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INTERNATIONAL/119: Bolivien - "Lynchmord ist Mord", mit indigener Rechtsprechung unverträglich (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 10. Dezember 2013

Bolivien: 'Lynchmord ist Mord' - Selbstjustiz mit indigener Rechtsprechung unverträglich

von Franz Chávez


Bild: © Dico Soliz/Opinión

Abtransport eines ermordeten Lynchopfers in einem Dorf in Chapare
Bild: © Dico Soliz/Opinión

La Paz, 10. Dezember (IPS) - In Bolivien schockieren in regelmäßigen Abständen Bilder von verkohlten oder verstümmelten Leichen die Öffentlichkeit. Bei den Toten handelt es sich um Opfer von Lynchmorden, die häufig als Form indigener Gemeindegerechtigkeit dargestellt werden. Doch in der Rechtsprechung der Ureinwohner ist die Todesstrafe nicht vorgesehen.

Das Büro des staatlichen Ombudsmanns gibt die Zahl der zwischen 2005 und Oktober 2013 potenziell durchgeführten, versuchten, angedrohten und tatsächlich begangenen Lynchmorde mit 53 an. Die Straftaten konzentrieren sich auf sieben Städte: auf La Paz, El Alto, Cochabamba, Chapare, Cobija, Potosí und Llallagua. Allerdings ergab die Auswertung von Medienberichten, dass zwischen 2005 und 2012 180 Personen gelyncht wurden.

Und das Phänomen greift um sich. Journalisten berichteten allein zwischen April und August dieses Jahres über 35 Fälle von Lynchjustiz mit tödlichem Ausgang. Von diesen Verbrechen wurden 14 im westlichen Departement La Paz - vor allem in El Alto, einer Arbeiterstadt in der Nähe von La Paz - begangen, die restlichen elf im Departement Cochabamba.

Gerade in diesem zentralen Departement zeigt die Selbstjustiz ihr hässlichstes Gesicht. Betroffen ist vor allem die tropische Kokaanbauprovinz Chapare, wo die Bevölkerung mehrheitlich aus indigenen Quechua besteht. Inzwischen zeigen aber auch die Aymara, die zweitgrößte Volksgruppe des südamerikanischen Landes, hier immer mehr Präsenz.

Am 27. September wurden in Entre Ríos, einer kleinen Stadt in der Chapare-Provinz, zwei übel zugerichtete Leichen gefunden. Die Opfer waren zwischen 25 und 30 Jahre alt und bei lebendigem Leib verbrannt worden. Man hatte sie verdächtigt, den Fahrer eines Motorradtaxis berauben zu wollen. Treibstoff und Gummireifen dienten als Brandbeschleuniger.


Strafverfolgung schwierig

Der Lynchmord wurde als Akt indigener Rechtsprechung dargestellt. Die an dem Verbrechen beteiligten Personen werden durch eine Mauer des Schweigens geschützt, "Jemanden zu lynchen ist Mord, der auch mit der indigenen Rechtssprechung unvereinbar ist", sagt dazu der Ombudsmann von Cochabamba, Raúl Castro.

"Wir haben es mit einer außergerichtlichen Hinrichtung zu tun", so auch der für das Departement zuständige Staatsanwalt Freddy Rorrico. Da die Verbrechen im Kollektiv begangen und verschwiegen würden, sei es nicht leicht, die Täter zu überführen und zu verurteilen.

Nach Ansicht des nationalen Ombudsmanns Rolando Villena würde ein effektives und transparentes nationales Justizsystem, das Fälle zeitnah abarbeitet, zu einer Verringerung der summarischen Hinrichtungen führen. Villena zufolge müsste auch die Polizeipräsenz in den ländlichen Gebieten verstärkt werden. Misstrauen und Unwissenheit seien weitere Faktoren, die Selbstjustiz begünstigen.

Die Verfassung von 2009 hat Bolivien in Anerkennung der indigenen Mehrheit, die traditionell unter Diskriminierung und Rassismus leidet, zu einem plurinationalen Staat erklärt. Sie räumt den Bürgern des Andenstaates das Recht ein, hochrangige Gerichte und Räte mit Personen ihrer Wahl zu besetzen.

Artikel 191 bis 193 befassen sich auch mit der indigenen Gerichtsbarkeit. Sie berechtigen die Gemeinschaften, bei kleineren Vergehen die Täter auf ihre eigene Weise zu bestrafen. Grundsätzlich jedoch muss die indigene Rechtsprechung mit dem nationalen Recht in Einklang stehen und das Recht auf Leben und Verteidigung garantieren. Die Todesstrafe ist in der indigenen Rechtsprechung ohnehin nicht vorgesehen.

Wie Cintia Irrazábal vom kommunalen Justizprogramm erläutert, geht es bei den indigenen Verfahren meist um Vieh- oder Saatgutdiebstähle. Auf öffentlichen Versammlungen würden die Täter von den Chiefs in der Regel zu Arbeitseinsätzen verurteilt. Bei Raub können sie zusammen mit ihrer Familie aus ihrer Gemeinschaft verbannt werden. "Das ist dann auch schon die Höchststrafe", unterstreicht Irrazábal. "In Mord- und Vergewaltigungsfällen und bei anderen Schwerverbrechen werden die Polizei und das reguläre Justizsystem eingeschaltet."


Rechtlich unterversorgt

Ombudsmann Villena zufolge begünstigen die Abwesenheit der Polizei, der schlechte Zustand des regulären Justizsystems und die verbreitete Straffreiheit das Phänomen der Selbstjustiz. 45 Prozent der bolivianischen Gemeindebezirke verfügen über keinen einzigen Richter. In nur 23 Prozent gibt es einen Strafverfolger, in nur drei Prozent einen Strafverteidiger.

Für Félix Costa, Bürgermeister von Puerto Villarroel, einer der fünf Gemeinden der Chapare-Provinz, sind die Lynchmorde Ausdruck der Unzufriedenheit mit den Strafverfolgungsbehörden. Die Menschen in der 46.000 Einwohner zählenden Stadt seien wütend, dass mutmaßliche Kriminelle sehr häufig durch die Netze von Polizei oder Gerichte schlüpften.

Am 4. November wurde in Sorata, einer kleinen Stadt im Departement La Paz, ein 25-Jähriger aus seinem Haus geholt, bewusstlos geschlagen, in eine Grube geworfen, am nächsten Tag vergiftet und dann gehängt. Er soll einen Ladenbesitzer ermordet haben.

In Puerto Villarroel, einem Handelszentrum und Verkehrsknotenpunkt zwischen dem Osten und Westen Boliviens, gibt es gerade einmal 20 Polizisten, die die öffentliche Sicherheit, den Straßenverkehr und den Anti-Drogenkampf regeln.

Staatsanwalt Torrico kennt die Grenzen der Strafverfolgung aus eigener Erfahrung. "Mir stehen lediglich drei Staatsanwälte zur Seite, die einer Vielzahl von Verbrechen nachgehen müssen. Drei weitere sind für Drogendelikte zuständig", sagt er.

Die Opfer werden häufig auch deshalb verbrannt, um Spuren zu beseitigen. Die Gewalt richtet sich in der Regel gegen Personen, denen Mord, Vergewaltigung oder Raub vorgeworfen wird. Manchmal reicht der Diebstahl eines Fahrrads oder einer Gasflasche aus, um einem Menschen den Tod zu bringen. "Der Diebstahl eines Motorrads", so Torrico, "steht in keinem Verhältnis zu einer solchen Strafe." (Ende/IPS/kb/2013)


Links:

http://www.ipsnews.net/2013/12/lynch-mobs-invoke-community-justice-bolivia/
http://www.ipsnoticias.net/2013/12/falsa-justicia-comunitaria-arropa-linchamientos-en-bolivia/

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 10. Dezember 2013
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Dezember 2013