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THEORIE/135: Neue Landnahme und ökosozialer New Deal (spw)


spw - Ausgabe 5/2009 - Heft 173
Zeitschrift für Sozialistische Politik und Wirtschaft

"Bringing (Anti-)Capitalism back in!"
Neue Landnahme und ökosozialer New Deal

Von Klaus Dörre


"Bringing Capitalism back in", überschreibt der Sozialwissenschaftler Wolfgang Streeck (2009) das Schlusskapitel seines neuen Buchs. Das ist schon deshalb interessant, weil die Zeile vom einstigen Vordenker einer Politik stammt, die die Herausforderungen wirtschaftlicher Internationalisierung im Rahmen einer angebotskorporatistischen Strategie ("Bündnis für Arbeit und Wettbewerbsfähigkeit") zu meistern gedachte. Für Streeck sind es denn auch politische Blockierungen einer moderaten, korporativ gesteuerten Modernisierung, die schließlich eine ungleich härtere, finanzmarktgetriebene Anpassung des koordinierten Kapitalismus an die neue weltwirtschaftliche Konstellation erzwungen haben. Aber war es wirklich der "sozialstaatliche Konservatismus" maßgeblicher Akteure, der die deutsche Variante eines "dritten Weges" (Giddens 1998) jenseits von Neoliberalismus und wohlfahrtsstaatlichem Etatismus scheitern ließ? Zweifel sind angebracht. "Bringing Capitalism back in!" heißt auch, die Grenzen des Wettbewerbskorporatismus analytisch klar zu benennen. Ein neues Reformprojekt lässt sich in der finanzkapitalistischen Ära nicht auf Sozialpartnerschaftsvorstellungen gründen, die der Zeit des "sozialbürokratischen Kapitalismus" entstammen. Ein ökosozialer New Deal, wie er nun als Ausweg aus der Krise diskutiert wird, hat zumindest als emanzipatorisches Projekt nur eine Chance, wenn er Unterstützung durch eine breit angelegte, partizipatorische und vor allem antikapitalistische Politik erhält.

"Bringing Capitalism back in" bedeutet zunächst, genauer zu klären, was unter Kapitalismus heute zu verstehen ist. Laut zeitgenössischer Marktorthodoxie ist Kapitalismus weitgehend mit Marktwirtschaft und Konkurrenz identisch. Der entfaltete Wettbewerbskapitalismus gilt als Voraussetzung für individuelle und politische Freiheit. In diesem idealen Kapitalismus ist das Gewinnstreben zentrales Motiv des Wirtschaftshandelns. Alles, was dieses Motiv schwächt, muss folgerichtig zu Verzerrungen des Wettbewerbs und damit zu gesellschaftlichen Deformationen führen. Das Ideal eines Unternehmers mit sozialer Verantwortung stellt eine besonders problematische Verzerrung dar: "Es gibt wenig Entwicklungstendenzen, die so gründlich das Fundament unserer freien Gesellschaft untergraben können, wie die Annahme einer anderen sozialen Verantwortung durch Unternehmer, als die, für die Aktionäre ihrer Gesellschaften so viel Gewinn wie möglich zu erwirtschaften", heißt es z. B. bei Milton Friedman (1982: 165), einem Vordenker des ökonomischen Marktfundamentalismus.


Kapitalismus benötigt Konkurrenz - zugleich Planungssicherheit und Kooperation

Diese Konstruktion eines frei am Markt agierenden Unternehmers, der, indem er den Eigennutz maximiert, zugleich den Wohlstand aller Gesellschaftsmitglieder befördert, ist nach wie vor das Kernstück neoliberaler Doktrin. Zwar beanspruchen die diversen neo- und ordoliberalen Schulen für sich, aus dem Scheitern des Laissez-faire gelernt zu haben, weshalb sie gleichsam als "Sorge um den Markt" begrenzte Staatseingriffe akzeptieren. Doch die "große Leistung des Marktes" besteht nach ihrer Auffassung vor allem darin, die Anzahl der Probleme zu reduzieren, die "mithilfe politischer Maßnahmen entschieden werden müssen" (Ebd.: 38). Wohl wird dem Staat eine Wächterrolle über die Spielregeln des Marktes zugesprochen, letztlich ist es aber doch wieder die Ökonomie, die über die Effizienz und Marktkompatibilität der Politik entscheidet. Ein Grundproblem manch linker Kritiken am "Turbokapitalismus" mit seinen "entfesselten Märkten" ist indessen, dass sie die Kompatibilität des Marktfundamentalismus mit einem durchaus autoritären Staatsverständnis ausblenden. Der Kapitalismus, auch der aktuelle, ist keine reine Marktgesellschaft, kein reiner Wettbewerbskapitalismus und er kann es auch niemals werden. Die Dynamik und Überlebensfähigkeit des Kapitalismus wurzelt gerade darin, dass er in krisenhaften, teilweise katastrophischen Prozessen bislang immer wieder in der Lage war, Selbststabilisatoren jenseits von Markt und Konkurrenz hervorzubringen, die sein Überleben sicherstellen. Schon deshalb lässt sich Kapitalismus nicht auf Märkte und Wettbewerb reduzieren. Ohne marktvermittelte Konkurrenz kann Kapitalismus nicht funktionieren. Um sich im Wettbewerb betätigen zu können, sind bei individuellen wie kollektiven Akteuren jedoch Verhaltensweisen vonnöten, die auf Kooperation, mitunter gar auf Solidarität beruhen und damit in gewisser Weise das Gegenteil marktvermittelter Konkurrenz voraussetzen.

Diese Aussage gilt, wie Pierre Bourdieu (2000) gezeigt hat, selbst für das unternehmerische Denken und Handeln. Was der Marktfundamentalismus gleichsam als überhistorische, naturwüchsig gegebene Eigenschaften des homo oeconomicus betrachtet - die Ausbildung einer von bloßen Bedarfen abgelösten rational-kalkulierenden Denkweise - kann überhaupt erst aufgrund spezifischer historischer Gegebenheiten entstehen. Nur auf der Basis wenigstens eines Minimums an Arbeitsplatz- und Einkommenssicherheit ist die Entwicklung eines in die Zukunft gerichteten Bewusstseins möglich. Und erst dieses Zukunftsbewusstsein, das individuelle Planungsfähigkeit voraussetzt, lässt rational-kalkulierendes Verhalten real werden. Selbst der Friedmannsche Unternehmer, der strukturell mit Unsicherheiten konfrontiert wird, benötigt daher ein Minimum an Planungssicherheit. In seinem ureigensten (Gewinn-)Interesse muss er danach streben, die Willkür der Marktkonkurrenz wenigstens zeitweilig zu begrenzen.

Just an dieser Zwangsläufigkeit setzen institutionalistische und - etwas modifiziert - auch regulationstheoretische Kapitalismustheorien an. Ihr zentrales Argument lautet, dass Marktvergesellschaftung nur dann funktioniert, wenn eine stabile Institutionenordnung dafür sorgt, dass die Handlungsstrategien maßgeblicher Akteure auf die Erfordernisse der Kapitalakkumulation abgestimmt werden (z. B. Aglietta 2000, Hall/Soskice 2001). Ein Grundproblem dieser Ansätze besteht allerdings darin, dass sie trotz aller Divergenzen dazu tendieren, die systemische Rationalität des Kapitalismus und die Handlungsrationalität seiner wichtigsten Akteure und damit auch die Möglichkeit korporativer "Elitendeals" zu überschätzen. Eben dieses Problem reflektieren Theorien, die kapitalistische Entwicklung als Landnahmen begreifen. An dieser Stelle ist es nicht möglich, die unterschiedlichen Varianten des Landnahme-Konzepts auch nur skizzenhaft zu erläutern und sie in ihren politischen Implikationen zu diskutieren (vgl. dazu Dörre 2009 a, b). Daher seien an dieser Stelle lediglich vier wichtige Basisannahmen des Konzepts benannt.


Innen-Außen-Dialektik:
Okkupation nichtkapitalistischer Produktionsweisen

Zunächst wird davon ausgegangen, dass sich der Kapitalismus letztendlich nicht aus sich selbst heraus reproduzieren kann, weshalb er sich (1) im Rahmen einer komplexen Innen-Außen-Dialektik entwickelt. Demnach besitzt die kapitalistische Entwicklung stets ein Doppelgesicht. Eine an Effizienz- und Profitmotiven orientierte Rationalität setzt sich in den Produktionsstätten des Mehrwerts, in den Fabriken, der durchkapitalisierten Landwirtschaft und auf den Warenmärkten durch. Hier reproduziert sich der Kapitalismus weitgehend auf seinen eigenen Grundlagen. Die andere Entwicklung bricht sich in Austauschbeziehungen zwischen der Kapitalakkumulation einerseits sowie nichtkapitalistischen Produktionsweisen und Territorien anderseits Bahn. Die kapitalistische Ökonomie bleibt strukturell auf die Okkupation dieses Außen angewiesen, da im "inneren Verkehr" (Luxemburg 1975: 325) nur begrenzte Wertteile des gesellschaftlichen Gesamtprodukts realisiert werden können. Dieses Problem gewinnt, so jedenfalls Rosa Luxemburg, mit der absoluten und, im Verhältnis zum erzeugten Mehrwert, relativen Steigerung der Wertmasse an Schärfe. Die daraus erwachsenden Spannungen erklären für Luxemburg die widerspruchsvolle Erscheinung, dass "die alten kapitalistischen Länder füreinander immer größeren Absatzmarkt darstellen, füreinander immer unentbehrlicher werden und zugleich einander immer eifersüchtiger als Konkurrenten in Beziehungen mit nichtkapitalistischen Ländern bekämpfen" (ebd.: 316). Für Hannah Arendt, ergibt sich daraus, dass "'die kapitalistische Produktion' von Anbeginn in ihren Bewegungsformen und -gesetzen auf die gesamte Erde als Schatzkammer der Produktionskräfte berechnet gewesen war und dass die Bewegung der Akkumulation, mit deren Stillstand das ganze System unweigerlich zusammenbrechen musste, dauernd neuer Territorien bedurfte, die noch nicht kapitalistisch erschlossen waren und daher den Kapitalisierungsprozess mit Rohstoffen, Waren- und Arbeitsmärkten versorgen konnten" (Arendt 2006: 333).


Herstellung eines Außen:
Die unendliche Landnahme des Kapitalismus

Der Geograph David Harvey hat diesen Gedanken einer Innen-Außen-Dialektik (2) zu einer Theorie kapitalistischer Entwicklung erweitert. Nach Harvey kann der Kapitalismus "entweder ein bereits bestehendes 'Außen' nutzen (nichtkapitalistische Gesellschaften oder ein bestimmtes Gebiet innerhalb des Kapitalismus [...], das noch nicht proletarisiert worden ist, KD) oder ein solches aktiv herstellen" (Harvey 2005: 140). Aktive Herstellung eines "Außen" bedeutet, dass die Kette der Landnahmen prinzipiell unendlich ist. Mit anderen Worten: Der "Sündenfall", den Marx nur für die Phase primitiver Akkumulation gelten lassen wollte, d. h. "eine Sprengung rein ökonomischer Gesetzmäßigkeit durch politisches Handeln" (Arendt 2006: 335), kann und muss sich auf erweiterter Stufenleiter beständig wiederholen. Die Dynamik des Kapitalismus beruht geradezu auf der Fähigkeit zur Produktion und Zerstörung von Raum. Mit Investitionen in Maschinen, Fabriken, Arbeitskräfte und Infrastruktur geht das Kapital räumliche Bindungen ein, die es nicht lösen kann, ohne Kosten und Reibungen zu verursachen. Dabei fällt Investitionen, die der ökonomischen Erschließung von Räumen dienen - z. B. Finanzmittel für Verkehrsverbindungen und Trassen, zur Erschließung von Rohstoffen oder auch Investitionen in Aus- und Weiterbildung, Arbeits- und Gesundheitsschutz - eine besondere Funktion zu. Solche Investitionen amortisieren sich nur über längere Zeiträume, d. h. sie werden dem primären Kapitalkreislauf (unmittelbarer Konsum) zeitweilig entzogen und in den sekundären (Kapital für die Produktionsmittel, Bildung von Mitteln für den Konsum wie z. B. Wohnungen) oder den tertiären Kreislauf (z. B. Ausgaben für Forschung, Entwicklung, Soziales) umgeleitet. Dabei ist keineswegs sicher, dass sich solche Investitionen überhaupt rentieren. Deshalb springt mitunter der Staat als "ideeller Gesamtkapitalist" ein, wenn es darum geht, entsprechende Langzeitinvestitionen vorzunehmen.


Disziplinierung der freigesetzten Bevölkerung

Die Generalisierung der Landnahmethese impliziert zugleich, dass sich periodisch ein Vorgang wiederholt, den Marx in seiner Analyse der ursprünglichen Akkumulation des Kapitals (3) als - teilweise gewaltsame - Disziplinierung der freigesetzten Bevölkerung für die neue kapitalistische Produktionsweise beschrieben hat. So wurden Gesetze, die ihren Ursprung in der Feudalzeit hatten, immer wieder genutzt, um einen allgemeinen Arbeitszwang zu etablieren und den Lohn politisch zu regulieren. Das "zum Vagabunden gemachte Landvolk" wurde in einer politisch hergestellten Form von Prekarität "durch grotesk-terroristische Gesetze in eine dem System der Lohnarbeit notwendige Disziplin hineingepeitscht, -gebrandmarkt, -gefoltert" (Marx, MEW 23, S. 765). Der Staat sorgte als Geburtshelfer der kapitalistischen Produktionsweise mit dafür, dass Marktbildung unter den Bedingungen struktureller Machtasymmetrie erfolgte. Insofern war Marktbildung in der Jahrhunderte umfassenden Periode ursprünglicher Akkumulation ein machtdurchtränkter, auch politisch initiierter und daher niemals rein ökonomischer Prozess. Die Mobilisierung und Disziplinierung der freigesetzten Bevölkerung für die kapitalistische Produktionsweise erfolgt nicht allein, ja nicht einmal primär über ökonomische Anreize, sondern wesentlich über staatlich-politische Zwangsmechanismen. Anders als Marx annahm, gilt diese Erkenntnis aber keineswegs allein für den Übergang von Feudalismus zum Kapitalismus; sie lässt sich auch auf innerkapitalistische Transformationen anwenden.


Die Art der Landnahme: Zyklen der Marktöffnung und Marktschließung

Damit sind wir bei einer weiteren, letzten Bestimmung, die (4) den Modus Operandi kapitalistischer Landnahmen betrifft. Grundsätzlich sind Landnahmen keine linearen Prozesse; sie beruhen auch auf Zufällen, auf kontingenten Entscheidungen, sie erzeugen Reibungen und Widersprüche, sie lösen Gegenbewegungen aus, motivieren zu Protest und Widerstand. Dennoch umfasst jeder Modus operandi kapitalistischer Landnahmen eine Dominante, die sich in langen Zyklen der Marktöffnung und der Marktschließung niederschlägt. Prinzipiell lassen sich zwei Grundformen der Landnahme unterscheiden. Die erste beruht auf De-Kommodifizierung, auf der relativen Abkoppelung der Lohnarbeit von Marktrisiken. So konstituieren Investitionen in die Infrastruktur, in Bildung und Ausbildung wirtschaftliche Entwicklungszyklen, die das Problem der Überakkumulation durch langfristige Kapitalbindung zumindest entschärfen. Solche Perioden eignen sich hervorragend, um Marktvergesellschaftung einzuschränken, indem potentielle Anlagefelder wie Post, Telekommunikation, Schienenverkehr oder die Bildung in Schulen und Hochschulen der privaten Verwertung entzogen und qua Staatsintervention in öffentliche Güter verwandelt werden. Auf diese Weise entsteht für die molekularen einzelkapitalistischen Operationen ein "Außen", das für die private Akkumulation unzugänglich ist, aber zur Verbesserung wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit genutzt werden kann. Die fordistische Landnahme, wie sie Burkart Lutz (1984) in Ansätzen beschrieben hat, beruht auf einer solchen Ent-Kommodifizierung. Landnahme bedeutete nach 1945 nicht nur das Aufsaugen eines traditionalen, ländlich-kleinbetrieblich strukturierten Sektors, sondern zugleich die Etablierung organisierter Arbeitsmärkte innerhalb der Unternehmen, die Ausweitung des öffentlichen Dienstes, den Ausbau sozialer Sicherungssysteme und die Überwindung zumindest eines sichtbaren Reservearmeemechanismus im nationalen Rahmen.


Akkumulation durch Enteignung: Re- und Entkommodifizierung von Arbeitskraft

In dem Maße wie die Einhegung der Marktvergesellschaftung, die auch auf der Institutionalisierung von Arbeitermacht beruht, als Hindernis der Kapitalverwertung erscheint, wächst indessen das Interesse ökonomisch-politischer Eliten an einer zweiten Grundform der Landnahme, die auf Re- (Herstellung der Warenform, Anschluss an Markrisiken) oder Ent-Kommodifizierung (Ausschluss vom Markt) beruht. David Harvey bezeichnet einen Teil dieser Strategien, zu denen die Finanzialisierung (Börsengänge, Fusionen, Übernahmen von Unternehmen etc.) ebenso gehört wie die Umwandlung von Staatsunternehmen oder die Privatisierung öffentlicher Einrichtungen, als "Akkumulation durch Enteignung". Ihre Wirkung besteht darin, dass sich überschüssiges Kapital der freigesetzten Vermögenswerte zu niedrigen Kosten oder gar kostenfrei bemächtigen kann (Harvey 2005: 147 f.). Wo dies zu Deindustrialisierung, zu wirtschaftlichem Niedergang, Massenarbeitslosigkeit und Armut führt, entsteht wiederum ein "Außen" - verwüstete, verlassene Regionen und brachliegende Arbeitskräfte -, das sich in einer späteren Entwicklungsphase zum Objekt langfristiger Reparaturinvestitionen mausern kann. Die "Akkumulation durch Enteignung" ist nach Harvey ein funktionales Äquivalent für die Gewaltakte der ursprünglichen Akkumulation und die imperialistischen Landnahmen, wie sie Luxemburg und Arendt analysiert haben.

Der Modus operandi kapitalistischer Landnahmen beruht somit auf höchst unterschiedlichen Formen der Staatsintervention. Die "Sprengung" ökonomischer Gesetzmäßigkeiten kann, etwa im Falle der Ausweitung öffentlicher Dienstleistungen, der Produktion von Kollektivgütern oder des Ausbaus kollektiver Sicherungssysteme, mittels De-Kommodifizierung (Abkoppelung von Marktrisiken) sowie längerfristigen Fixierungen von Kapital im sekundären oder tertiären Kreislauf erfolgen. Jene Strategien, die Harvey als "Akkumulation durch Enteignung" bezeichnet, nutzen indessen die Privatisierung öffentlicher Einrichtungen und die Deregulierung von Arbeitsmärkten als Hebel für eine Re- oder Ent-Kommodifizierung von Arbeitskraft.

Kapitalistische Entwicklung folgt somit nicht allein den Geboten ökonomisch-technischer Effizienz und rational-kalkulierendem Denkens, sie beruht immer auch auf Zerstörung, Irrationalität, Spekulation und "betrügerischen Praktiken". (Harvey 2005: 147). Stellt man dies in Rechnung, muss man die Steuerungsfähigkeit kapitalistischer Ökonomien ebenso wie die Lernfähigkeit kollektiver Akteure skeptisch beurteilen. Zwar können kapitalistische Markwirtschaften ohne Regulationsdispositive, also ohne marktbegrenzende Institutionen und Verhaltensweisen, längerfristig nicht existieren, es stellt sich jedoch immer wieder die Tendenz ein, den marktbegrenzenden Rahmen samt der zugrunde liegenden gesellschaftlichen Kompromissbildungen in Frage zu stellen.


Marktbegrenzende Institutionen als Objekt der Landnahme:
Aufkündigung des fordistischen Kompromisses

Eben dies ist die Stoßrichtung jener finanzkapitalistischen Restrukturierung, die seit den 1980er Jahren mehr oder minder alle entwickelten Kapitalismen erfasst hat. Im Zentrum stehen Versuche, marktbegrenzende Institutionen und Machtressourcen zum Objekt neuer Landnahmen zu machen. Die Aufkündigung des fordistischen Klassenkompromisses "von oben", wie sie in den meisten entwickelten Kapitalismen seit den 1980er Jahren erfolgt ist, hat den Modus intermediärer Konfliktregulation auch in Deutschland wohl dauerhaft beschädigt. Ausschlaggebend für diese Entwicklung sind zwei Ursachenbündel. Erstens hat die flexible Akkumulation mit ihren diversen Transfermechanismen (Dominanz des Anlagenkapitals, Entstehung eines Markts für Unternehmenskontrolle, Shareholder-Value-Steuerung, interne Finanzialisierung, permanenter Standortwettbewerb) eine Planwirtschaft im Dienste von Höchstrenditen und Maximalprofiten entstehen lassen. Rendite und Gewinn erscheinen nicht mehr als Resultat wirtschaftlicher Leistungen, sondern als deren Voraussetzung, in Gestalt verbindlicher Kennziffern werden entsprechende Zielsetzungen auf alle dezentralen Unternehmenseinheiten herunter gebrochen. Das Marktrisiko haben vor allem die Beschäftigten zu tragen. Aller Wehklagen über den vermeintlich "überregulierten" deutschen Arbeitsmarkt zum Trotz hat sich - häufig innerhalb der überkommenen institutionellen Hüllen, also trotz formal fortbestehender Tarifautonomie, Mitbestimmung, Kündigungsschutz etc. - ein dramatischer Wandel des Produktionsmodells vollzogen. Entstanden ist eine flexible Produktionsweise, die auf einer starken Polarisierung des Arbeitsmarktes basiert und wachsende soziale Spaltungen produziert.


Wiederbelebung des Reservearmee-Mechanismus

Im Grunde bedeutet dies, dass den Flexibilitätsanforderungen der Unternehmen allenfalls im hochqualifizierten Sektor primär mittels ökonomischer Anreize (hohe Löhne, sichere Beschäftigung) und qualitativ guter Arbeit entsprochen wird. Unterhalb davon ist es die Wiederbelebung des Reservearmeemechanismus, verbunden mit staatlichem Druck und sozialer Disziplinierung, die nicht nur Prekarier, sondern auch viele der Festangestellten zur Selbstintegration in flexible Produktionsformen zwingt. Damit ist bereits das zweite Ursachenbündel der neuen Landnahme angesprochen. Staatliche Politik hat den Re-Kommodifizierungsdruck, der von der ökonomischen Dimension finanzkapitalistischer Landnahme ausgeht, nicht abgefedert, sondern zusätzlich verstärkt. Genau besehen hat schon die rot-grüne Bundesregierung dieses Projekt keineswegs sonderlich moderat betrieben. Auf mindestens zwei Feldern hat sie, gleichsam als politischer Wegbereiter flexibler Akkumulation, Weichenstellungen vorgenommen, die bei einer konservativen Regierung möglicherweise auf weitaus größeren Widerstands gestoßen wäre: gemeint sind die Pionierarbeiten bei der Deregulierung der Finanz- und der Arbeitsmärkte.

Auf beiden Feldern sind zentrale Hebel des Modus operandi finanzkapitalistischer Landnahme berührt. Die Maßnahmen zur Deregulierung der Finanzbeziehungen haben entscheidend dazu beigetragen, einen Markt für Unternehmenskontrolle zu schaffen und die Eigentümerstrukturen der Unternehmen durch Integration institutioneller Anleger gravierend zu verändern. Dass sich auch in Deutschland eine "Dienstleitungsklasse des Finanzmarktkapitalismus" (Windolf) herausbilden konnte, die ein manifestes Interesse an der Verstetigung finanzkapitalistischer Strukturen entwickelt, lässt sich auch auf diese politischen Maßnahmen zurückführen. Die Ausweitung der finanzkapitalistischen Risikozone geht auf ihrer Kehrseite mit einer weit reichenden Prekarisierung der Arbeit einher. Hier erfüllt das neue Arbeitsmarktregime, das mit den "Hartz-Reformen" entstanden ist, eine ähnliche Funktion wie die postfeudalen Zwangsgesetzte (Marx) und die workhouses (Foucault) in der Ära des Frühkapitalismus. Indem sie prekäre Arbeit aufwerten und den Arbeitszwang erhöhen, erzeugen sie einen disziplinierenden Druck, der (potentielle) Beschäftigte für die Erwerbsarbeit in einer flexiblen und zugleich stark polarisierten Arbeitswelt aktivieren soll.


Die Finanzkrise als Teil kapitalistischer Landnahme

Die - noch lange nicht überwundene - globale Finanz- und Überakkumulationskrise wird dem Reservearmeemechanismus zusätzliche Wucht verleihen. Finanzkrisen gehören organisch zum Modus operandi der neuen Landnahme. Auch das viel gelobte deutsche Krisenmanagement wirkt unmittelbar auf die Eigentumsverhältnisse ein. Vermögenstitel werden entwertet, um anschließend zu Schleuderpreisen und unter veränderten Besitzverhältnissen in den Kapitalkreislauf zurückgeführt zu werden. Nach David Harvey lässt sich diese Variante einer "Akkumulation durch Enteignung" über bestimmte Zeiträume effektiv lenken und rationalisieren. Finanzkrisen bewirken demnach seit jeher "den Übergang von Eigentum und Macht auf diejenigen, die ihre eigenen Vermögenswerte schützen können". Und das vom Internationalen Währungsfonds mitverantwortete Krisenmanagement von etwa 108 kleineren und größeren Erschütterungen erscheint im Nachhinein als weltweit größter "Vermögenstransfer der letzten 50 Jahre von heimischen auf ausländische Eigentümer" (Harvey 2005: 145). Neu an der gegenwärtigen Situation ist allerdings, dass die Krise die kapitalistischen Hauptländer erfasst und im Gegenzug einen "keynesianischen Moment" ausgelöst hat, von dem noch unklar ist, ob er ausreicht, um die schlimmsten systemischen Funktionsstörungen aufzufangen.


Zunahme nicht normierter Konflikte

Wahrscheinlich ist indessen, das die Folgen der Krise eine Welle sozialer Konflikte und Proteste auslösen werden. Dabei handelt es sich allerdings nicht um eine Wiederkehr des industriellen Klassenkonflikts in seiner bekannten historischen Gestalt. Der soziale Konflikt splittert auf. Zum Niedergang organisierter Arbeitsbeziehungen in manchen Sektoren und Ländern gesellen sich neue Arbeiterbewegungen in anderen Staaten, Regionen und Branchen. Entscheidend ist jedoch, dass sich kollektive (Arbeits-)Interessen auch in den entwickelten Staaten häufig nicht mehr innerhalb normierter Konflikte artikulieren. In abgehängten Quartieren und Regionen findet inzwischen häufig ein "bargaing by riots" statt, das, trotz der unbestreitbaren Relevanz ethnischer oder geschlechtsspezifischer Konstruktionen, weitgehend auf spontanem oder organisiertem Klassenhandeln beruht (Wacquant 2009). Die Aufstände in den französischen oder britischen Vorstädten waren zu einem Gutteil klassenspezifische Brotkonflikte. Ebenso wie die neu erwachte Militanz gut gebildeter griechischer Jugendlicher oder französischer Arbeiter, die aus Protest gegen Entlassung "Bossnapping" betreiben, illustriert dies, dass die überkommenen Formen intermediärer Konfliktregulation auch in den kapitalistischen Zentren für große gesellschaftliche Gruppen nicht mehr funktionieren. Je stärker die institutionellen Formen von Arbeitermacht unter Druck geraten, desto größer scheint die Bereitschaft von schwach repräsentierten Gruppen, Wut, Enttäuschung und Frustration in nicht-normierten Konflikten auszutragen.

Dass es in Deutschland noch vergleichsweise ruhig ist, darf ebenso wenig über diese Veränderungen hinwegtäuschen wie das wiedererwachte Interesse eines Teils der politischen Eliten an den Gewerkschaften. Gerade in der Krise hat das Überwälzen von Marktrisiken auf die flexibel und prekär Beschäftigten nahezu reibungslos funktioniert. Während Stammbelegschaften und ihre Interessenvertretungen in stillem Einvernehmen mit den Unternehmensleitungen ihr "Sozialeigentum" (Beschäftigungssicherheit) verteidigen, sind LeiharbeiterInnen, Befristete, Werkvertragler usw. die ersten, die in der Krise gehen müssen. Einiges spricht dafür, dass sich diese Entwicklung nach Überschreiten des Tiefpunkts der Krise noch verstärken wird. Stammbeschäftigte, die in den kommenden Monaten entlassen werden, haben jedenfalls gute Chancen, ihre Wiedereinstellung als LeiharbeiterInnen oder anderweitig Prekarisierte erleben zu dürfen.


Ökosozialer New Deal als Zukunftsperspektive

Für die Linke ist diese Entwicklung fatal, weil die Prekarisierung tendenziell auch die Bereitschaft zu dauerhafter politischer Partizipation, zu Prostest und Widerstand schwächt. Für die Sozialdemokratie kommt eine zusätzliche Belastung hinzu. Ihr Versuch, eine moderate, wettbewerbskorporatistische Politik, zu verfolgen, hat zu einer - teils gewollten, teils nicht intendierten - Annäherung an ein marktzentriertes Kapitalismusmodell geführt, das nun seinerseits besonders heftig von der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise gebeutelt wird. Was als Preis für eine unvermeidbare Anpassung an die neuen Zwänge der globalen Wirtschaft kommuniziert wurde (Streeck 1997), hat im Ergebnis eine zerrüttete Wirtschaft mit unkalkulierbaren Risiken, Rekordverschuldung und ungeliebter Staatsintervention hinterlassen. Mehr noch: Die Politik der "neuen Mitte" und der Agenda 2010 hat eine soziale Polarisierungstendenz forciert, die den sozialen Status von Gruppen bedroht, die lange Zeit zur Stammwählerschaft der Sozialdemokraten gehörten (Nachtwey 2009). Diese Gruppen werden auch die Hauptlast der Krisenfolgen, die mit Beschäftigungseinbußen, ökonomischer Stagnation, Haushaltskürzungen und schärferen Verteilungskämpfen einhergehenden sozialen Risiken zu tragen haben. Dies vor Augen, stellt sich nicht nur für die Sozialdemokratie, sondern für die gesamt Linke die Frage nach einem glaubwürdigen Zukunftsprojekt. Wie könnte eine zeitgemäße Antwort auf den Finanzmarktkapitalismus und seine Krise aussehen? Zugespitzt formuliert müsste es darum gehen, die aktuelle Krise zum Ausgangspunkt zu nehmen, um den dominanten Modus kapitalistischer Landnahme zu wechseln. Im günstigsten Fall könnte ein ökologischer New Deal mit dem "Staat als Pionier" die Weichen für gigantische Investitionsprogramme (Nutzung der Solarenergie, Erhöhung der Nutzungseffizienz) stellen und so überschüssiges Kapital in den tertiären Kreislauf, in drängende Infrastrukturinvestitionen leiten. Entwickelte Länder müssten dafür Technologie und Wissen bereitstellen, während die aufholenden Ökonomien bessere Chancen hätten, eine ressourcenschonende, klimaverträgliche Wirtschaftsweise zu entwickeln. All' dies wäre im Rahmen einer multilateralen Weltordnung mit starken regionalen Sicherheitsblöcken durchzusetzen, in der sich die USA friedlich mit dem Verlust ihrer einstmals hegemonialen Position abzufinden hätten.


Schaffung eines ökologischen Wachstumszyklus

An dieser Stelle können die Chancen eines ökologischen Wachstumszyklus nicht ausführlich erörtert werden. Immerhin plädieren kluge US-Ökonomen wie James K. Galbraith (2008: 47) für eine solche Strategie. Und sie fügen hinzu, was die eher technokratisch ausgerichteten Visionen deutscher Braintrusts gerne übersehen. Eine "lange Welle" ökologischen Wachstums muss den Druck von den schwächsten Gruppen der Gesellschaft nehmen; es muss in soziale Sicherungen, in öffentliche Güter und Beschäftigungsprogramme investiert und damit an der gesellschaftlichen Korrektur jenes "Außen" angesetzt werden, das die finanzkapitalistische Landnahme produziert hat. Schon in der technokratischen Version einer ökologischen Industriepolitik enthält ein solches Projekt freilich zahlreiche Unbekannte. Niemand weiß z. B. genau, ob und in welchem Maße ein Umsteuern auf regenerative Energien Beschäftigung schafft. Offensichtlich ist indessen, dass die Innovationsdynamik bei der Energieerzeugung und -anwendung dramatisch beschleunigt werden muss, sollen Klimaziele wie die Reduktion des CO2-Ausstoßes auch nur annähernd erreicht werden.

Die gesellschaftliche Ausrichtung notwendiger Innovationen birgt indessen Stoff für Großkonflikte in sich. Zwischen den großtechnologischen Problemlösungen, wie sie die Energiekonzerne und ihre Lobbys favorisieren (z. B. Solarkraftwerke mit großen Netzen in der Sahara) und der dezentralen Solarwirtschaft, wie sie ein Hermann Scheer vorschlägt (Scheer 2008: 53-62), liegen Welten. Die Linke sollte sich in diese Kontroversen einmischen, statt schon jetzt Eliten-Deals zu attackieren (Candeias 2009), von denen man bislang weder weiß, wie sie aussehen, noch ob sie überhaupt jemals zustande kommen. Ohnehin wird das Projekt eines ökosozialen New Deals nur eine Realisierungschance besitzen, wenn eine antagonistische Kraft entsteht, die post-demokratische Eliten wirklich herauszufordern vermag. Drei inhaltliche Mindestanforderungen an das Koordinatensystem einer solchen Kraft halte ich für zentral. Erstens muss ein gegenhegemonialer Entwurf das Vergesellschaftungspotenzial moderner Produktivkräfte ausschöpfen. Das bedeutet, von einem Entwicklungsstand auszugehen, der es erlaubt, dass "Jeder nicht einen ausschließlichen Kreis der Tätigkeit hat, sondern sich in jedem beliebigen Zweig ausbilden kann, die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt und mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun [...], ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden" (Marx, MEW 3: 33). Nicht als naives Postulat einer generellen Aufhebung von Arbeitsteilung, wohl aber als flexibles Phasenmodell, das den Wechsel von Tätigkeiten innerhalb der Lebensspanne ermöglicht, halte ich eine solche Konzeption zumindest in den entwickelten Ländern schon heute für realisierbar. Ein institutionalisierter Aktivitätsstatus, der es ermöglicht, mit jeder über eine bestimmte Zeit ausgeübten Erwerbsarbeit eine Option auf eine andere finanzierte Tätigkeit zu erwerben, böte Zugang zu einem Flexibilisierungsmodus, der einen Zuwachs an Lebensqualität für möglichst viele mit sich bringen würde.


Egalitäre Verteilung von Vermögen und sozialer Chancen

Mehr Lebensqualität verheißt ein solches Konzept aber nur, wenn es zweitens mit einer egalitären Verteilung von Vermögen, Einkommen, Erwerbs-, Bildungs- und Partizipationschancen verbunden wird. Ohne Umverteilung und Einschränkung "negativer Freiheiten" (Polanyi 1978), die auf Kosten großer Mehrheiten in Anspruch genommen werden, bleibt die Ausweitung individueller Optionen der Lebensführung für viele eine bloße Fiktion. In einem gesellschaftlichen Klima, in welchem jede Umverteilungsforderung sogleich den Vorwurf des Sozialneids provoziert, sind besonders dicke Bretter zu bohren. Bei der Umverteilung geht es aber nicht allein um Geld und Besitz, sondern gerade auch um Arbeits- und Nichtarbeitszeiten. Kurze Vollzeit für alle (durchschnittlich längere Arbeitszeiten für Frauen, kürzere für Männer), ist ein auch geschlechterpolitisch unverzichtbares Zukunftsziel (Bosch u.a. 2009).


Möglichkeiten der Wirtschaftsdemokratie

Soll die Frage nach sinnvoller Produktion und nachhaltigem Konsum nicht nur gestellt, sondern auch mit Konsequenz beantwortet werden, wirft dies schlicht die Frage nach alternativen, rationaleren Formen des Wirtschaftens auf. Anders gesagt, es handelt sich um ein Problem nicht nur individueller Lebens- sondern gesellschaftlicher Produktionsplanung. Exakt das thematisiert der Begriff der Wirtschaftsdemokratie. An dieser Stelle kann es nicht darum gehen, ein praktikables wirtschaftsdemokratisches Modell zu präsentieren. Das Konzept der kapitalistischen Landnahmen impliziert, dass es unsinnig wäre, ältere sozialdemokratische (Fritz Naphtali) oder linkssozialistische (Viktor Agartz) Konzeptionen einfach zu beerben. Allerdings wirft die Krise des Finanzkapitalismus von sich aus die Frage nach neuen Formen von Wirtschaftsdemokratie auf. In den diversen "Managementphilosophien" ist es inzwischen ein Gemeinplatz, dass Rationalisierungs- und Innovationsprozesse auf das informelle Wissen von Beschäftigten angewiesen sind. Was auf der Unternehmensebene eingeklagt, wenngleich selten mit Konsequenz praktiziert wird, kann in der Gesellschaft, bei den Auseinandersetzungen um das "Was" und "Wozu" von Produktion und Konsum aber wohl kaum falsch sein. Das zumal, etwa beim Management der Banken- oder der Autokrise, längst Planungsmechanismen greifen, die freilich jenseits demokratischer Öffentlichkeiten von den gleichen Expertokratien bedient werden, deren Definitionsmacht das Desaster auf den Weltfinanzmärkten mit verursacht hat.

Wirtschaftsdemokratische Ansätze müssten auf mindestens vier Ebenen etabliert werden: als direkte Partizipation von Beschäftigten am Arbeitsplatz und im Betrieb; als Kollektivwille innerhalb und im Umfeld großer Unternehmen, der explizit macht, dass es sich bei diesen Wirtschaftsorganisationen im Grunde um öffentliche Institutionen handelt; über regionale wie nationale Wirtschafts- und Strukturräte sowie als Demokratisierung wichtiger internationaler Institutionen. Letzteres hieße in ersten Schritten Europäisierung der Mitbestimmung, aber auch selbstkritischer Umgang mit korporatistischem Filz in den Interessenvertretungen und darüber hinaus die Beteiligung von Repräsentanten reproduktiver Interessen (Umwelt- und Konsumentenorganisationen, NGOs) an wichtigen Unternehmensentscheidungen. Die Ausweitung demokratischer Partizipation auf strategische Investitionsentscheidungen großer Unternehmen wäre gut in ein solches Programm zu integrieren. Demokratische Legitimation und Beteiligung von Beschäftigten könnten staatlich-öffentliche Interventionen zudem gegenüber einem autoritären Protektionismus profilieren, der sich den Bevölkerungen als systemerhaltende Problemlösungsstrategie anempfiehlt. Wirtschaftsdemokratie könnte so zum institutionellen Rahmen einer möglichen neuen Prosperitätskonstellation werden, die die Menschen in großer Zahl in die Lage versetzt, "ihr Leben so zu gestalten wie sie es wollen" (Lutz 2009: 48-51).


Kein Wandel ohne Träger einer erneuerten antikapitalistischen Sozialkritik

Mag sein, dass ein ökosozialer New Deal letztendlich nicht mehr sein wird, als eine erneute Modernisierung und befristete Überlebensgarantie für das kapitalistische System. Eine realistische Option wird er jedoch nur dann, wenn er Unterstützung durch gesellschaftliche Kräfte, durch die Träger einer erneuerten, antikapitalistischen Sozialkritik erhält, die das Legitimationssystem des Finanzmarktkapitalismus radikal destruieren. Genau daran mangelt es gegenwärtig. Die globale Krise hat die inneren Widersprüche der finanzkapitalistischen Landnahme eklatieren lassen. Solange es beim Eklat bleibt, ohne dass sich eine politische Alternative abzeichnet, wird die Krise den Modus operandi der Landnahme modifizieren, aber nicht außer Kraft setzen oder gar umkehren. Systemische Ursachen von Krisen und Ungerechtigkeiten aufzudecken, muss zum Anliegen einer radikalen, an der Wurzel ansetzenden, zeitgemäßen Kapitalismuskritik werden. Die "Mosaiklinke" (Urban 2009) des 21. Jahrhunderts wird wieder eine system- und kapitalismuskritische sein (am Beispiel der neuen Frauenbewegung: Fraser 2009) oder sie hat keine Existenzberechtigung.


Dr. Klaus Dörre ist Professor für Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie an der Friedrich Schiller-Universität Jena und Mitherausgeber der spw.


Literatur

• Aglietta, Michel (1979):(2000), Ein neues Akkumulationsregime. Die Akkumulationstheorie auf dem Prüfstand, Hamburg: VSA.

• Arendt, Hannah (2006), Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft [1951], 11. Aufl., München: Piper.

• Bosch, Gerhard/Lehndorff, Steffen/Rubery, Jil (2009), European employment models in flux, Houndmills/Basingstoke: Palgrave Macmillan.

• Bourdieu, Pierre (2000): Die zwei Gesichter der Arbeit. Interdependenzen von Zeit- und Wirtschaftsstrukturen am Beispiel einer Ethnologie der algerischen Übergangsgesellschaft, Konstanz: UVK.

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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 5/2009, Heft 173, Seite 34-45
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Oktober 2009