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INTERNATIONAL/031: Nicaragua - Strafminderung für Vergewaltiger löst Proteste aus (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 27. Juli 2011

Nicaragua: Strafminderung für Vergewaltiger löst Proteste aus - Zweifel an Unabhängigkeit des Obersten Gerichtshofs

Von José Adán Silva

Fátima Hernández - Bild: © Oscar Sánchez/IPS

Fátima Hernández
Bild: © Oscar Sánchez/IPS

Managua, 27. Juli (IPS) - In Nicaragua hat der Oberste Gerichtshof in einem spektakulären Vergewaltigungsfall ein vorangegangenes Urteil revidiert und die Haftstrafe für den Täter von acht auf vier Jahre verringert. Außerdem wurde angeordnet, den seit 18 Monaten inhaftierten Farinton Reyes wegen guter Führung vorzeitig aus der Haft zu entlassen. Frauen- und Menschenrechtsorganisationen sprechen von einem politisch motivierten und gefährlichen Präzedenzfall.

"Es gibt keine Entschuldigung dafür, einen Vergewaltiger vom Haken zu lassen", kommentierte Juana Jiménez von der Autonomen Frauenbewegung die Entscheidung des hohen Gerichts vom 22. Juli, die Vergewaltigung von Fátima Hernández vor zwei Jahren als Affekthandlung einzustufen und das Strafmaß zu mindern.

Wie Vilma Núñez vom Nicaraguanischen Menschenrechtszentrum (CENIDH) kritisierte, hat das Tribunal gegen die grundlegenden Rechte des Opfers verstoßen. An der Tatsache, dass Hernández von Reyes am 25. Juli 2009 vergewaltigt wurde, gebe es nichts zu rütteln. "Wir hatten ein Opfer, einen Angreifer, ein Verbrechen, Zeugen und Beweise. Doch das Gericht entschied, den Täter freizulassen und dem Opfer mit dem Vorwurf, die Straftat zugelassen zu haben, eine Mitschuld zu geben. Das ist unerhört", sagte Núñez. Hernández auf diese Weise zu einer Komplizin ihres Peinigers zu machen sei gerade im Hinblick auf die vielen Sexualdelikte in Nicaragua unverantwortlich.

Nach Angaben des Rechtsmedizinischen Instituts kam es in den ersten fünf Monaten des laufenden Jahres in der Hauptstadt Managua pro Tag zu durchschnittlich 14 Sexualdelikten. Im gleichen Zeitraum wurden 40 Frauen ermordet. 2010 waren es 89 gewesen. In so gut wie allen Fällen hatten die Verbrechen einen geschlechtsspezifischen Hintergrund.


Gefährlicher Präzedenzfall

In Nicaragua sieht das Gesetz acht bis zwölf Jahre Haft für Vergewaltiger vor. Doch die obersten Richter hielten Reyes zugute, im Affekt gehandelt zu haben und ordneten seine Freilassung an. Farinton Reyes habe unter dem Einfluss von Alkohol gestanden, hieß es in der Urteilsverkündung. Außerdem habe Hernández die Tat offensichtlich zugelassen, da sie mit dem Täter zuvor mehrere Biere getrunken habe. Die Freilassung des seit 18 Monaten inhaftierten Reyes begründete das höchste Tribunal im Lande mit dessen guter Führung und der Tatsache, dass er keine kriminelle Vorgeschichte und die Tat nicht vorsätzlich begangen habe.

Paradoxerweise hatte das gleiche Gericht vor knapp einem Monat die Kampagne 'Frauen, ihr seid nicht allein' gestartet, die dazu beitragen soll, die Öffentlichkeit für das Problem der sexualisierten Gewalt zu sensibilisieren. Auch ist für Oktober ein Seminar geplant, das sich mit einer Straftat befassen soll, die drittwichtigste Ursache einer rechtsmedizinischen Untersuchung ist.

In dem zentralamerikanischen Land wurde der Fall Hernández gegen Reyes von der Öffentlichkeit aufmerksam verfolgt, da sich erstmals ein Vergewaltigungsopfer offensiv gegen einen Täter 'aus gutem Hause' zur Wehr setzte. Hernández hatte mit tagelangen Mahnwachen und Hungerstreiks eine angemessene Bestrafung ihres Peinigers gefordert.

Mitte 2010 stellte schließlich ein Gericht die besondere Schwere der Straftat fest und verurteilte den Täter zu acht Jahren Haft. Ein halbes Jahr später verringerte ein Berufungsgericht in Managua das Strafmaß auf sechs Jahre. Daraufhin forderte die Staatsanwaltschaft das Oberste Gericht auf, den Fall wegen Verfahrensfehlern neu aufzurollen.


Politisches Urteil

Das jetzt vorliegende neue Urteil, das von keinem nationalen Tribunal angefochten werden kann, hat nach Ansicht seiner Kritiker einen politischen Hintergrund. Reyes ist Mitglied der regierenden Sandinistischen Nationalen Befeiungsfront (FSLN), und seine Mutter, die bekannte ehemalige Leichtathletin Xiomara Larios, unterhält ebenfalls beste Beziehungen zur Regierung.

Hinzu kommt, dass eine der obersten Richter, Juana Méndez, der linksgerichteten FSLN nahesteht. Méndez hatte bereits 2001 mit einem Fall sexualisierter Gewalt zu tun, der weit reichende politische Folgen hatte. Damals ließ der Oberste Gerichtshof eine Klage gegen den FSLN-Chef und derzeitigen Staatspräsidenten Daniel Ortega fallen. Ortega war von seiner Stieftochter Zoilamérica Narváez wegen Missbrauch, Vergewaltigung und sexueller Nötigung in den Jahren 1978 bis 1998 verklagt worden. 1978 war Narváez elf Jahre alt gewesen.

Der Fall wurde mit der Begründung abgewiesen, die Frist für eine strafrechtliche Verfolgung sei abgelaufen. Die Entscheidung ermöglichte die Wiederwahl Ortegas, der das Land erstmals von 1985 bis 1990 regierte. Wie schon Ortega zehn Jahre zuvor wurde auch Reyes von dem Staranwalt Ramón Rojas in seinem Prozess vor dem Obersten Gerichtshof verteidigt.

Méndez erklärte gegenüber der Presse, dass Reyes zwar ein Verbrechen begangen habe, es aber nicht vorsätzlich und mutwillig geschehen sei. Das Opfer habe sein Einvernehmen signalisiert, indem es Reyes freiwillig bis zum Tatort begleitet habe (was das Opfer jedoch bestreitet). "Es kam zu einem Exzess einer sexuellen Handlung."


"Ungesetzliches Urteil"

Méndez gehört zu den 15 der 16 obersten Richter, die das Urteil unterzeichnet haben. Die Richterin Yadira Centeno hingegen schloss sich dem Mehrheitsbeschluss nicht an. Sie bezeichnete die Verringerung der Haftstrafe als "ungesetzlich". Im Licht der Tatsachen habe sie keine Voraussetzungen erkennen können, die mildernde Umstände gerechtfertigt hätten, sagte sie.

Hernández war auf eine Freilassung ihres Peinigers nicht gefasst gewesen. Sie erlitt einen Schock und musste stationär behandelt werden. Ihr Vater, Esteban Hernández, erklärte gegenüber der Presse, dass sie eine Stellungnahme abgeben werde, sobald es ihr besser gehe. Der Ruf seiner Tochter nach Gerechtigkeit werde nicht verstummen, "selbst wenn dies bedeuten würde, dass wir ins Exil gehen müssen".

Fátima Hernández hatte vor dem Gerichtsverfahren erklärt, dass sie das Asylangebot eines nicht genannten Landes möglicherweise annehmen und ihren Fall vor die Interamerikanische Menschenrechtskommission der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) bringen werde, um eine Verurteilung Nicaraguas durch den Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshof zu erwirken. (Ende/IPS/kb/2011)


Links:
http://www.cenidh.org/
http://www.ipsnoticias.net/nota.asp?idnews=98454
http://www.ipsnoticias.net/nota.asp?idnews=98709

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Quelle:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Juli 2011