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REDE/461: Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel zum Haushaltsgesetz 2011, 24.11.10 (BPA)


Presse- und Informationsamt der Bundesregierung
"REGIERUNGonline" - Wissen aus erster Hand

Rede von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel zum Haushaltsgesetz 2011
vor dem Deutschen Bundestag am 24. November 2010 in Berlin:


Herr Präsident!
Meine Damen und Herren!

Bei der Rede von Herrn Steinmeier hat sich Herr Gabriel lieber ganz nach hinten gesetzt, damit man sein Gesicht nicht sieht. Er ist Vorsitzender, sitzt aber ganz hinten - toll.

Lieber Herr Steinmeier, nach Ihrer Rede habe ich nur ein einziges Bedürfnis: endlich eine Rede über die Zukunft Deutschlands zu halten, über die Zukunft eines tollen Landes mit wunderbaren Menschen, denen ich nicht nur in meinem Brief gedankt habe, sondern denen ich ausdrücklich auch heute von dieser Stelle aus noch einmal danken möchte dafür, wie sie sich in den Zeiten der Krise verhalten haben, wie sie ihren Beitrag für unser Land geleistet haben. Herzlichen Dank dafür!

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir führen die vierte Haushaltsdebatte in diesem Jahr. Im März, als wir über den Haushalt 2010 debattiert haben, sah es so aus, als würden wir einigermaßen aus der Krise herauskommen. 1,4 Prozent Wachstum war die Prognose. Internationale Zeitungen, zum Beispiel der Economist, haben schon damals geschrieben: Deutschland scheint besser aus der Krise herauszukommen, als man ahnen konnte. - Aber heute können wir sagen - das zeigt, welche Veränderung noch im Gange ist -: Wir werden wahrscheinlich im Jahre 2010 3,4 Prozent Wachstum haben, 2011 wieder fast zwei Prozent, und auch für die folgenden Jahre können wir, wenn wir alles richtig machen, auf vernünftige Wachstumspfade hoffen.

Das bringt mit sich, dass - das ist das Wichtigste - die Menschen Arbeit haben, jedenfalls sehr, sehr viele. Die Zahl der Arbeitslosen ist unter drei Millionen gesunken. Für das nächste Jahr heißt die Prognose: im Durchschnitt 2,9 Millionen. Das darf uns nicht ruhen lassen. Wenn wir über Gerechtigkeit in diesem Lande sprechen, dann können wir sagen: Heute haben mehr Menschen Arbeit als vor der Krise. In Ostdeutschland haben mehr Menschen Arbeit, als das seit 1991 der Fall war. Die Arbeitslosigkeit ist die geringste seit 1991. Vor allen Dingen ist ein Absinken der Langzeitarbeitslosigkeit zu verzeichnen. Nach langer Zeit ist nun endlich ein Effekt eingetreten. Da müssen wir weitermachen; da liegen unsere Aufgaben für die Zukunft. Da sind wir auf einem guten Weg, auf dem wir aber nicht haltmachen, sondern weitergehen werden. Das ist unsere Aufgabe.

Wie konnten wir so durch die Krise kommen? Was macht unser Land aus? Das ist einerseits eine innovative Wirtschaft mit einem starken industriellen Kern; das ist ein dynamischer Mittelstand; das sind leistungsstarke Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, und das ist eine verlässliche Sozialpartnerschaft. Das ist genau das, was wir als gelebte soziale Marktwirtschaft bezeichnen können, eine soziale Marktwirtschaft, die im Übrigen auf der Welt oft etwas belächelt wurde. Jetzt, nach der Krise, werden wir von vielen Ländern auf der Welt genau um diese gelebte soziale Marktwirtschaft beneidet.

Das haben wir gemeinsam geschafft, das haben wir uns gemeinsam erarbeitet. Ich stehe auch gar nicht an, zu sagen: Daran haben natürlich nicht nur die jetzige Regierung und die Vorgängerregierung, sondern sogar die Regierung, die die Agenda 2010 erfunden hat - genau auch die -, ihren Anteil. Das Problem des betreffenden Teils des Hauses ist nur, dass Sie davon am liebsten gar nicht mehr sprechen möchten, dass Sie sich so schnell davonstehlen wollen, wie Sie nur können. Das ist Ihr Problem. Man kann eben nicht Erfolge einheimsen und sich gleichzeitig nicht zu dem, was man gemacht hat, bekennen. Deshalb müssen wir darüber sprechen.

Aber wir müssen auch darüber sprechen, dass sich natürlich auch im Haushalt 2011 noch deutlich die Spuren dieser seit Jahrzehnten größten internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise zeigen. Dazu gehört, dass unsere Schuldenquote von 66 Prozent im Jahr 2008 auf über 75 Prozent angestiegen ist, dass wir in diesem Jahr ein Defizit von etwa vier Prozent haben werden und dass wir 50 Milliarden Euro - plus oder minus; das kann ich heute noch nicht genau sagen - Schulden machen werden, also eine unglaubliche Summe von Schulden. Deshalb heißt die Aufgabe natürlich, dass wir da besser werden müssen. Wir können uns nicht damit herausreden, dass wir sagen: Im Euro-Bereich, zum Beispiel, gibt es eine mittlere Verschuldung von 6,7 Prozent. Da sind wir besser. - Okay, das ist schön. Wenn wir nach Großbritannien oder in die Vereinigten Staaten von Amerika schauen, stellen wir fest, dass wir auch besser sind. Auch das ist schön. Aber wir müssen unsere Maßstäbe an der Schuldenbremse ausrichten; es ist gut, dass wir sie im Grundgesetz haben. Und es ist gut, dass wir uns genau daran orientieren.

Die Sache wird ja auch nicht besser dadurch, dass Sie hier Stunde um Stunde wiederholen, dass wir das nicht täten.

Es ist doch völlig klar: In einem Jahr, in dem sich die Daten unablässig verändern, glücklicherweise einmal zum Positiven, müssen Sie einen Punkt nehmen, an dem Sie ansetzen. Wenn es nach Ihnen gegangen wäre, hätten wir schon vor der Wahl in Nordrhein-Westfalen den Haushalt aufstellen sollen. So haben Sie damals doch geredet. Nein, wir haben ihn dann aufgestellt, wenn man ihn normalerweise aufstellt, nämlich im Juni und im Juli. Das ist der Bezugspunkt. Wenigstens diejenigen bei Ihnen, die Finanzpolitik betreiben, wissen, dass man die mittelfristige Finanzplanung an einem bestimmten Tag festlegen muss und dass sie nicht mehr Gegenstand der Beratungen im Deutschen Bundestag ist. Das ist die Wahrheit, und deshalb haben wir uns so entschieden. Das werden wir auch weiter machen. Das, was wir an Konsolidierung machen, ist Zukunftspolitik; denn da geht es um Generationengerechtigkeit, um Spielräume.

Um das noch einmal vor Augen zu führen: Wir haben heute für Zukunftsausgaben 28 Prozent des Haushalts zur Verfügung, 1991 waren es 43,4 Prozent. In diese Richtung müssen wir wieder kommen. Da kann es uns nicht allein beruhigen, dass wir sagen: Wir haben für 2011 jetzt 10,6 Prozent Investitionen; das ist mehr, als wir seit Jahren hatten. Deshalb sage ich auch: Wir sparen nicht an der Zukunft, sondern diesen Haushalt kennzeichnet, dass wir für die Zukunft sparen, für den Ausbau von Kinderbetreuung, für Bildung und Forschung, für die Erhöhung der Investitionsquote. Das ist das Charakteristikum unseres Haushalts.

Wir haben - auch das noch einmal zur Erinnerung; das hat natürlich auch zu dem Wirtschaftswachstum beigetragen - zu Beginn des Jahres massive Steuerentlastungen gehabt. Diese wurden teilweise schon in der Großen Koalition beschlossen. Hinzugekommen ist das Wachstumsbeschleunigungsgesetz.

Wir werden weiter an den Fragen der Steuern arbeiten. Wir brauchen eine bessere Ausstattung der Gemeinden. Dafür werden wir Lösungen vorschlagen. Das ist ein drängendes Problem. Es ist schon wirklich abenteuerlich, dass Sie, die Sie damals durch Steuerreformen den Kommunen Gewerbesteuern en masse gestohlen haben, uns jetzt hier sagen, Sie wüssten, wie man eine Gemeindefinanzreform macht. Das ist doch wirklich abenteuerlich.

Wir werden Vorschläge zur Steuervereinfachung machen. Diese werden am 1. Januar 2012 in Kraft treten. Die Beratungen dazu laufen. Wir können viel im deutschen Steuerrecht vereinfachen. Ein erstes Paket werden wir vorschlagen. Es wäre schön, wenn vielleicht auch Ihre Länder die Bereitschaft zeigen würden, sich an der Finanzierung zu beteiligen. Denn unser Spielraum könnte viel größer sein, wenn das nicht nur als Aufgabe des Bundes gesehen würde, sondern wenn sich auch alle Länder dafür mitverantwortlich fühlen würden.

Wir haben eine ganz klare Priorität. Wir sagen: Haushaltskonsolidierung kommt zuerst. Aber deshalb haben wir das Thema "einfaches, gerechtes und niedriges Steuersystem" gerade für kleine und mittlere Einkommen nicht vergessen. Wenn die Haushalte konsolidiert sind, wenn wir Spielräume haben, machen wir das. Aber wir können heute nicht sagen, wann genau. Deshalb werden wir diese Dinge Schritt für Schritt abarbeiten.

Deutschland ist ein Beispiel für das, was wir uns unter Stabilitätskultur vorstellen. Nach unserer festen Überzeugung ist jetzt auch eine Ausstiegsstrategie aus den Konjunkturmaßnahmen, die wir in großem Umfang gemacht haben, notwendig. Es zeigt sich, dass Deutschland diesen Schritt gehen muss, auch und gerade im Blick auf Europa. Denn wir haben in Europa eine Situation, die deutlich zeigt, dass Stabilitätskultur überall gelebt werden muss. Wir haben schwierige Monate hinter uns.

Herr Steinmeier, das, was Sie dazu gesagt haben, kann mich wirklich nicht zufriedenstellen. In Europa ist man heute noch entsetzt, dass 2004 der Stabilitätspakt aufgeweicht wurde, und zwar auf Vorschlag der Bundesregierung unter Bundeskanzler Schröder. Reden Sie einmal mit dem Präsidenten der EZB! Dann haben Sie die politische Entscheidung getroffen, dass Griechenland in den Euro-Raum soll. Es hat sich gezeigt, dass das eine eher komplizierte Entscheidung war. Als es im Frühjahr dieses Jahres darum ging, dass Verantwortung gezeigt werden muss, haben Sie sich unter fadenscheinigen Begründungen enthalten; Sie haben sich in einer zentralen Stunde Europas zweimal enthalten. Darüber wird die Geschichte richten; sie wird zeigen, was man davon zu halten hat.

Wir haben im Frühjahr dieses Jahres in der Europäischen Union einen Euro-Rettungsschirm gespannt. Dass Irland jetzt einen Antrag stellt, Teil dieses Schirms zu werden, ist genau die Verhaltensweise, für die wir vorgesorgt haben. Wir haben gesagt: Die Stabilität des Euro als Ganzes muss gesichert sein. Deshalb werden wir - das haben die Finanzminister gesagt - den Antrag Irlands positiv betrachten, natürlich immer in einer Konditionalität, die deutlich macht, welche Schritte ein Land tun muss, um auf den Pfad einer stabilen Währung zurückzukehren.

Man sieht doch, welche Anstrengungen die griechische Regierung unternimmt. Man sieht auch - das haben die Kommunalwahlen jetzt gezeigt -, dass die Menschen in Griechenland diese Anstrengungen sogar honorieren. Ich sage das, obwohl unsere Partnerpartei dort dabei nicht der Gewinner ist. Die Menschen wollen, dass die Dinge beim Namen genannt werden, dass man nicht den Kopf in den Sand steckt, dass man ihnen nicht nach dem Mund redet. Sie wollen, dass die Entscheidungen gefällt werden, die notwendig sind. Das ist genau das, was auch wir für unser Land machen.

Wir alle wissen - ich finde, darüber sollten wir in aller Ruhe und Verantwortung in diesem Hause diskutieren -: Wir haben einen Krisenmechanismus bis zum Jahre 2013. Wir wissen auch - das sagt uns unsere europäische Verantwortung -: Wir brauchen für die Zeit danach einen permanenten Krisenmechanismus.

Im Augenblick arbeiten wir, auch im Hinblick auf Irland, all die Fehler der Vergangenheit ab. Deshalb ist es auch richtig, zu sagen: Die Krise ist noch nicht vorbei. Aber wir müssen jetzt Vorkehrungen treffen, damit diese Fehler nicht wieder passieren. Dabei geht es um die Finanzmarktarchitektur; da haben wir vieles erreicht. Dabei geht es um die Tatsache, dass wir den Stabilitätspakt geschärft haben; auch da haben wir vieles erreicht, mehr, als man vielleicht vor einem Jahr hätte denken können.

Das vielleicht Wichtigste ist aber nicht, dass jetzt die Defizite strenger überwacht werden und auch die Gesamtverschuldung in den Blick des Stabilitäts- und Wachstumspaktes kommt. Das Wichtigste ist aus meiner Sicht, dass auch makroökonomische Kriterien wie Lohnstückkosten und das Verhältnis von Sozialausgaben und Investitionsquote in die Betrachtung der europäischen Länder hineinkommen. Wir sind auf dem Weg, eine gemeinsame, kohärente Wirtschaftspolitik zu schaffen, die sich nach unseren Vorstellungen - ich hoffe, da stimmen Sie uns zu - nicht an den Schlechtesten, sondern an den Besten orientieren sollte, damit unser Kontinent insgesamt stark wird.

Jetzt zum Krisenmechanismus für die Zukunft. Hier stehen wir vor einem Problem, wo die Entscheidung nicht einfach ist. Die christlich-liberale Koalition hat sich aber entschieden. Wir sagen: Im Rahmen eines permanenten Krisenmechanismus müssen auch die privaten Gläubiger, das heißt diejenigen, die an hohen Zinsen und mit Staatsanleihen Geld verdienen, beteiligt werden, und zwar in dem Sinne, dass sie Verantwortung übernehmen.

Die Märkte sind, wie es immer so schön heißt, beunruhigt, wenn man so etwas ausspricht. Wir stehen jetzt vor einer ganz entscheidenden Frage. Wir haben am Anfang der Krise oft gesagt: Es darf nicht sein, dass die Politik nicht das Primat hat. Die Wirtschaft hat der Politik und den Menschen zu dienen und nicht umgekehrt.

Jetzt stehen wir an genau dieser Stelle. Jetzt findet ganz konkret und jeden Tag ein gewisses Ringen darum statt: Hat die Politik den Mut, auch diejenigen, die damit Geld verdienen, mit ins Risiko zu nehmen, oder ist der Handel mit Staatsanleihen der einzige Bereich der Wirtschaft auf der Welt, in dem man kein Risiko eingehen muss? Wir haben uns entschieden. Ich bitte Sie darum: Unterstützen Sie uns dabei. Hier geht es um die Frage des Primats der Politik, hier geht es um die Frage der Grenzen der Märkte, und hier geht es um eine klassische Frage der sozialen Marktwirtschaft im 21. Jahrhundert. Genau so ist es.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, das alles spielt sich in einer Welt ab, in der, wie ich es oft gesagt habe, die Karten nach dieser Krise neu gemischt sind. Zwei Drittel des Wachstums in diesem Jahr kommen aus China, aus Schwellenländern und Entwicklungsländern, nur ein Drittel kommt aus den klassischen Industrieländern.

Herr Trittin hat der deutschen Öffentlichkeit gerade mitgeteilt, dass wir, da zwei Drittel des Wachstums in Schwellenländern und Entwicklungsländern stattgefunden haben, mit zwei Dritteln nichts zu tun hatten. Das ist richtig, weil wir noch kein Schwellenland und kein Entwicklungsland sind. Dafür ist die christlich-liberale Koalition der Garant: Mit uns wird Deutschland auch kein Entwicklungsland. Bei Ihnen bin ich mir nicht ganz so sicher.

Als wir beim G20-Treffen in Südkorea gewesen sind, haben wir festgestellt, mit welcher Dynamik die Länder Asiens an ihrer Zukunft arbeiten, in die sie optimistisch blicken. Sie sind innovationsfreudig und bildungshungrig. Genau daraus ergibt sich der Auftrag der christlich-liberalen Koalition. Wir haben ein starkes Deutschland. Unser Auftrag heißt: Wir wollen, dass Deutschland stark bleibt. Das ist der Auftrag unserer Koalition.

Genau das werden wir in dieser Legislaturperiode machen; dafür haben wir unseren Auftrag bekommen. Wir werden 2013 Rechenschaft darüber ablegen, was wir auf diesem Weg geschafft haben.

Wir sind erstens für eine starke Wirtschaft,

zweitens für einen starken Staat und

drittens für ein starkes Gemeinwesen. Das sind die Pfeiler unserer Politik.

Ja - darüber haben wir in diesem Herbst viele Debatten geführt -, wir haben kontroverse Entscheidungen gefällt. Aber wir sind der Meinung, dass wir damit die Weichen in die richtige Richtung gestellt haben.

Ja, wir müssen noch weiter Überzeugungsarbeit für das leisten, was wir tun, weil es natürlich kontrovers diskutiert wird und weil es darüber auch Auseinandersetzungen gibt. Wir werden zu den Menschen gehen und sie davon überzeugen, dass das, was wir tun, richtig ist.

Ja, wir sind bereit, auch ganz neue Wege zu gehen, bei denen man nicht genau weiß, was das Ergebnis ist. Wir sind aber überzeugt: Wer keine neuen Wege geht, wird in die Vergangenheit gehen, und Deutschland wird zurückfallen. Genau das wollen wir nicht.

Wir wollen ein Land sein, in dem sich Leistung und Arbeit lohnen, damit wir die Kraft für die Solidarität in unserer Gesellschaft haben. Genau das ist immer das Wechselspiel in der sozialen Marktwirtschaft.

Wir verschließen nicht die Augen vor der Realität. Wir stecken nicht den Kopf in den Sand, sondern wir stellen uns mutig den Herausforderungen, mit denen wir es zu tun bekommen. Wir haben den Mut, zu sagen, wofür wir sind, und erzählen nicht unentwegt, wogegen wir sind.

Schauen wir uns doch die Alternativen an! Über die Linke will ich nicht weiter sprechen. Sie geben dauernd Geld aus, das Sie nicht haben. Über die SPD habe ich schon etwas gesagt: Sie sind heute hier und morgen dort. Sie verabschieden sich von all den relevanten Entscheidungen, die zukunftsfähig gewesen sein könnten, und zwar in einem affenartigen Tempo, dass es einem ganz schwindlig wird und man sich fragt, wie das weitergehen soll. Ich sage nur: Rente mit 67, Agenda 2010.

Fragen Sie doch einmal den Ulmer Oberbürgermeister, wie er zu Stuttgart 21 und neuen Bahnstrecken steht. Dann werden Sie Ihre Antwort bekommen.

Und die Grünen? Sie sind sozusagen ziemlich fest mit dem Wort "dagegen" verbandelt. Das wollen Sie kaschieren. Sie sagen, Sie seien für erneuerbare Energien. Aber wo immer eine Hochspannungsleitung gebaut werden muss - das sind viele Kilometer -, wo immer ein neuer Bahnhof entsteht, wo immer irgendetwas Neues passiert, wo Pumpspeicherkraftwerke, zum Beispiel in Bayern, entstehen, sagen Sie: Erneuer-bare Energien, ja; neue Netzleitungen, nein; Pumpspeicherkraftwerke in Bayern, nein. - So geht es nicht! Das ist nicht die richtige Antwort.

Sie wollen angeblich für den Zugverkehr sein und mehr Verkehr auf die Schiene verlagern. Aber wo immer ein neuer Bahnhof gebaut wird, sind Sie dagegen, egal ob es hier in Berlin-Ostkreuz oder bei Stuttgart 21 ist. Wo immer eine neue ICE-Strecke entsteht, sind Sie auch dagegen. Gucken Sie doch einmal nach Hannover, Berlin und Hamburg. Nein, so geht es nicht! So werden Sie nicht durchkommen.

Sie sind natürlich für den Sport - wer wollte das nicht? - und wahrscheinlich auch dafür, Sport in das Grundgesetz aufzunehmen. Aber wenn es um Olympische Spiele in Deutschland geht, dann sind Sie natürlich dagegen.

Wenn es so weitergeht, werden die Grünen für Weihnachten sein, aber gegen die davor geschaltete Adventszeit.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden uns auch damit befassen, was Sie den Menschen sagen und wozu Sie die Menschen ermutigen. Lesen Sie einmal nach, was Ihr Landesvorsitzender Kretschmann in Baden-Württemberg sagte, als er gefragt wurde, ob er garantieren könne, dass die Grünen aus dem Projekt Stuttgart 21 aussteigen. Er sagte:

"Das kann ich nicht garantieren. ... Wir können ja aussteigen nur zu einem verantwortbaren Preis. Solch ein Versprechen abzugeben, das wäre nicht seriös."

Ich finde es schon ziemlich waghalsig - um es einmal ganz vorsichtig auszusprechen -, Menschen zu Demonstrationen gegen etwas zu ermutigen, um dann im Kleinen zu sagen: Wenn es darauf ankommt, können wir euch gar nicht garantieren, dass wir das verhindern können. - Ich finde, das müsste er viel lauter sagen.

Um es noch einmal in einer anderen Variante zu sagen, weil Sie vielleicht meinen, das sei zu holzschnittartig und zu grobschlächtig, zitiere ich Ihnen, was gestern im Feuilleton in der Süddeutschen Zeitung Interessantes geschrieben wurde:

"Die Ökologie ist das größte System der Welt; Technik, Kultur oder Ökonomie sind darin Teilgebiete. Es ist richtig, dass die Fragen der Nachhaltigkeit alle anderen Themen dominieren. Wenn wir ihrem grundsätzlichen Bedenkentum aber alle Kräfte der Euphorie opfern, werden wir kaum in der Lage sein, die Probleme der Zukunft zu lösen. Nicht einmal die, die wir selbst im Glauben an die Zukunft verursacht haben."

Das ist eine andere Variante, mit der auf das hingewiesen wird, was Sie gerade zerstören.

Wir wollen nachhaltige Politik; der Bundestag wird hier in einer Enquete-Kommission über nachhaltiges Wachstum diskutieren. Wir zerstören aber die Fähigkeit zur Zukunft, wenn wir den Bedenkenträgern folgen. - Ich gebe Ihnen ja nur gute Hinweise. Guten Hinweisen von Ihnen schließen wir uns immer an; aber die gibt es leider nur sehr selten.

Nun bleiben Sie einmal ruhig, Frau Künast. Beherzigen Sie doch einmal, dass Sie die Probleme der Zukunft nicht lösen werden, noch nicht einmal die, die Sie in der Vergangenheit verursacht haben. Das ist doch der Punkt: Sie drücken sich angeblich im Geiste der Nachhaltigkeit vor der Verantwortung.

Sie sind gegen die Erkundung von Gorleben und beklagen, dass es kein Endlager gibt. Das ist diese Zweideutigkeit, das sind Schäden aus der Vergangenheit, die bereits angerichtet sind. Darauf müssen Sie eine Antwort geben. Das haben Sie nicht getan. Das ist bei Ihnen Thema für Thema gleich.

Sie sprechen über nachhaltiges Wirtschaften. Dabei können Sie doch nicht die Augen davor verschließen, dass im Jahre 1950 sechs Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer für einen Rentner gearbeitet haben und er zehn Jahre lang Rente bekommen hat. Heute arbeiten drei Arbeitnehmer für einen Rentner, und er bekommt 18 Jahre lang Rente. Im Jahre 2030, also in 20 Jahren, werden zwei Menschen für einen Rentner die Rente erarbeiten müssen, und er bekommt sie über 20 Jahre lang. Wenn man dann sagt, wie die SPD es tut, jetzt setze man die schrittweise Einführung der Rente mit 67 erst einmal fünf Jahre aus, dann mutet man den zukünftigen Generationen etwas zu, was wir nicht wollen; denn wir wollen Generationengerechtigkeit. Sie stecken den Kopf in den Sand, Sie stellen sich den Realitäten nicht, Sie reden drum herum. So kommen wir nicht voran.

Genauso ist es beim Thema Gesundheit. Herr Steinmeier, ich weiß, dass Sie es eigentlich wissen. Sie wissen nur nicht, wie Sie das bei sich rüberbringen können. Die Gesundheitskosten werden steigen, weil die medizinischen Möglichkeiten größer sind, weil wir heute Dinge tun können, an die man früher überhaupt nicht gedacht hat, und weil unsere Bevölkerung gleichzeitig älter wird. Deshalb ist es doch ganz logisch, dass man die ausschließliche Kopplung an die Arbeitskosten nicht aufrechterhalten kann. Sie wissen auch, dass der Ausgleich für die ansteigenden Kosten viel gerechter aus dem Steuersystem als aus den sozialversicherungspflichtigen Beiträgen geleistet werden kann. Das - und nichts anderes - ist doch das, was wir machen. Wir legen eine Oberbelastungsgrenze von zwei Prozent des eigenen Einkommens fest. Diese Grenze haben Sie in vielen Fällen genauso gewählt. - Sie haben so eine Angst, dass Sie verstehen könnten, was wir machen, dass Sie immer gleich schreien und einfach nicht zuhören. Aber das wird sich nicht durchsetzen. Sie müssen Antworten auf die Zukunft finden.

Zu Ihrer Milchmädchenrechnung. Auf dem Grünen-Parteitag ist ja das Allerbeste passiert. Man hat zum Schluss die Kommission "Ehrlich machen" gegründet. Was war Ihr ganzer Parteitag, wenn Sie hinterher eine Kommission "Ehrlich machen" gründen müssen? War das alles die Unwahrheit oder unehrlich, oder was? Das ist doch unglaublich.

Wir werden über die Neuregelung der Hartz-IV-Sätze miteinander sprechen. Wir haben eine verfassungsgemäße Berechnung. Sie haben uns bis heute nicht gesagt, was genau Sie daran bezweifeln. Lieber Herr Steinmeier, ich sage Ihnen eines: Es geht um Menschen und gerade um Kinder und ihr Bildungspaket zum 1. Januar nächsten Jahres. Ich kann nur sagen: Machen Sie keine Spielchen, sondern lassen Sie uns ehrlich darüber reden. Wenn Sie es verweigern, mit der zuständigen Ministerin darüber zu sprechen, weil Sie noch hundert Sachen mit lösen wollen, die gar nicht in deren Arbeitsbereich fallen, dann kann ich nur sagen: Das ist kein seriöses Herangehen. Es geht hier um das Schicksal von Hartz-IV-Empfängern und von Kindern in Familien mit Hartz IV. Da sind auch Sie in der Verantwortung. - Sie brauchen gar nicht so zu schreien. Wir sind zu Gesprächen bereit; das habe ich Ihnen immer wieder gesagt.

Wir brauchen nicht nur eine starke Wirtschaft, wir brauchen auch einen starken Staat. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Beratungen heute in einer Umgebung stattfinden, wie wir sie lange nicht hatten. Besucherinnen und Besucher können den Reichstag im Augenblick nicht besuchen. Ich bedanke mich beim Bundestagspräsidenten, dass er gestern ganz deutlich gemacht hat: Wir werden uns von unserer Arbeit trotz terroristischer Bedrohung nicht abbringen lassen. Aber klar ist auch - das haben uns die Paketbomben im Flugfrachtverkehr gezeigt -: Die Bedrohungen sind leider real. Wir müssen uns auf sie einstellen. Ich möchte der Polizei danken, den Sicherheitskräften insgesamt, aber auch den Bürgerinnen und Bürgern, die das alles gefasst und im Wissen um den Wert der Demokratie und unserer Freiheit akzeptieren und einerseits aufmerksam, andererseits aber eben auch nicht ängstlich sind. Ich kann die Worte des Bundesinnenministers nur wiederholen: Es gibt Grund zur Sorge, aber keinen Grund zur Hysterie.

Wir werden in diesem Bereich ganz eng - das haben wir jetzt schon gesehen - mit anderen Ländern zusammenarbeiten müssen. Globalisierung ist nicht nur im Wirtschaftsbereich, sondern globale Vernetzung ist auch im Sicherheitsbereich wichtig. Wir werden die für uns notwendigen Antworten finden müssen, wie wir für Gesetze, die in der Koalition besprochen und die geregelt werden müssen - ich nenne das Thema Vorratsdatenspeicherung -, richtige und gute Lösungen finden, und wir werden international mehr Verantwortung übernehmen.

Ich möchte mich beim Bundesaußenminister ganz herzlich bedanken. - Mein Gott, das ist von Bundeskanzler Schröder eingeleitet worden. Wir haben die Außenpolitik in guter, bewährter Kontinuität fortgeführt und uns um den Sicherheitsratssitz für die Jahre 2011 und 2012 bemüht. Wir waren erfolgreich. Ich finde, darüber können wir uns alle freuen; wir sollten das Beste daraus machen.

Wir brauchen natürlich auch in der Sicherheitspolitik der NATO neue Ansätze und neue Vernetzungen. Wir haben in Lissabon mit dem Bundesaußenminister und dem Bundesverteidigungsminister einen sehr erfolgreichen NATO-Gipfel gehabt. Die NATO hat ein neues Strategisches Konzept aufgelegt. Die NATO hat gezeigt, dass sie ein politisches Bündnis ist. Dazu hat ganz wesentlich der Schritt Frankreichs im letzten Jahr beigetragen, wieder Vollmitglied der NATO zu werden. Nur dadurch ist es überhaupt möglich, heute Themen wie Afghanistan, die Frage der Übergabe in Verantwortung, das Thema der vernetzten Sicherheit, der Notwendigkeit eines parallelen, politischen Prozesses zu den militärischen Aktionen in der NATO zu besprechen.

Wir stellen uns auch den neuen Herausforderungen. Dazu gehört auch Cyber Defense, wie es so schön heißt, also der Schutz unserer Datensysteme. Präsident Obama sagt, dass Amerikas wirtschaftlicher Wohlstand im 21. Jahrhundert von der Sicherheit der Datennetze abhängt, und hat ein Cybersecurity Office eingerichtet. Die britische Regierung hat Cyber-Defense-Programme angekündigt und will in vier Jahren 400 Millionen Pfund dafür ausgeben. Wir machen selbstverständlich auch etwas. Wenn der Fraktionsvorsitzende der Grünen zu dem Thema nichts anderes sagt als: "Wollen Sie Google bombardieren?", dann kann ich nur sagen: Dümmer geht's nimmer, lieber Herr Trittin.

Auch wir als christlich-liberale Koalition reagieren auf die neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen. Der Bundesverteidigungsminister hat eine Sicherheitsanalyse vorgelegt. Wir haben die Entscheidung getroffen - mit "wir" meine ich vor allem die Unionsfraktion; die FDP hatte diese Entscheidung schon früher getroffen -, dass wir die Wehrpflicht nicht abschaffen, sondern aussetzen und in einen freiwilligen Wehrdienst überführen. Die Kommandeurtagung dieses Jahres in Dresden zum Thema "20 Jahre Armee der Einheit" - übrigens eine riesige gemeinsame Erfolgsgeschichte von uns allen - war sicherlich eine ganz wesentliche Weichenstellung dafür, wie sich die Bundeswehr in der Zukunft entwickelt.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, das, was auf die Bundeswehr zukommt, ist nicht irgendeine Reform, sondern das ist das Ankommen im 21. Jahrhundert. Das ist die Antwort auf die neuen Bedrohungen, die nicht mehr an den Grenzen des Bündnisses NATO bestehen, sondern Bedrohungen, die aus Staaten kommen, die ihrer Verantwortung nicht nachkommen können, die vom Terrorismus kommen oder die durch die Proliferation von Massenvernichtungswaffen entstehen: völlig neue Probleme, vor denen wir stehen. Deshalb war ich sehr froh, dass es uns in Lissabon beim Russland-NATO-Rat gelungen ist, deutlich zu machen: Russland ist bei der Bekämpfung all der Bedrohungen, denen wir gegenüberstehen, nicht mehr unser Gegner, wie es im Kalten Krieg war, sondern Russland kann und wird Partner sein. Das hat sich ganz massiv dort demonstriert. Wir mussten gestern wieder erleben, dass diese Bedrohungen nicht abstrakt sind. Die Raketenangriffe von Nordkorea auf Südkorea haben uns allen gezeigt, wie fragil die Sicherheit in einigen Bereichen unserer Welt ist. Wir erwähnen, dass Russland auch bei der Sicherheitsratsresolution gegen den Iran mit auf unserer Seite war. Diese Partnerschaft muss ausgebaut werden. Sie wird ausgebaut werden, und wir werden dadurch ein Mehr an Sicherheit haben.

Wenn wir jetzt zu einem freiwilligen Wehrdienst übergehen, was auch Folgen für den Zivildienst im Zusammenhang mit dem Freiwilligendienst hat, dann brauchen wir ein Freiwilligengesetz, das die Ministerin Kristina Schröder vorgestellt hat. Das bringt mich zu dem nächsten Punkt; denn wir wollen damit nicht nur etwas technisch neu regeln, sondern auch einen Impuls geben und einen richtigen Schritt hin zu einem Gemeinwesen tun, wie wir es uns vorstellen. Wir wollen, dass diese Gesellschaft dadurch menschlicher wird, dass Menschen sich für andere Menschen engagieren. Ich glaube, viele junge Menschen werden dazu bereit sein, sei es in der Bundeswehr, sei es im Freiwilligendienst, sei es im Freiwilligen Sozialen oder im Freiwilligen Ökologischen Jahr, das junge Menschen ableisten. Aber wir laden Menschen aller Altersgruppen ein, sich im Ehrenamt und in Freiwilligendiensten zu engagieren. Es gibt sehr viel zu tun, und der Staat wird gerade in einer Gesellschaft, die älter wird, Menschlichkeit nicht so vermitteln können, wie wir uns das wünschen, jedenfalls nicht alleine. Wir brauchen einen starken Staat; aber wir brauchen auch starke Bürger, die sich für andere Bürgerinnen und Bürger engagieren. Das ist unsere Vorstellung von Gemeinwesen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen: Wir sind uns nicht in allen Fragen einig. Aber ich glaube, dass wir uns den Themen gestellt haben. Wir haben Entscheidungen gefällt, und wir werden weitere Entscheidungen fällen. Was das Thema Arbeitsmarkt angeht, dürfen wir uns mit 2,9 Millionen Arbeitslosen nicht zufrieden geben. Wir haben angesichts des demografischen Wandels vielleicht zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland seit den 70er Jahren wieder die Chance, zu sagen: Vollbeschäftigung kann Realität werden. Deshalb werden wir gerade von den Jüngeren fordern, wenn sie nicht gefördert werden wollen, genau diesen Weg zu gehen; denn der demografische Wandel kann auch als Chance für unser Land genutzt werden.

Wir packen die Probleme also an, zusammen mit unseren internationalen Partnern. Wir machen eine Politik aus dem Blickwinkel unserer Kinder, weil wir uns der Zukunft verpflichtet fühlen. Deshalb darf ich Ihnen sagen: Die christlich-liberale Koalition ist auf einem Weg, um Deutschland, das immer stark war, auch stark bleiben zu lassen. Sie ist auf einem Weg, der deutlich macht: Die Bundesrepublik Deutschland war nicht nur ein Erfolgsmodell. Sie wird auch in Zukunft ein Erfolgsmodell sein. - Diesem Auftrag fühlen wir uns verpflichtet. Da werden wir auch keine Widerstände scheuen. Da werden wir Entscheidungen treffen. Ich sage Ihnen dazu: Es macht uns sogar noch gemeinsam Spaß.


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Quelle:
Bulletin Nr. 122-1 vom 24.11.2010
Rede von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel zum Haushaltsgesetz 2011
vor dem Deutschen Bundestag am 24. November 2010 in Berlin
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. November 2010