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REDE/427: Ursula von der Leyen - Regierungserklärung zur Wirtschaftspolitik, 23.04.2010 (BPA)


Presse- und Informationsamt der Bundesregierung
"REGIERUNGonline" - Wissen aus erster Hand - 23.04.2010

Rede der Bundesministerin für Arbeit und Soziales, Dr. Ursula von der Leyen, zur Wirtschaftspolitik für Wachstum und Arbeitsplätze vor dem Deutschen Bundestag am 23. April 2010 in Berlin


Herr Präsident!
Meine Damen und Herren!

Wir haben die Krise noch lange nicht überwunden. Wir befinden uns aber in einer Phase, in der wir langsam, aber sicher sehen, wie wir Schritt für Schritt aus der Krise herauskommen. Wir befinden uns in einer Zeit, in der wir die Weichen neu stellen müssen.

Es ist nicht eine Zeit des Zauderns und Zurückblickens, sondern es ist eine Zeit des Vorwärtsschauens und eine Zeit des Mutes, zu handeln. Wir dürfen zum einen den auch international sehr beachteten Erfolg des robusten deutschen Arbeitsmarktes nicht auf den letzten Metern verspielen, aber ebenso müssen wir den Blick auf die nächste Etappe richten. Diese beiden Ziele sind im Beschäftigungschancengesetz enthalten.

Dass wir im Krisenjahr 2009 so gut gefahren sind, verdanken wir neben einem sehr klugen Krisenmanagement vor allem der Kurzarbeit. Die Kurzarbeit verhindert Arbeitslosigkeit. Das war nicht nur ein Beitrag der Arbeitgeber durch die Haltekosten, die sie getragen haben, und der Politik, die das Kurzarbeitergeld bewilligt hat; es ist vor allem ein Erfolg der Beschäftigten gewesen, die Lohneinbußen auf sich genommen haben, um ihre Arbeitsplätze zu halten. Das sollte in der Diskussion über die Kurzarbeit ausdrücklich honoriert werden.

Die Kurzarbeit wird vor allem vom Mittelstand genutzt. Die Kurzarbeit sichert den Unternehmen eine gut eingespielte Belegschaft, die sie für den nächsten Auftrag brauchen, sonst können sie ihn nicht annehmen. Die Unternehmen brauchen jetzt Planungssicherheit, vor allem für 2011. Deshalb ist es richtig, dass wir Ende des letzten Jahres nicht das Fallbeil haben runtersausen lassen und die konjunkturelle Kurzarbeit beendet haben, sondern die Regelungen zur Kurzarbeit erst zum März 2012 auslaufen lassen. Das bedeutet Planungssicherheit für die Unternehmen. Das sichert den Mittelstand ab und vor allem die innovativen Belegschaften für den Aufschwung, den wir brauchen.

Wir stehen jetzt vor zwei großen Herausforderungen: Es geht nicht nur um die Beschäftigungssicherung in der Krise; wir müssen vor allem auch einen Blick auf den Arbeitsmarkt haben, wie er in der Zukunft aussehen wird. Der Arbeitsmarkt der Zukunft wird vor allen Dingen durch zwei Phänomene, durch zwei Fragen geprägt werden: Welche Fachkräfte brauchen wir für die Jobs der Zukunft, und vor allem, woher sollen sie kommen? Wenn wir das schlecht machen, wenn wir stur nach den bisherigen Mustern vorgehen, dann kann man vorhersehen, was kommt. Dann werden wir in 20 Jahren fünf Millionen Beschäftigte weniger haben. Wir werden einen dramatischen Fachkräftemangel haben, und wir werden gleichzeitig Massenarbeitslosigkeit erleben.

Das heißt, dass wir unabhängig davon, ob wir eine Krise haben oder nicht, wahrnehmen müssen, dass ein demografischer Wandel und ein Strukturwandel stattfinden. Mit anderen Worten: Wenn wir es besser machen wollen, wenn wir jetzt Schritte in Richtung Zukunft gehen wollen, dann müssen wir auch anfangen, neu zu denken.

Niemand bestreitet mehr, dass sich in einer Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft der Arbeitsmarkt dramatisch verändert. Sie können das Monat für Monat an den Arbeitsmarktstatistiken erkennen. Auf der einen Seite muss man sehen, wer arbeitslos wird. Auf der anderen Seite muss man schauen, wer in die wachsende Zahl offener Stellen hineindrängt. Wenn man das auf den Punkt bringt, dann heißt das eigentlich, dass der Arbeitsmarkt, ob es uns passt oder nicht, weiblicher und internationaler wird und die Belegschaften älter werden. Deshalb ist es jetzt an der Zeit, dass wir die Chancen für diejenigen neu ausrichten, die ganz unabhängig davon, ob wir Boomzeiten oder eine Krise hatten, weit unter ihren Möglichkeiten bleiben mussten. Das bezieht sich übrigens nicht nur auf diejenigen, die im Arbeitsmarkt sind, sondern vor allem auf diejenigen, die draußen sind. Dafür stellen wir mit dem Beschäftigungschancengesetz die Weichen. Das ist ein Anfang. Das ist noch nicht die Antwort auf alles; aber wir stellen damit die Weichen, die wir jetzt stellen müssen. Deshalb ist es richtig, das Beschäftigungschancengesetz auf den Weg zu bringen.

Dieses Gesetz gibt uns die Möglichkeit, durch die Jobcenterreform erstens eine solide, eine verlässliche Basis für eine schnelle und gezielte Vermittlung in Arbeit herzustellen. Es ist allerhöchste Zeit. Alle hier im Hohen Haus wissen, dass Ende des Jahres das Fundament der Arbeitsvermittlung quasi gesprengt worden wäre.

Ich sage Ihnen: Zweieinhalb Jahre hat es Streit gegeben; aber jetzt hat sich eine Allianz der Vernünftigen im Bundesrat und im Bundestag zusammengefunden, eine Allianz der Vernünftigen, die die Interessen des Landes, die Interessen der Menschen, die arbeitslos sind, und die Interessen einer Wirtschaft, die krisengeschüttelt ist, über ihre eigenen, kleinkarierten parteipolitischen Interessen gestellt hat. Deshalb gilt mein Dank stellvertretend Frau Homburger, Herrn Kauder und Herrn Steinmeier als Fraktionsvorsitzenden. Frau Künast, es tut mir leid, Sie sind nicht dabei. Das stört Sie, das merkt man; es sind genau die drei, die ich eben stellvertretend genannt habe.

Mein Dank gilt den Ländervertretern, Herrn Beck und Herrn Tillich. Mein Dank gilt auch den unermüdlichen Unterhändlern dieser Reform in diesem Haus. Das waren Herr Kolb stellvertretend, Herr Schiewerling stellvertretend und Hubertus Heil stellvertretend. Diesen Dank sollten wir gemeinsam aussprechen.

Wir schaffen mit dieser Jobcenterreform zweitens ein lernendes System, nicht ein System, das zurückschaut, sondern ein lernendes System, das zeitnah überall in Deutschland Transparenz herstellt, sodass wir sehen können: Wer macht es gut? Was können wir von denen vor Ort lernen? Wer macht es schlecht? Wer muss von den besten Beispielen lernen, wie man die Menschen, die es besonders schwer haben, in den ersten Arbeitsmarkt vermittelt?

Es geht nicht um irgendein Produkt, sondern um Menschen, die Hilfe suchen. Die Arbeitsvermittlung hat in den vergangenen Jahren einen deutlichen Modernisierungskurs eingeschlagen; das ist unbestritten. Der Erfolg ist messbar. Die Zahl der Langzeitarbeitslosen ist gesunken. Aber wir alle wissen: Wir wollen und müssen besser werden. Das betrifft vor allem die drei Gruppen, die bislang auch in konjunkturell guten Zeiten nicht vom Aufschwung profitieren konnten. Wir wollen uns nicht mit der Tatsache abfinden, dass fast jede zweite Alleinerziehende in Langzeitarbeitslosigkeit ist. Das sind 660.000 Alleinerziehende mit einer Million Kindern; diese machen rund die Hälfte der Kinder in Hartz IV aus. Wir wollen uns nicht mit der Tatsache abfinden, dass rund 200.000 arbeitslose Jugendliche schon am Lebensanfang keine Chance haben, mitzukommen.

Herr Heil, gerade von Ihnen hätte ich eigentlich nicht erwartet, dass Sie von schönen Überschriften reden; denn Sie gehörten bei der Jobcenterreform zu der Allianz der Vernünftigen. Ja, ich meine das aufrichtig. Ich finde, man muss sich nicht immer nur im kleinkarierten Parteienstreit verhaken; es ist auch wichtig, Gemeinsamkeiten zu benennen.

Sie haben den Prozess selber mitbekommen. Die Politik hat sich aus unterschiedlichen Gründen auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene auseinanderdividiert und konnte keinen gemeinsamen Nenner finden, wie wir die Arbeitslosenvermittlung vor Ort regeln.

Mir ist wichtig, dass wir bei diesem Punkt klarstellen: Zweieinhalb Jahre hat es diese Auseinandersetzung gegeben. Dass sich jetzt die Richtigen zusammengefunden haben und die richtige Reform auf den Weg gebracht wurde, betrachten wir mit hohem Respekt. Das war unabhängig von Wahlen. Hier haben sich Menschen zusammengetan, um den richtigen Weg zu gehen.

Sie wissen ganz genau, dass sie aus wahltaktischen Gründen eigentlich kein großes Interesse daran gehabt haben, dies zu machen. Wir haben es gemeinsam - darauf lege ich Wert - geschafft, für die Menschen, die Hilfe brauchen, eine Lösung zu finden.

Nächster Punkt. Sie wissen, dass die Unterhändlergruppe gute Arbeit geleistet hat; das habe ich eben anerkannt.

Herr Heil, ich glaube nicht, dass ein Erfolg möglich gewesen wäre - das wissen auch Sie -, wenn sich nicht diejenigen, die die Entscheidung zu vertreten haben, zusammengetan und Ja zu dieser Reform gesagt hätten.

Jetzt komme ich zu der Frage nach dem Geld. Wir haben die Reform gemacht, weil wir für eine gute Vermittlung aus der Langzeitarbeitslosigkeit nicht nur die aktive Arbeitsmarktpolitik brauchen, sondern auch und vor allem Jobcenter vor Ort, die funktionieren. Wir geben 40 Milliarden Euro für die Grundsicherung aus, für Menschen, die in Langzeitarbeitslosigkeit sind. Wir geben zehn Milliarden Euro für die aktive Arbeitsmarktpolitik aus; im Krisenjahr waren es elf Milliarden Euro. Man sieht an den Relationen: Wenn wir die Mittel der Arbeitsmarktpolitik, also die Brücken in Arbeit, gut verwenden, wenn wir die Jobcenter vor Ort gut organisieren, dann ist das der richtige Weg. Denn wenn Menschen aus der Arbeitslosigkeit wieder in Arbeit kommen, sinken auch die hohen Kosten der Grundsicherung. Dieser Politik, Herr Heil, liegt ein Konzept zugrunde. Diese Politik zeigt den Menschen Chancen auf. Hier wird nicht fiskalisch gerechnet und dumm gekürzt, sondern hier wird mit den Mitteln der Arbeitsmarktpolitik der Weg in die Beschäftigung vorgegeben. Dieses Konzept stelle ich Ihnen vor, und dieses Konzept vertrete ich hier.

Wir werden es nicht tolerieren, Herr Heil, dass zu viele Alleinerziehende, zu viele Jugendliche und viel zu viele Ältere, nämlich eine halbe Million, zu den Langzeitarbeitslosen zählen. Wir werden die Anstrengungen verstärken, um sie in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren. Es ist symptomatisch für die Opposition, dass in dem Moment, in dem wir sagen, dass wir die Anstrengungen verstärken und wie wir sie verstärken, sofort die geballte Kritik aus allen Rohren kommt: Diese Menschen stehen dem Arbeitsmarkt gar nicht zur Verfügung. Daran kann man gar nichts ändern. Es gibt keine Jobs. Es gibt keine Kinderbetreuung. Es gibt keine Ausbildungsplätze. - Dieses Verhalten zeigt einen tiefen Fatalismus, zeigt ein statisches und rückwärts-gewandtes Denken. Dieses Denken brauchen wir in der Zukunft nicht. Wir wollen dynamisch denken. Unser Weg führt in die Zukunft.

Es ist richtig: Die Probleme sind erheblich. Viele Menschen vertreten die Haltung: Das geht nicht. Das können wir nicht. Das haben wir schon alles gehabt. Aber bei dieser Haltung können wir doch nicht bleiben. Noch nie sind die Chancen so groß wie jetzt gewesen, für diese Gruppen einen Fortschritt zu erzielen.

Wir brauchen die Menschen. Wir stehen am Anfang einer konjunkturellen Erholung. Viele aus der Wirtschaft spüren schon jetzt den Fachkräftemangel. 46.000 Ausbildungsplätze konnten nicht besetzt werden, weil die geeigneten Bewerberinnen und Bewerber fehlen. Gleichzeitig sichert die Jobcenterreform vor Ort, dass in Zukunft die Kommunen, die alle sozialintegrativen Leistungen in der Hand haben, mit der Bundesagentur für Arbeit, die die Vermittlung in Arbeit als ihr Markenzeichen hat, zusammenarbeiten. Das heißt, vor Ort sind alle Instrumente vorhanden, um diese Menschen wieder in Arbeit zu bringen.

Wir werden die noch vorhandenen Hürden abbauen. Der Umfang der Kinderbetreuung wird dank des Kinderförderungsgesetzes, das wir in der letzten Legislaturperiode verabschiedet haben, ausgebaut. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an den Rechtsanspruch. Die Bundesagentur für Arbeit qualifiziert Tagesmütter. Diese können eingesetzt werden, um in den Randzeiten die Kinderbetreuung sicherzustellen.

Diese Hürden waren vor Jahren unüberwindbar, als Sie, Frau Künast, noch an der Regierung waren. Was haben Sie dafür getan, dass der Ausbau der Kinderbetreuung vorangekommen ist? Deshalb schreien Sie jetzt so herum; das kann ich verstehen. Aber diese Hürden sind nicht mehr unüberwindbar; denn wir haben in der letzten Legislaturperiode etwas geleistet, wozu Sie nicht die Kraft gehabt haben.

Wir beobachten ein Phänomen, das es so vor der Krise noch nicht gegeben hat: Die Betriebe stehen inzwischen zu ihren Beschäftigten, insbesondere zu den älteren Beschäftigten. Es gibt keine Entlassungswellen. Es gibt keine Frühverrentungswellen, wie wir sie aus den vergangenen schwierigen Phasen kennen. Die Unternehmen suchen Azubis. - All das garantiert zwar noch keinen Erfolg; aber es sind die Grundvoraussetzungen dafür, dass wir besser werden können, dass wir mit einem anderen Blick und mit anderen Ansätzen als in der Vergangenheit, was in Fatalismus endete, vorankommen. Nein, wir werden mit den Instrumenten, die wir geschaffen haben, und der Basis, die uns jetzt zur Verfügung steht, diese Zusammenarbeit gemeinsam mit den Akteuren vor Ort - das sind die Kommunen, die Schulen, die Bildungsträger, die Unternehmen, die Gewerkschaften und die Kammern - für die Menschen sichern, die Arbeit wollen und brauchen und die diese Gesellschaft auch braucht.

Diese Zusammenarbeit gibt es in einigen ausgezeichneten Regionen schon heute. Von denen können wir lernen. Diese gute Zusammenarbeit soll aber nicht die Ausnahme bleiben; sie muss die Regel werden. Davon profitiert jeder vor Ort: die Menschen, die die Chance haben, ihr Leben selber in die Hand zu nehmen, die Unternehmen, die die Arbeitskräfte vor Ort finden, die sie suchen, die Beschäftigten in den Jobcentern, die erleben, dass sie Erfolge haben und Rückhalt für ihre Arbeit erfahren, und schlussendlich auch die Gesellschaft und die Sozialsysteme.

Wir wollen keine rückwärtsgewandten Parolen "Das geht nicht!" mehr. Es kann gehen. Aber dazu brauchen wir die Bereitschaft, die Muster zu verändern; wir brauchen die Bereitschaft, die eingetrampelten Pfade zu verlassen. Dies ist nicht die Zeit der Zauderer und der Bedenkenträger. Dies ist die Zeit derjenigen, die den Mut zum Handeln haben.


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Quelle:
Bulletin Nr. 43-2 vom 23.04.2010
Rede der Bundesministerin für Arbeit und Soziales, Dr. Ursula von der Leyen,
zur Wirtschaftspolitik für Wachstum und Arbeitsplätze vor dem
Deutschen Bundestag am 23. April 2010 in Berlin
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. April 2010