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OFFENER BRIEF/006: Zum Verfahren gegen mutmaßliche RZ-Mitglieder in Frankfurt (Grundrechtekomitee)


Komitee für Grundrechte und Demokratie
Pressemitteilung vom 1. Juli 2013

Zum Verfahren gegen mutmaßliche RZ-Mitglieder in Frankfurt



In dem Strafverfahren gegen zwei vermeintliche RZ-Mitglieder, das seit September letzten Jahres geführt wird, haben sich in dieser Woche Freunde und die Familie der in Beugehaft genommenen Sibylle S. und von Hermann F. mit einem offenen Briefappell an das hessische Justizministerium und in gleichlautenden Briefen an das Gericht und die Staatsanwaltschaft gewandt.

Das Komitee für Grundrechte und Demokratie, das diesen Appell unterstützt, möchte auf diesen Apell hinweisen.


OFFENER BRIEF

Mia Lindemann
presseadresse@gmx.de

An
Herrn Jörg-Uwe Hahn
Hessischer Minister der Justiz, für Integration und Europa
Luisenstr. 13
65185 Wiesbaden

Heidelberg, den 30.6.2013

Offener Brief
der Familie und Freunde von Sibylle S. und Hermann F.

Sehr geehrter Hahn,

seit einigen Monaten wird vor dem Landgericht Frankfurt ein Prozess gegen zwei mutmaßliche militante Linksoppositionelle, 80 und 71 Jahre alt, geführt. Die ihnen zur Last gelegten Straftaten liegen über 30 Jahre zurück. Außerhalb des Staatsschutzsonderrechtes wären diese längst verjährt. Die militante Organisation, der die beiden betagten Angeklagten staatlicherseits mitgliedschaftlich zugerechnet werden (Revolutionäre Zellen - kurz RZ), hat sich vor 20 Jahren aufgelöst. Eine unmittelbare Gefahr für die Sicherheit von Staat und Gesellschaft besteht insofern nicht mehr. Die nachträgliche Bekämpfung von mutmaßlichen Staatsfeinden mit strafrechtlichen Mitteln findet selbst in der Öffentlichkeit kaum Interesse. Warum dann dieser Aufwand? Was sind eigentlich die materiellen Grundlagen dieses Strafverfahrens? Auf welchen Zeugnissen beruht die Anklage?

  • Eine durch Strafrabatt erkaufte Zeugenaussage zugunsten des Staates und seiner Strafverfolgungsbehörden, deren "Glaubwürdigkeit" bislang die Zeitspanne einer Verhandlungspause kaum überdauerte.
  • Ein potentielles "Zeugnis" unbestimmter Qualität, das allerdings noch menschenrechtswidrig mittels Beugehaft erzwungen werden müsste. Denunziation und existenziell zermürbender Freiheitsentzug, die die Unversehrtheit des Menschen allein zum Zweck der Aussagebereitschaft verletzen, waren eigentlich Werkzeuge mittelalterlicher Inquisition wider dissidente Ketzer, oder Werkzeuge neuzeitlicher Diktaturen gegen politische Oppositionelle.
  • Bleiben noch die "Erkenntnisse", die grundrechtswidrig von einem schwer verwundeten und seelisch tief traumatisierten "Zeugen" abgeschöpft wurden, während er völlig von der Außenwelt isoliert und allein der Staatsgewalt und deren Ermittlern unterworfen worden war. Diese "Verhörprotokolle" strafprozessual zu verwerten, negiert nicht nur erneut die Menschenwürde des Verhörten, sondern legitimiert damit geradewegs die grundrechtswidrigen "Ermittlungspraktiken". In der staatlichen Bekämpfung seiner mutmaßlichen Feinde werden Menschen zum bloßen Mittel herabgewürdigt. Es sind solche Verhör- und Ermittlungspraktiken, die die Grenzen zwischen rechtsstaatlicher Strafverfolgung und Feindstrafrecht inzwischen verwischen lassen.

Aber sind in der nachträglichen Verfolgung mutmaßlicher linker Militanter alle Mittel recht? Wir, die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner dieses Offenen Briefes meinen: Nein!

  • Die "Verhörprotokolle" Hermann Fs., aufgezeichnet noch während seines Krankenhausaufenthaltes und später in abgeschotteten Polizeikasernen, dürften - ginge es grundrechtlich und rechtsstaatlich zu - überhaupt nicht zur Grundlage des Verfahrens gemacht werden. Diese widerrechtlich erzeugten Vorhörprotokolle machen ihn in diesem Prozess erst zum gerichtlich verwertbaren "Zeugen". Seine damalige, von den Ermittlern rücksichtslos ausgenutzte und durch Verletzungen und Medikamenteneinfluss bedingte Orientierungslosigkeit, will sich das Gericht erneut zunutze machen. Ihn als "Zeugen" vorzuladen, kann nur als Ausdruck einer fundamentalen Feindseligkeit verstanden werden. Wie lange darf ein an Leib und Seele zu Schaden gekommener, staatlicherseits traktierter und verhörgequälter Mensch zu Strafverfolgungszwecken immer und immer wieder erneut "angehört" werden? Will das Gericht ihm die "Verhörprotokolle" erneut vorhalten? Wie steht es um die Menschenwürde, die zu verwirklichen und zu schützen allem staatlichen Handeln verfassungsgemäß Auftrag ist? Hermann F. hat seine in existenzieller Notlage von Ermittlern abgeschöpften Angaben längst widerrufen. Zu diesem Prozess hat er nichts beizutragen. Ihn vorzuladen, setzt leichtfertig seine Gesundheit aufs Spiel, u. a. durch das Risiko erneuter epileptischer Anfälle. Die Vorladung demonstriert ihm erneut in demütigender Weise seine Ohnmacht gegenüber der Staatsgewalt. Ist das bezweckt? Wir appellieren an Sie, nehmen Sie Abstand davon, Hermann F. vorzuladen.
     
  • Das gleiche gilt für die in menschenrechtswidrige Beugehaft genommene Sibylle S., die ehemalige Lebens- und Weggefährtin von Hermann F. Sie ist vor über 30 Jahren allein aufgrund der grundrechtswidrig zustande gekommenen Verhörprotokolle zu einer Freiheitsstrafe von 15 Monaten verurteilt worden. Neun Monate hat sie damals in Haft verbracht. Als "Zeugin" hat sie zu dem aktuellen Strafprozess, der wieder auf Grundlage der "Verhörprotokolle" betrieben wird, nichts beizutragen und verweigert daher jegliche Aussage. Dafür wird sie nun mit Freiheitsentzug staatlich traktiert, der bis zu sechs Monaten dauern kann und der ihre berufliche und familiäre Existenz bedroht. Das Gericht will, wohlwissend, dass die Anklage auf glaubwürdigkeitsschwächelnden und grundrechtswidrig ermittelten "Zeugnissen" basiert, Sibylle S. zu Aussagen zwingen in der Hoffnung, diese könnten doch noch die Anklage bestätigen. Allein um der unnachgiebigen Strafverfolgung willen wird die eigentlich staatlich zu schützende Integrität von Sibylle S. verletzt. Wir appellieren an Sie, Sibylle S. umgehend aus der Haft zu entlassen und ihre Entscheidung, die Aussage zu verweigern, zu akzeptieren.
     
  • Es ist zudem an der Zeit die Verfahren gegen Sonja Suder und Christian Gauger einzustellen. Sonja Suder ist aus der Haft zu entlassen. Es zeigt sich, dass in dem Verfahren die gerichtliche Wahrheitskonstruktion vor allem mittels erzwungener Zeugnisse oder aufgrund menschenrechtswidriger Verhörmethoden erfolgen kann. Das widerspricht den Grund- und Menschenrechten, an die in einem demokratisch verfassten und liberalen Rechtsstaat alle staatliche Gewalt gebunden ist. Es sei denn, die Strafverfolgungsbehörden und die Schwurgerichtskammer hielten dafür, sich nach über 30 Jahren in der vermeintlichen inneren Feindbekämpfung darüber hinweg setzen zu können.

Mit freundlichen Grüßen
Mia Lindemann


Wir unterstützen den Appell der Familie und Freunde, Sibylle S. aus der Beugehaft zu entlassen, Hermann F. nicht als Zeugen vorzuladen und die Verfahren gegen Sonja Suder und Christian Gauger einzustellen:

- Komitee für Grundrechte und Demokratie e.V., Köln
- Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen e.V., Krefeld
- Uwe Sievers, Journalist, Berlin
- Prof. Wolf-Dieter Narr, Berlin
- Prof. Dr. Michael Hoenisch, Berlin
- Edgar Weick, Frankfurt a.M., Pädagoge
- Malah Helman, Berlin, Künstlerin
- Dr. Richard Kelber, Dortmund, Kritiker
- Prof. Markus Wissen, Berlin, Hochschullehrer
- Prof. Dr. Birgit Sauer, Wien
- Dr. Elke Steven, Köln, Soziologin
- Martin Singe, Bonn, Theologe
- Martin Huhn, Mannheim, Industriepfarrer i.R.
- Jürgen Lodemann, Freiburg, Schriftsteller
- Dr. Torsten Bewernitz, Mannheim, Politologe
- Mario Damolin, Heidelberg, Journalist
- Dr. Nadja Rakowitz, Maintal, Geschäftsführerin des Vereins demokratischer Ärztinnen und Ärzte
- Ralf Kliche, Maintal, Lehrer
- Peter Kühn, Flemlingen , Schulleiter a.D.

und 74 weitere Unterzeichner/innen

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Quelle:
Pressemitteilung vom 1. Juli 2013
Komitee für Grundrechte und Demokratie
Aquinostr. 7 -11, 50670 Köln
Telefon 0221 97269 -30; Fax -31
E-Mail: info@grundrechtekomitee.de
Internet: www.grundrechtekomitee.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Juli 2013