienen: "Herrschaftsmaschine oder Emanzipationsautomat. Über Gesellschaft und Computer", Bergkamen, pad-Verlag 2016 (pad-Verlag@gmx.net).

Zum Jahresende erscheint von Werner Seppmann "Kritik des Computers. Der Kapitalismus und die Digitalisierung des Sozialen"
(www.mangroven-verlag.de).

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Inhaltsverzeichnis lunapark 21, Heft 35 - Herbst 2016

lunart: Sarah Marie Zoozmann • Pusteblume
editorial
quartalslüge: "IT ist kreativ und verbindet Menschen"
kolumne winfried wolf: Der A380-Skandal

welt & wirtschaft
Sebastian Gerhardt • Die US-Wirtschaft ist nicht erkältet, viele Bürger schon
Hannes Hofbauer • Kanzler Kern: "New Deal für Österreich"
Hannes Hofbauer • Migration: Osteuropa blutet aus

soziales & gegenwehr
Ali Ergin Demirhan • Türkei: Neoliberaler Islamismus
Daniel Behruzi • Reha-Klinik Median: Profitmaximierung durch Tarifflucht
Anselm Lenz • Das Kapitalismustribunal - eine faire Abrechnung: das Beispiel Primark
lunart Lucie Biloshytskyy • Satisfaktion
Hau den Lukas & Kurznachrichten zu Primark

feminismus & ökonomie
Therese Wüthrich • Die feministische Ökonomin Mascha Madörin
Interview mit Mascha Madörin
Gisela Notz • Roboter-Küchen sind Frauen-Küchen

spezial > digitalisierung • big data-monopole • zerstörung
Werner Seppmann • Entwicklungstendenzen des Computer-Kapitalismus
Werner Seppmann • Zur politischen Ökonomie der Internetwirtschaft
Rainer Fischbach • Die Digitalisierung der Arbeitswelt
Ralf Lankau • Paralysierte Kids, die tippen & wischen.
Werner Rügemer • Wikipedia: "Wissen der Menschheit" zwischen Naivität & Fälschung
Bernhard Knierim • Autonomes Fahren: Versprechungen & unwägbare Risiken
lexikon Georg Fülberth • Barbarei

der subjektive faktor
Carl Waßmuth • Autobahnprivatisierung: Private Profite mit maroden Straßen

energie & umwelt
Klaus Meier • "Kühlgrenztemperatur": tödlich

zeit & ort
Sebastian Gerhardt • Jackson Hole. Kritischer Besuch beim Treffen der Zentralbanker

märchen des neoliberalismus 6
Patrick Schreiner & Kai Eicker-Wolf • "Lohnsenkungen stärken die Wirtschaft!"

geschichte & ökonomie
Thomas Kuczynski • Revolutioniert "Industrie 4.0" den Charakter der Arbeit?

seziertisch 172 • Georg Fülberth • Fall Reil

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Quelle:
Lunapark 21, Heft 35 - Herbst 2016, Seite 34 - 41
Herausgeber: Lunapark 21 GmbH, An den Bergen 112, 14552 Michendorf
Telefon: 030 42804040
E-Mail: www@lunapark21.net
Internet: www.lunapark21.net
 
Lunapark 21 erscheint viermal jährlich.
Einzelheft: 5,90 Euro + Porto, Jahres-Abo: 24,00 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 26. November 2016

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