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RUNDBRIEF/010: Gruß zum Weihnachtsfest und Jahreswechsel 2014/2015 (SB)


Liebe Leserin und lieber Leser!



In guter Tradition, verbunden mit herzlichen Grüßen, möchten wir an dieser Stelle allen unseren Lesern, Mitstreitern und Kollegen, Veranstaltern und konstruktiven Gesprächspartnern sowie nicht zuletzt unseren hochengagierten Informanten eine erholsame Weihnachtszeit und den denkbar besten Start in das Jahr 2015 wünschen.

Im Unterschied zu den Gepflogenheiten nun, diesen Grüßen einen gereimten Appell oder eine Jahresermutigung im Versmaß beizufügen, wollen wir es 2014 einmal mit einer kleinen Erzählung aus dem Kulturschatz christlich-abendländischer Überlieferung ganz nach dem Motto versuchen: "... und wie es auch hätte geschehen können".


Das Krippenkind

Es war eine Zeit der kalten Herzen. Die meisten Menschen besaßen zu wenig, um es mit anderen zu teilen oder etwas davon abzugeben. Eher mißtrauisch und verteidigungsbereit war auch niemand mehr recht fähig zu Entgegenkommen und Gastfreundschaft. Selbst die großen Herbergen in den Handelszentren entlang der Reiserouten aus aller Welt waren mindestens maßlos überteuert und kamen nicht selten Hauptquartieren organisierter Wegelagerer gleich, so daß reisenden Händlern wie mir und meinen beiden Mitstreitern Bashir und Obinna gut geraten war, die Hauptwege und Zentren immer wieder zu umgehen, wenn wir mit unserer Ware ans Ziel kommen und mit unserem Gewinn heil wieder zurückkehren wollten.

Wie befremdlich, beängstigend waren doch die kargen und öden Regionen Palästinas zum Beispiel, die wir auf unseren Missionen zu durchqueren hatten, im Gegensatz zu den zivilen Gegenden unseres Heimatlandes. Und nur kultivierte Menschen wie wir können ermessen, welche Entbehrungen und Gefahren mit Geschäften wie unseren Hand in Hand gingen. So war man schon glücklich, auf den Abwegen durch die Ödlande und Wüsten auf einen wilden Dattelhain oder eine Felsformation zu stoßen, die wenigstens ein wenig Schatten und Schutz für die Errichtung eines Lagers und das Entfachen eines wärmenden Feuers und eine wenn auch unvollständige Deckung vor dem ewig gleichströmenden Wüstenwind bot, der seine unangenehmsten Eigenschaften erst bei Einbruch der Dunkelheit bei zunehmender Kälte entfaltete.

Es war Obinna, einer meiner beiden Freunde und Partner, der wie oft im dämmrigen Licht des Abendscheins eine geeignete Stelle in der Ödlandschaft unendlicher Sanddünen und karger Vegetation ausmachte. Obinna, ein freigekaufter Sklave und Händler, ein Philosoph und Freigeist wie auch ich und Bashir, hatte uns beiden die Geschicklichkeit voraus, sich auch in fremdesten Gegenden zurechtzufinden und zielstrebig das jeweils Erforderliche zu tun oder zu vermeiden.

Erst als wir unseren zum Nachtlager erwählten Platz erreicht hatten, konnten wir erkennen, daß es sich um die Ruine eines verlassenen Hauses handelte, das allem Anschein nach vollends niedergebrannt war. Das kleine Nebengebäude, ein ehemaliger Stall offenbar, schien nicht minder zerstört zu sein, die Überdachung fehlte zum großen Teil und die lehmverschmierten Wände gaben dem Wind mehr Wege frei als sie versperrten.

In der unmittelbaren Umgebung raschelten und rauschten die Überreste einer vertrockneten Vegetation im immer wachen Wüstenwind. Vielleicht war dieses Haus einmal eine Herberge, sicher kein Gehöft, und hatte den neueren Handelswegen indessen seinen Tribut gezollt. In der fast zur Dunkelheit gediehenen Dämmerung hatten wir alle den Eindruck, daß dieser Ort ein wenig in einer Senke lag, geradezu ideal dafür, um Schutz für eine Nacht zu suchen.

Schnell hatten wir entschieden, uns in die Überreste des Stalles zurückzuziehen, nicht ohne noch zuvor genug Brennholz aufzulesen, um unser Lagerfeuer dann vor einer ausreichend gut erhaltenen Stallnische zu entzünden und uns daran niederzulassen.

Das Dromedar und die beiden Esel unserer Kleinstkarawane befestigten wir notdürftig mit langen Stricken an ehemals tragenden Balken ohne Last und überließen sie ihren Träumen. Die Waren und unsere Vorräte stapelten wir hinter uns an die Wand und hatten das Feuer gerade noch zum Lodern gebracht, bevor die Nacht ganz hereinbrach. Nicht nur wegen des kristallklaren Sternenhimmels empfanden wir diese Nacht als besonders kalt. Frosteinbrüche waren in dieser Region und zu dieser Zeit so ungewöhnlich nicht.

Noch nicht in unsere Decken zum Schlafen eingerollt und doch am Ende unserer kleinen Notmahlzeit aus Datteln und gedörrtem Fleisch, das wir mit abgestandenem Wasser aus unseren eigenen Vorräten herunterspülten, wurden wir durch die Unruhe unserer Tiere aufgeschreckt.

Drei oder vier erbärmlich gekleidete Gestalten traten in den Schein des Feuers, und Obinna fragte sie sofort mit respekteinflößendem Grollen in der Stimme, was denn ihr Begehr sei. Einen Augenblick standen sie einfach nur da, schweigend. Es war ihnen anzusehen, daß sie weder Unterkunft noch Herberge, weder Haus noch Zelt hatten, um vor der Kälte und dem zehrenden Wind zu fliehen. Zelt- und hauslose Menschen allerdings waren in dieser Zeit keine Seltenheit und sie hielten sich vorzugsweise außerhalb der Dörfer an entlegenen Orten auf, denn das Mißtrauen und die Grausamkeit der Besitzenden waren oft schlimmer als der Tod und die Arme des Hungers oder der Kälte.

"Vielleicht", sprach Bashir, um keinen Zwist aufkommen zu lassen und weil es die Art der Händler war, Kompromisse zu finden, "vielleicht könnt ihr euch mit an unserem Feuer erwärmen. Vorräte und Wasser können wir nicht teilen, wir müßten dann unsere Reise abbrechen. Im Namen der gnädigen Natur also, setzt euch doch nieder auf der gegenüberliegenden Seite."

Die Menschen rührten sich nicht und ihr Schweigen ließ eine neue Spannung aufkommen. Ich hatte bereits die Hand am Griff meines Dolches, als uns einer der Schweigenden seinen Rücken zukehrte und in die Dunkelheit hineinsprach. Dann traten die Leute etwas auseinander und wie durch ein Tor trat eine junge Frau, fast selbst noch ein Kind, mit einem Säugling auf dem Arm in das Licht. Obinna atmete tief durch, und ich entspannte mich.

Es gab keine Frage mehr, wir winkten die junge Mutter zusammen mit ihren Freunden oder Verwandten zu uns heran und luden sie nunmehr ein, um das Feuer herum Platz zu nehmen. Die Frau zögerte nicht und setzte sich zu uns. Einer der Freunde hob seine Stimme und sprach: "Habt Dank, edle Herren, aber es genügt, wenn Sie das Kind und seine Mutter für die Nacht in Ihre Obhut nehmen. Sie wurde aus ihrem Dorf verstoßen und ist völlig schutzlos der Wildnis und der Kälte ausgeliefert. Wir dagegen leben schon immer mit unseren Ziegen und Hunden in dieser Gegend und wissen gut damit umzugehen. Eine Mutter mit ihrem gerade geborenen Kind allerdings können wir nicht eine Nacht wärmen und schützen. Unser Wunsch war es nur, euch darum zu bitten."

Sie drückte ihr Baby fest an sich, nachdem sie sich auf ihrem Platz zwischen uns ein wenig eingefunden hatte. Aber auch hier fror das kleine Kind und wimmerte leise. Ob sie denn kein Bettchen oder eine Wiege hätte, in der das Baby warm verpackt seine Ruhe und seinen Schlaf finden könne, wollte Bashir wissen.

Die junge Frau verneinte stumm, und als hätten die abziehenden hauslosen Gesellen mit ihren Tieren dieses leise Zwiegespräch noch vernommen, kehrte einer von ihnen noch einmal zurück und meinte, es müsse in dieser Stallruine noch einen kleinen Futterkasten geben, mit dessen Hilfe draußen wie drinnen, als die Herberge noch in Betrieb war, die Reit- und Zugtiere gefüttert wurden. Er nahm eine Fackel und verschwand.

Wenig später kehrte er mit einer kleinen Holzkiste zurück, die sicher auch einmal für Fütterungszwecke geeignet gewesen sein mochte. Er schlug die leere Kiste heftig mit dem Innenrand auf den Boden, als wolle er sie entstauben. Er hätte noch, meinte er, etwas Heu und Reisig bei seinen Ziegen, damit könne die Kiste in ein Bettchen umgewandelt werden, und das eine oder andere warme Tuch ließe sich wohl finden. Wie sollten wir, sonst nur mit aller gebotenen Vorsicht an Handel- und Vorteilsstreben gewöhnt, da anders reagieren, als den freundlichen Ziegenhirten und seine Freunde schließlich auch an unser Feuer zu bitten, um sie mit unserer guten Sitte von Gastfreundschaft zu überraschen.

Da lag es nun, das Kind, in seinem neuen Bett und war längst eingeschlafen, als wäre es durch das zufriedene Kauen und Flüstern der Menschen und Tiere, mit denen wir jetzt unsere Vorräte teilten, endlich zur Ruhe gekommen.

Ich muß gestehen, eine so warme und anheimelnde Gesellschaft habe ich danach auch nie wieder erlebt. Der kalte Sternenhimmel über uns hatte seine ferne Bedrohlichkeit vollständig eingebüßt, und die Mühe jedes einzelnen Menschen an dem Feuer zwischen den Wänden eines zerfallenen Stalles, das Wohlbefinden und die Gemütlichkeit durch kleine Zugaben, Aufmerksamkeiten und Handreichungen zu steigern und zu verbessern, war beispiellos. Niemand wollte und konnte in dieser Nacht schlafen aus Furcht, auch nur die kleinste Begebenheit unseres Zusammenseins zu versäumen. Später kamen noch einige Leute aus dem nahen Dorf dazu, und sie beschenkten uns und das Kind überreich mit Speisen, Kleidern und ihrer Gesellschaft.

Von diesem Ort und dieser Nacht, das wußten wir, würde noch lange gesprochen werden.

(Erstveröffentlichung am 24. Dezember 2002 Copyright by MA-Verlag)

Ihre Schattenblick-Redaktion

8. Dezember 2014