Schattenblick →INFOPOOL →RELIGION → BUDDHISMUS

PRESSE/628: Religiöse Raum- und Zeitvorstellungen (Der Mittlere Weg)


Der Mittlere Weg - Nr. 3, September - Dezember 2007
Nachrichten des Buddhistischen Bundes Hannover e.V.

Religiöse Raum- und Zeitvorstellungen

Von Axel Rodeck


Realität und Raum - nur ein exotischer Traum?

Ausgangspunkt für unsere Überlegungen ist ein kleines Missgeschick: In die Buchrezension "Realität nach der Lehre des Buddha" in Heft 2/2007 Seite 36 letzter Absatz hatte sich ein sinnentstellender Druckfehler eingeschlichen. Es muß heißen: "... gäbe es keine (nicht eine) Außenwelt, könnten unsere Sinne sie gar nicht wahrnehmen." Weil dies richtig zu stellen war und weil das Thema "Realität" bei unseren Lesern auf großes Interesse gestoßen ist, wollen wir die Thematik noch einmal aufgreifen und in dem folgenden Beitrag [...] soll auf die Bedeutung religiöser Raum- und Zeitvorstellungen eingegangen werden.


*


Religiöse Raum- und Zeitvorstellungen

Noch einmal: ti-loka

Das Interesse unserer Leser erstreckte sich auch auf die Frage, ob es - wie von einigen deutschen Buddhisten behauptet - drei Daseinswelten gibt, welche die Realität ausmachen. Das hätte durchaus wichtige praktische Konsequenzen, insbesondere hinsichtlich der Annahme einer Existenz von. (dann irgendwie von uns zu beachtenden) Geistwesen. Eine Hamburger Leserin, erfahrene Alt-Buddhistin der Theravada-Richtung, stellt fest: "Wenden wir uns den Mystikern zu, so sieht die Welt schon anders aus: sie erleben andere Wirklichkeiten." Sehr wahr, wie folgend noch ausgeführt werden soll.

Natürlich haben wir auch die üblichen skeptischen Bemerkungen bekommen, was das Nachdenken über solche Probleme denn dem Heilssucher auf seinem Wege für Vorteile bringe. Wahrscheinlich gar keine, so ist zu antworten, wenn er ausschließlich Heilssucher ist. Wer jedoch entsprechend der Kultur, aus der er stammt, die Frage nach dem "Woher" und "Wohin" nicht unterschlagen will, wird sich gern einmal überlegen, wo in der von ihm bevorzugten (indischen) Religion Gedankengänge herrschen, die sich mit westlich-abendländischer Denkweise nicht vereinbaren lassen. Mancher Irrtum lässt sich klären und manche Meinungsverschiedenheit lässt sich vermeiden, wenn dann die den einzelnen Ansichten zu Grunde liegenden Axiome aufgezeigt und die kulturellen Besonderheiten beleuchtet werden, die zu den widersprüchlichen Erkenntnissen führten. Fragen wir also einmal nach den von einigen Buddhisten akzeptierten, von anderen bezweifelten drei Geist(er)welten (ti-loka).


Religiöse Raumvorstellung

Es entspricht westlich-abendländischer Überzeugung, dass alles, was existiert, irgendwo in einem Raum vorhanden sein muß. Wie dieser Raum beschaffen ist, sagt uns die Wissenschaft mit ihrem auf Erfahrung beruhenden empirischen Wissen. Dieses wiederum ist mit dem Instrumentarium physikalischer und technischer Praxis gewonnen worden. Die Wahrheit des empirischen Wissens beruht nicht auf der Wahrnehmung eines einzelnen, sondern darauf, dass sie jeder unter den gleichen Bedingungen nachprüfen kann. In diesem wissenschaftlichen Umfeld wird jedes andere, subjektiv begrenzte Erfahrungswissen als obsolet betrachtet.

Im religiösen Denken Indiens begegnen wir dagegen einer dem abendländischen Reduktionismus fremden Betrachtungsweise: Zwar benötigt auch hiernach alles, was sich manifestiert, Ausdehnung und damit einen Raum, nicht aber notwendig einen physischen Raum. Alle materiellen und nicht-materiellen Manifestationen (Götter, Menschen, Sachen, Gefühle, Sprache usw.) brauchen vielmehr als "Raum" (nur) eine Sphäre der Existenz (loka), eine Art Kraftfeld, welches eine Eigenschaft ihrer Manifestation ist. Dies steht konträr zu dem wissenschaftlichen, physikalischen Raumbegriff mit seiner Dreidimensionalität und Punktgenauigkeit.

Das (hindu-)religiöse Raumbewusstsein führt in eine für uns erstaunliche Realität. So kennen die Inder (statt einer) sieben sich durchdringende Welten, bei denen jeder Lebensraum eine nicht auf sichtbare Raumdeterminanten begrenzte Kraft ist. "Himmel" und "Erde" sind nicht zwei verschiedene Räume, sondern Raumgefühle - und im Tod wechselt man nur seinen "loka". Auch Himmelsrichtungen sind nicht nur geozentrische Koordinaten, sondern Mächte (Potenzen), die für bestimmte religiöse Qualitäten stehen. Die Besonderheit des religiösen Raumgefühls liegt also darin, dass es nicht funktionalisiert und reduziert werden kann, weil es immer zugleich eine andere Welt mit einschließt. Räume sind sakrale Potenzen, die eher gefühlt als wahrgenommen werden können.

Während westliche Raumkonzepte durch die Entfernung der Dinge voneinander bestimmt sind, ist beim religiösen Raumgefühl der Raum zugleich das Ganze, wie am Beispiel der Ahnen gezeigt werden soll: Man lebt mit den Ahnen zusammen, aber ihre Welt ist nicht die der Hinterbliebenen. Sie sind weder im Bewusstsein der Hinterbliebenen noch außerhalb davon, etwa im Himmel. Ihr Sitz ist nicht lokalisierbar, aber ihre Existenz unbezweifelt. Religiöse Raumkonzeption beruht also auf der Annahme nicht-empirischer Räume. Wie diese Welten entstanden sein könnten, ist dann Gegenstand der verschiedenen altindischen Kosmogonien (Weltentstehungslehren), was hier jedoch nicht weiter erörtert werden soll.


Religiöses Zeitbewusstsein

Wie das vorstehend behandelte Raumbewusstsein weicht auch das Zeitbewusstsein der indischen Kultur erheblich vom westlich-abendländischen ab. Aus den indischen Kosmogonien entstand ein zyklisches Weltbild, wonach der Weltenlauf aus dem Wechsel von Entfaltung und Auflösung besteht. Die auch für Buddhisten fundamentale Erkenntnis: Im Weltenkreislauf (samsara) ist alles vergänglich, dauerhaft ist nur der Wechsel - und heilbringend ist allein der Zustand jenseits des Wechsels. In diesem regenerativen Weltkonzept ist für allmächtige Götter wenig Platz.

Allerdings erfährt der Mensch neben der in Natur und Umwelt wahrgenommenen zyklischen Zeit, wie sie insbesondere im Wechsel der Tages- und Jahreszeiten zum Ausdruck kommt, auch die lineare Zeit seines Alterns. Im Alltag vermischen sich zyklisches und lineares Zeitbewusstsein. Für unser Thema genügt die Feststellung, dass in Ost und West wissenschaftliches und religiöses Zeitverständnis verschieden sind: Der religiöse Zeitbegriff lässt keine Zeitpunkte in einem Zeitkontinuum zu, sondern kennt nur die Dauer ohne Zeitfluß. Er kennt nicht die historische Zeit.


Fazit

Nach vorstehenden Ausführungen erahnen wir schon, was es mit den eingangs erwähnten Vorstellungen deutscher Buddhisten von unsichtbaren Daseinswelten auf sich haben könnte: Hier werden nicht die westlichen, sondern die indischen (religiösen) Raum- und Zeitvorstellungen zu Grunde gelegt. Ob der Spagat zwischen den Kulturen den westlichen Heilssuchern tatsächlich gelingt, vermag ein Dritter natürlich nicht zu beurteilen. Unterstellen wir daher gemäß der klugen Erklärung unserer Hamburger Leserin, dass diese Menschen in der Lage sind, mystisch andere Wirklichkeiten zu erleben.

Allerdings dürfte der Kreis derer, die auf diese Weise die Relativität unserer Wirklichkeiten erfahren, recht überschaubar bleiben, und auch rationale Aufsätze vorliegender Art tragen nur bedingt zur Wahrheitsfindung größerer Kreise bei.

Denn ihrer kulturellen Vorprägung können nur wenige Heilssucher entfliehen; wohl nur ein Tibeter kann tibetisch fühlen und unverfälscht die zu seiner Religion gehörenden Zeit- und Raumgefühle entwickeln.

In der Zeitschrift "Die Zeit" vom 15.03.2007 macht der Indologe von Brück die klare Aussage: "Wir bleiben, auch in der Meditation, immer Europäer, ob uns das passt oder nicht." Vielleicht hat deshalb der Dalai Lama in Aufsehen erregender Weise die von asiatischer Exotik angezogenen Westler davor gewarnt, unter Aufgabe ihrer Traditionen indischen Religionen folgen zu wollen. Oder bietet sich als Konsequenz die Schaffung eines westlichen, abendländisch-empirisches Denken berücksichtigende Buddhismus an? Dann ließe sich "ti-loka" in die religionsgeschichtliche Schublade packen.

Literatur: Axel Michaels:
Der Hinduismus. Geschichte und Gegenwart.
Beck-Verlag 1998


Eine konsistente Erklärung der Quantenphänomene kam zu der überraschenden Schlußfolgerung, dass es eine objektivierbare Welt, also eine gegenständliche Realität, wie wir sie bei unserer objektiven Betrachtung als selbstverständlich voraussetzen, gar nicht "wirklich" gibt, sondern dass diese nur eine Konstruktion unseres Denkens ist, eine zweckmäßige Ansicht der Wirklichkeit, die uns hilft, die Tatsachen unserer unmittelbaren äußeren Erfahrung grob zu ordnen.
(Hans-Peter Dürr, langjähriger Direktor des Max-Planck-Instituts für Physik)


*


Quelle:
Der Mittlere Weg - majjhima-patipada
39. Jahrgang, September - Dezember 2007/2551, Nr. 3, Seite 7-9
Herausgeber: Buddhistischer Bund Hannover e.V.
Drostestr. 8, 30161 Hannover,
Tel. und Fax: 05 11/3 94 17 56
E-mail: info@buddha-hannover.de
Internet: www.buddha-hannover.de

"Der Mittlere Weg - majjhima-patipada" erscheint
nach Bedarf und ist für Mitglieder kostenlos.


veröffentlicht im Schattenblick zum 29. August 2007