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PRESSE/665: Buddhismus im Osten und Westen (Buddhismus heute)


Buddhismus heute 44 - Winter 2007/08
Das Diamantweg-Magazin der Karma-Kagyü-Linie

Buddhismus im Osten und Westen
Interview mit S.H. dem 17. Gyalwa Karmapa Trinle Thaye Dorje

Geführt von Caty Hartung und Tomek Lehnert


FRAGE: Du bist der erste in der Linie der Karmapas, der sehr viele Schüler aus vielen verschiedenen Kulturkreisen hat. Wie fühlst du dich mit dieser aufregenden Herausforderung?

TRINLE THAYE DORJE: Es ist ein großartiger Moment! Sowohl die Aktivität unserer Karma Kagyü Linie, als auch die Aktivität des Buddhismus im Allgemeinen sind außerhalb Asiens gewachsen und haben sich weltweit verbreitet. Wir begegnen dabei vielen verschiedenen Kulturen, Mentalitäten und Gesellschaften; es ist eine sehr aufregende Zeit und natürlich gehen damit Herausforderungen einher. Ich habe den Eindruck, dass es eine der größten Herausforderungen ist, wenn wir in einem nicht-buddhistischen Land kurz und exakt erklären müssen, was eigentlich Buddhismus ist. Die Menschen dort haben ihre eigene Religion und verbinden das Gehörte sofort mit ihren religiösen Konzepten. Das ist natürlich ein Prozess.

Die größte Herausforderung ist allerdings, die Lehren im Alltag zu verwenden und die richtigen Resultate zu bekommen. Das Ego zu überwinden ist die schwierigste Aufgabe überhaupt.

FRAGE: Es wird viel über die Unterschiede von Ost und West geredet. Du selbst bist im Osten aufgewachsen, aber nun bereits seit vielen Jahren in Kontakt mit Menschen aus dem Westen und hast den Westen mehrfach besucht. Welche Unterschiede sind dir aufgefallen?

TRINLE THAYE DORJE: Zwischen allen Ländern gibt es Unterschiede, selbst wenn man sich nur die verschiedenen Nationen innerhalb Asiens anschaut.

Man findet sehr große Unterschiede, wenn man den Osten mit dem Westen vergleicht. Die Art und Weise wie Menschen aufgezogen werden, spielt eine große Rolle in ihrer Entwicklung, und in Asien sind die Familienbande zwischen Eltern und Kindern sehr stark. Diese engen Verbindungen in den Familien habe ich in Europa nicht gesehen. Die Unterschiede haben damit zu tun, wie wir aufwachsen, aber auch mit Klima, Einstellungen, Umgebung usw. Aber auf jeden Fall haben wir aus buddhistischer Sicht alle die Buddha-Natur. Unsere physische Form und wie sich unser Geist ausdrückt, sind etwas verschieden, aber unser wahres Wesen und unser Potenzial sind gleich.

FRAGE: Was können wir voneinander lernen? Können wir aus dem Westen etwas vom buddhistischen Lebensstil im Osten lernen, und gibt es auf der anderen Seite etwas, das wir dem Osten geben können?

TRINLE THAYE DORJE: Über viele Jahrhunderte lebten die Menschen eingeschlossen in ihren eigenen kleinen homogenen Gemeinschaften mit wenig Einfluss aus anderen Kulturen. Das hat sich mit der heutigen schnellen Globalisierung geändert. Der einzige Weg die vielen politischen, ausbildungsbezogenen und sozialen Unterschiede zu überbrücken und sich gegenseitig zu verstehen, ist ein Austausch zwischen den Menschen der verschiedenen Länder und der Prozess des voneinander Lernens. Auf der anderen Seite stehen wir auch vor der Herausforderung, das eigene kulturelle Erbe intakt zu erhalten. Aber es ist nicht unmöglich.

Das Hauptproblem unabhängig von Zeit und Kultur, dem wir heute allerdings gegenüberstehen, sind unsere Emotionen. Das Ego ist das größte Hindernis, ganz gleich ob wir im Osten oder im Westen leben.

FRAGE: Offensichtlich verzeichnet der Buddhismus im Westen Wachstum. Wie verhält sich das im Osten, siehst du dort auch Wachstum?

TRINLE THAYE DORJE: Im letzten Jahrhundert ist der Buddhismus in der ganzen Welt gewachsen. Im Osten lebt der Buddhismus weiter, aber er ist nicht mehr so stark wie in früheren Jahrhunderten, als er noch anwuchs. Heutzutage sieht man dort sowohl Zunahmen als auch Rückschläge.

FRAGE: Einige Prophezeiungen über die Entwicklung des Buddhismus besagen, dass sie in Zyklen verlaufen wird und dass wir gerade jetzt in einer Zeit des Rückgangs sind. Manche Leute sagen, dass sich dies nur auf den Osten bezieht. Wie kann man diese Prophezeiungen angesichts des großen Wachstums im Westen verstehen?

TRINLE THAYE DORJE: Was das Pflanzen von Samen angeht, wächst der Buddhismus immens, besonders im Westen. Zurzeit haben wir aber erst kleine Resultate. Das ist ein großer Unterschied im Vergleich zu Buddhas Zeiten. Es ist etwas dran, die Prophezeiung ist nicht so falsch. Buddhas Zeit war eine goldene Ära, in der die Praktizierenden unmittelbar hohe Verwirklichung erlangten.

Damals war materieller Wohlstand nicht so vorherrschend wie heute. Technologie und Erfindungen sind so faszinierend geworden, dass wir darüber unsere inneren Qualitäten vergessen und versuchen, durch die vergänglichen äußeren Angebote der Welt Glück zu erlangen. Wir verlieren die Geistesgegenwart und so richtet sich unser ganzes Streben auf die äußeren Objekte. Wenn sie erlangt werden, dann entstehen Anhaftung und die Gier nach mehr Besitz. So werden dann die buddhistischen Werte automatisch weniger wichtig für uns.

Wir sollten in unserem eigenen täglichen Leben versuchen, Bewusstheit und Geistesgegenwart zu entwickeln, so dass wir dann die inneren Qualitäten mit der äußeren Welt verbinden können. Wir sollten fähig sein zu funktionieren und zugleich unseren Fokus auf dauerhafte Werte auszurichten.

FRAGE: Mit Instituten wie dem ITAS in Spanien und dem KIBI in Neu Delhi bauen wir Brücken zwischen Ost und West. Was sind deine Pläne hinsichtlich dieser Einrichtungen - wirst du dort regelmäßig lehren? Würdest du mehr solcher Projekte befürworten?

TRINLE THAYE DORJE: Natürlich sollten Projekte wie diese unterstützt werden. Diese neuen Brücken, wie ihr es nennt, werden etwas sehr Gutes hervorbringen. Einige von ihnen müssen wir sehr sorgfältig im Auge haben. Ich denke, dass es ein guter Anfang ist. 2008 werde ich wieder im KIBI lehren. Es wird ein Seminar mit Professor Sempa Dorje stattfinden, und ich werde die "37 Handlungen eines Bodhisattvas" erklären.

FRAGE: Hannah Nydahl war sehr wichtig für den Aufbau des westlichen Diamantweges und das wichtigste Bindeglied zwischen Ost und West. Wie können wir ihre Aktivität fortführen?

TRINLE THAYE DORJE: Niemand wird fähig sein sie zu ersetzen, und ihr Tod ist ein schwerer Verlust. Um Verbindungen untereinander zu knüpfen, brauchen wir in hohem Maße die Aktivität eines Lehrers in einer bestimmten physischen Form. Die ist jetzt natürlich nicht mehr da. Ihre Inspiration jedoch wird immer gegenwärtig sein. Während ihrer Zeit mit uns wurden Verbindungen geschaffen und nun geht es nur noch darum, diese fortzuführen. Der Weg wurde vorbereitet.

FRAGE: Denkst du, dass die Menschen heutzutage verwirrter sind als früher?

TRINLE THAYE DORJE: Wie ich schon sagte: Wir stehen wegen der materialistischen Entwicklung unter dem Einfluss so vieler äußerer Sinneseindrücke, es gibt mehr Ablenkung und dadurch mehr Verwirrung auf der innerer Ebene. Aber das ist etwas, womit wir alle umgehen können.

FRAGE: In den letzten zehn Jahren hatten wir außer Lopön Tsechu Rinpoche nicht mehr so viele tibetische Rinpoches zu Besuch in unseren Zentren. Nun kam Sherab Gyaltsen Rinpoche zum zweiten Mal nach Europa und die Menschen haben seine Belehrungen sehr genossen. Denkst du, dass wieder mehr Rinpoches in den Westen kommen werden?

TRINLE THAYE DORJE: Es ist eine Frage von der Notwendigkeit. Ab und zu ist es einfach wichtig, einen Älteren zu haben, der wirklich sehr authentisch ist. Das gibt den Schülern ein gutes und vertrautes Gefühl. Mit Lopön Tsechu Rinpoche fühlten sich alle wohl: Da war jemand, dem man absolut vertrauen konnte, an dessen Schulter man sich anlehnen konnte. Darum ist es großartig, dass Lama Sherab Gyaltsen Europa besucht.

FRAGE: Es sind aber nicht mehr so viele der alten Rinpoches übrig. Gibt es noch einige uns unbekannte, von denen wir nichts wissen?

TRINLE THAYE DORJE: Wer weiß ... Während Lopön Tsechu Rinpoche im Westen aktiv war, hatte Lama Sherab Gyaltsen seine eigene Aktivität in Nepal, und es gab für ihn nicht so viel Bedarf im Westen. Nun, da jemand wie er hier gebraucht wird, hat sich seine Aktivität ausgedehnt. Er ist ein großartiges Beispiel.

FRAGE: Gibt es noch große Meister, die ihre Ausbildung im alten Tibet bekamen?

TRINLE THAYE DORJE: Es gibt noch eine ganze Menge großer Meister in Tibet. Von einigen wissen wir und mit anderen hatten wir noch keinen Kontakt. Wann immer eine Aktivität nötig wird, wird sie sich natürlicherweise manifestieren.

FRAGE: Eine Frage zu wiedergeborenen Lehrern, den Tulkus: Denkst du, dass es für den Westen eine "gesündere" Vorgehensweise ist, wenn die Tulkus sich selbst zu erkennen geben, statt dass man sie wie früher in Tibet durch ein System wiedereinsetzt?

TRINLE THAYE DORJE: Das ist eine Frage der Kultur. In Tibet wurden die bewusst Wiedergeborenen meistens anerkannt, aber dann mussten sie sich auch selbst beweisen. Wir stehen hier im Westen noch sehr am Anfang, und da durch ist die Anerkennung von bewusst Wiedergeborenen möglicherweise ein wenig schwieriger zu akzeptieren. Es könnte hier durchaus auch über die natürliche Entwicklung der Schüler funktionieren.

FRAGE: In früheren Interviews sagtest du ab und zu, dass du sehr froh über die Entwicklung des Diamantweges im Westen bist. Hättest du zurzeit einen besonderen Ratschlag für die Kagyüs im Westen?

TRINLE THAYE DORJE: Ich bin sehr froh, was die Meditation betrifft. Mit der "Meditation auf den 16. Karmapa" den Guru-Yogas und den Grundübungen nimmt die Essenz der Meditation zu. Ich sehe enthusiastische Praktizierende und die Resultate werden für sich sprechen. Auch das Wachstum der Zentren ist beeindruckend.

Gleichzeitig sollte aber auch dem Wissen mehr Bedeutung gegeben werden. Aus diesem Grunde haben wir die Kurse im KIBI wieder aufgenommen. Ich halte das für sehr wichtig. Auch die Studienkurse in Karma Gön geben eine sehr gute Grundlage. Es ist die Kombination von Meditation und Wissen, die zu Weisheit und Einsicht führen wird.

FRAGE: Einer unserer großen Wünsche ist, dass wir in Zukunft Texte in den Ermächtigungen, die siebenteilige Anrufung oder das Bodhisattva-Versprechen in deutscher Sprache verwenden können. Oder zumindest das Deutsche zum Tibetischen dabei haben, damit wir verstehen, was vor sich geht. Die Verwendung des Deutschen würde auch persönliche Motivation stärken.

TRINLE THAYE DORJE: Natürlich, wir werden langsam in diese Richtung gehen. Wir tun unser Möglichstes, um beidem gerecht zu werden.

FRAGE: Wir haben damit begonnen die Rezitation bei den Verbeugungen oder andere Meditationen in unseren westlichen Sprachen zu machen, damit wir auch verstehen können, was wir wiederholen.

TRINLE THAYE DORJE: Ich denke, wir sollten beides kombinieren. Einige Wiederholungen in eurer eigenen Sprache und einige in Tibetisch. Ihr müsst das nicht exakt in gleicher Anzahl aufteilen, aber die Übertragung vom Tibetischen solltet ihr behalten.

FRAGE: Welche Arten von Ermächtigungen werden jetzt hier in Karma Gön gegeben?

TRINLE THAYE DORJE: Die meisten Ermächtigungen sind auf Yidams, die Weisheitsaspekte. Es gibt natürlich auch ein paar Guru-Yoga-Ermächtigungen, zum Beispiel auf Karma Pakshi. Diese Ermächtigungen werden entsprechend den vier verschiedenen Tantra-Klassen Kriya, Charya, Yoga und Anuttarayoga gegeben.

FRAGE: Was ist die Bedeutung der Regenbögen um die Sonne, die manchmal in Zusammenhang mit Ermächtigungen erscheinen?

TRINLE THAYE DORJE: Ich denke, dass man sie fast jeden Tag sehen kann, wenn man im richtigen Winkel steht. Im Zusammenhang mit den Ermächtigungen hat man eine Kombination von Dharma, den Lehren, die man erhält, und der Weise, wie sie vermittelt werden. Wenn sie mit völlig reiner Absicht gegeben werden und wir sie genau so empfangen, dann bringt dies alle möglichen Arten von Resultaten und glückverheißenden Effekten hervor. Der Regenbogen ist nur eines von vielen Zeichen. Das glückverheißendste Zeichen ist es, wenn ein Blumenregen auf uns fällt. Es kann auch sein, dass man Musikinstrumente im Raum hört und es kann sehr milde Erdbeben geben.

FRAGE: Was sind die Unterschiede zwischen den verschiedenen Ermächtigungen? Haben sie mit den verschiedenen Tantra-Klassen zu tun?

TRINLE THAYE DORJE: Es gibt entsprechend den vier Tantra-Klassen verschiedene Ermächtigungen. Sie werden so gegeben, weil die Menschen verschieden sind und unterschiedliche Fähigkeiten haben. Es hat auch mit ihren Wünschen zu tun, verschiedene Aktivitäten auszuführen.

FRAGE: Können wir eine Ermächtigung als Verpflichtung zur Praxis nehmen? Würde es einen Unterschied machen in der Art, wie die Ermächtigung gegeben wird?

TRINLE THAYE DORJE: Es besteht kaum ein Unterschied darin, ob sie als Segen oder als Ermächtigung für die Praxis gegeben wird. Wenn man aber eine Segens-Ermächtigung nimmt und dann nach einiger Zeit entscheidet, dass man die Praxis machen möchte, sollte man die Ermächtigung zusammen mit der Verpflichtung nehmen. Danach bekommt man dann die notwendigen Erklärungen.

FRAGE: Manchmal bekommen wir eine Ermächtigung mehrfach auf den gleichen Aspekt. Ist das nützlich?

TRINLE THAYE DORJE: Es hat mehr Nutzen, wenn man eine Ermächtigung auf den gleichen Aspekt wieder und wieder bekommt, als viele Ermächtigungen auf verschiedene Aspekte zu bekommen. Wir sind zwar alle fasziniert davon, neue Ermächtigungen zu bekommen, aber es nutzt uns nicht notwendigerweise. Worum es geht, wenn wir Ermächtigungen bekommen, ist, unsere Sicht zu reinigen. Wenn wir die gleiche Ermächtigung immer wieder bekommen, hilft das unserer Praxis und es ist danach leichter zu meditieren.

FRAGE: Was ist der Unterschied zwischen Guru-Yoga und einer Yidam-Praxis?

TRINLE THAYE DORJE: Es ist eigentlich das Gleiche. Wenn man einen Yidam praktiziert, dann stellt man sich meistens in einer Weisheitsform vor und Guru-Yoga macht man in einer menschlichen Form. Der einzige Unterschied ist, dass man durch den Lama Segen (tib.: dschinlab) bekommt und durch den Yidam eine Verwirklichung (tib.: ngödrub). Eine solche Verwirklichung kann alles Mögliche sein; etwas Allgemeines oder Spezielles. In manchen Fällen kann es einfach darum gehen, Kraft zu entwickeln, um fähig zu sein, Unwissenheit aufzulösen oder Hindernisse zu entfernen.

FRAGE: Wie arbeitet eine Yidam-Praxis in unserem Geist?

TRINLE THAYE DORJE: Yidam ist die Freudenzustands-Form (skt.: Sambhogakaya) der Buddhas. Es ist eigentlich eine Form, die nur realisierten Bodhisattvas erscheint. Für jemanden, der seine Störgefühle noch nicht gereinigt hat, sind die Yidams etwas weiter entfernt. Hier bezieht man sich dann auf sie mittels der Lamas, also der Lehrer oder der Formen des Ausstrahlungszustandes (skt.: Nirmanakaya).

Im Kleinen Fahrzeug, dem Theravada, gibt es keine Yidams. Wir finden sie erst im Großen Fahrzeug, dem Mahayana, und vor allem im Diamantweg, dem Vajrayana. Nur Praktizierende, die sich dem Bodhisattva-Weg verpflichtet haben, benutzen Yidam Formen und handeln so, wie realisierte Bodhisattvas es tun würden. Yidams sind nur Bezugspunkte das einzige Ziel ist, die eigenen wahren Qualitäten, die Natur unseres Geistes, voll zu entwickeln. Wir versuchen zu bestätigen, dass das JETZT geschieht und nicht erst in der Zukunft. Wir machen uns damit vertraut und identifizieren uns mit dem Ergebnis, bis wir es erlangt haben.

FRAGE: Wie arbeiten die Yidams mit unserem Geist? Ist es ein logischer Prozess, den man erklären kann? Wirken sie auf unterbewussten Ebenen? Bei den verschiedenen Formen der Buddhas und Bodhisattvas kann man Dinge erklären, zum Beispiel warum Rote Weisheit (tib.: Dorje Phagmo) rot ist und warum sie bestimmte Attribute hält. Aber die Diamantweg-Lehren gehen oft auch jenseits der Logik.

TRINLE THAYE DORJE: In einer gewissen Weise ist es sehr logisch. Aber es ist eine eigene Logik in sich, die man auf anderer Ebene verstehen muss. Die Bedeutung der Prajnaparamita wird in den Tantras zum Beispiel als "Ma tsam jen me" beschrieben. Das ist etwas, das Worte nicht wirklich beschreiben können, was aber vom Geist erfahren werden kann. Wörtlich bedeutet "ma tsam": durch Worte ausdrücken wollen. Und "jen me" bedeutet: kann aber nicht erklärt werden. Es klingt in gewisser Weise unlogisch, geht aber über Logik hinaus.

FRAGE: Es gibt zwei Erklärungsweisen zu bestimmten Buddha-Aspekten wie Liebevolle Augen. Sie haben ihre Lebensgeschichte und doch sind sie zeitlos ...

TRINLE THAYE DORJE: Es wird gesagt, dass alle Buddhas und Bodhisattvas zu einer Zeit einmal genau wie wir waren. Deswegen gibt es eine Geschichte dazu, wie sie zu Avalokiteshvara, Tara usw. wurden. Aber das geschah eigentlich viel früher, als wir uns vorstellen können. Deswegen beziehen wir uns auf sie als zeitlos erleuchtet. Manjushri oder Chenresig zum Beispiel sind bereits erleuchtet, aber sie erscheinen für uns in der Form von Bodhisattvas, sodass wir uns auf sie beziehen können. Sie zeigen sich zum Besten aller in den zwei Zuständen: Freudenzustand (skt.: Sambhogakaya) und Ausstrahlungszustand (skt.: Nirmanakaya).

Die Essenz aller Buddha Aspekte ist gleich. Obwohl sie einmal fühlende Wesen waren, wurden sie Buddhas als sie erleuchtet wurden.

Wenn fühlende Wesen die Ursachen zur Erleuchtung ansammeln, begründen sie damit eine erleuchtete Lebensgeschichte (tib.: kyerab), ähnlich einer Biografie. Sie beschreibt all die Ereignisse vom ersten Moment ihres Erwachens des Erleuchtungsgeistes bis zum Erreichen der vollen Erleuchtung. Der einzige Weg, um zu einem Weisheitsaspekt zu werden, ist, mit dem Bodhisattva-Versprechen zu beginnen. Alles, was zwischen diesen beiden Zeitpunkten liegt, ist dann Kyerab, und die meisten Weisheitsaspekte haben ihre Kyerab. Wir selbst haben zu einer bestimmten Zeit das Bodhisattva-Versprechen genommen und widmen uns jetzt mit viel Verständnis und vollem Herzen dem Bodhisattva-Weg. Und so ist alles, was mit uns seit diesem Zeitpunkt bis hin zur Erleuchtung geschieht, unsere Kyerab.

FRAGE: Ist es so, dass vor langer Zeit ein normales Wesen zu Liebevolle Augen wurde?

TRINLE THAYE DORJE: Ja, da bin ich sicher. Wir haben ja auch den historischen Buddha Shakyamuni, der von einem früheren Buddha inspiriert wurde. In dieser Weise geht es.

FRAGE: Er wurde also Buddha Shakyamuni, obwohl er zuvor schon ein Buddha war?

TRINLE THAYE DORJE: Ja, der Buddha Shakyamuni, den wir kennen, ist sozusagen eine Emanation eines früheren Buddha, des Potenzials für Buddha Shakyamuni.

FRAGE: Manchmal heißt es, dass Lehrer Ausstrahlungen bestimmter Buddhaformen sind. Was ist damit gemeint?

TRINLE THAYE DORJE: Das benötigt eine ausführlichere Erklärung. Wenn zum Beispiel Avalokiteshvara uns in menschlicher Form erscheint, ist dies manchmal eine tatsächliche Ausstrahlung. Deswegen kann es zahllose Ausstrahlungen geben. Wir können uns auch auf beinahe jeden als Ausstrahlung beziehen, in dem Sinne, dass wir alle das Potenzial haben, genau wie Avalokiteshvara zu sein. Obwohl wir Wesen in Samsara sind, sind wir zugleich auch alle potenzielle Ausstrahlungen. Es gibt fünf verschiedene Arten von Buddhas. Die Buddha-Natur scheint bei bestimmten Wesen etwas verschieden durch, so dass manche so sind wie Amitabha, andere wie Vairocana usw. Es gibt deswegen verschiedene Ausstrahlungen.

FRAGE: Bedeutet es, dass man zu einer Ausstrahlung wird, ähnlich dem Buddha, mit dem man verbunden ist?

TRINLE THAYE DORJE: Wie gesagt: Alle fühlenden Wesen haben das Potenzial dafür und potenziell können wir alle Ausstrahlungen sein, je nach unseren wünschen. Wir haben das Potenzial, aber bedingt durch Umstände können wir nicht wirklich jedes Wesen eine Ausstrahlung nennen.

FRAGE: Ist es so, dass ein Wesen liebevolle Güte entwickelt und beginnt die Qualitäten von Liebevolle Augen (skt.: Avalokiteshvara, tib.: Tschenresig) zu zeigen und deswegen eine Ausstrahlung genannt wird? Oder ist es eher so, dass Liebevolle Augen eine Ausstrahlung schickt?

TRINLE THAYE DORJE: Es gibt beide Formen: Die eine ist, dass einfach eine Ausstrahlung projiziert wird, und diese war dann niemals ein fühlendes Wesen. Das ist gewissermaßen ein von Liebevolle Augen geschicktes Hologramm. Die andere Form ist ein Wesen, das, wenn es sein Potenzial verwirklicht hat, zu Liebevolle Augen wird.

FRAGE: Während einer Ermächtigung ist es manchmal schwer, sich zu konzentrieren und sich aller Details bewusst zu sein. Ist das wichtig? Arbeitet die Ermächtigung auf bewusster oder auch auf unterbewusster Ebene?

TRINLE THAYE DORJE: Wir sollten uns nach besten Kräften bemühen, konzentriert zu sein. Wenn wir das nicht sind, sind wir es nicht. So ist das einfach. Wir strengen uns so gut wie möglich an, um uns vorzubereiten. Wenn man zum Beispiel krank ist, kann man das geheim halten, aber man kann die Tatsache, dass man krank ist, nicht leugnen. Es gibt jedoch Möglichkeiten vorzubeugen und es zu vermeiden, und es gibt Gegenmittel. Eine Ermächtigung arbeitet auf beiden Ebenen. Aber der Segen hat mehr Kraft, wenn wir einsgerichtet sind.

FRAGE: Wie können wir einsgerichteter werden?

TRINLE THAYE DORJE: Es hilft, einfach an die vier Grundgedanken zu denken. Das ist unsere größte Hilfe. Man muss sich selbst motivieren, um besser konzentriert zu sein. Es gibt auch Meditationen, die einem helfen, das zu erreichen.

FRAGE: Bekommen wir die Ermächtigung auch, wenn wir nicht wirklich konzentriert sind?

TRINLE THAYE DORJE: Ein Segen ist immer da, aber er hat weniger Kraft oder Energie.

FRAGE: Was bedeutet es, eine Ermächtigung zu "bekommen"? Es ist möglich, dass man dabei sitzt und versucht, bewusst zu sein, aber doch an etwas anderes denkt. Oder man ist konzentriert und nicht abgelenkt, aber bekommt sie doch nur formell, weil die Erkenntnis vielleicht nicht kommt. Wie bekommt man die Ermächtigung? Und wie bekommt man die Segens-Ermächtigung (tib.: jenang)?

TRINLE THAYE DORJE: Um eine Ermächtigung zu bekommen, muss man fokussiert sein. Bei einer Jenang bekommt man umso mehr Segen, je besser man sich konzentriert.

FRAGE: Könntest du Wang, Lung und Thri erklären?

TRINLE THAYE DORJE: Wang ist die volle Ermächtigung eines Weisheits-Aspektes. Lung ist das Lesen des Textes, die mündliche Übertragung. Thri sind die ganzen Erklärungen, die einen durch die Meditation leiten.

FRAGE: Wie können wir im täglichen Leben eine Segens-Ermächtigung verwenden?

TRINLE THAYE DORJE: Ein Segen ist ein Segen und hilft in vielen Weisen. Wie man ihn verwenden kann? Wir können auf den Weisheits-Aspekt der Ermächtigung meditieren, oder wir können den Segen in unsere Guru-Yoga-Praxis oder was wir sonst schon an Praxis machen einschließen.

FRAGE: Spielt es für dich eine Rolle, ob du eine Ermächtigung an 3000 oder nur 10 Menschen gibst?

TRINLE THAYE DORJE: Es gibt keinen wirklichen Unterschied, wenn man mit der richtigen Motivation kommt. Bei Tausenden von Leuten sind viele konzentriert, aber einige gähnen trotzdem. Die richtige Motivation zählt.

FRAGE: Gab es all die Ermächtigungen in die verschiedenen Buddha-Aspekte, die wir bekommen, auch schon zur Zeit des historischen Buddha?

TRINLE THAYE DORJE: All diese Übertragungen unserer Zeitperiode stammen von Buddha selbst und einige sogar aus noch früherer Zeit.

FRAGE: Können wir mit bestimmten Verhaltensweisen das Kraftfeld bei einer Ermächtigung stören? Sollten Kinder anwesend sein dürfen?

TRINLE THAYE DORJE: Zu Kindern kann ich nicht viel sagen. Ich erinnere mich, dass in Tibet Hunderte von weinenden und schreienden Kindern bei Ermächtigungen dabei waren. Es gibt aber durchaus einige völlig unpassende Verhaltensweisen wie Alkohol trinken, rauchen, Drogen nehmen oder sich über Dinge zu unterhalten, die nicht mit der Ermächtigung oder den Belehrungen zu tun haben. Damit stört man das Kraftfeld und bekommt die Ermächtigung nicht.

FRAGE: Warum sind wir so begierig darauf, Ermächtigungen zu bekommen?

TRINLE THAYE DORJE: Für die meisten Leute ist es der erste Kontakt mit dem Lehrer und dem Buddhismus. Aber eigentlich sollte der Wunsch, eine Ermächtigung zu empfangen, das Resultat des eigenen Dharma-Verständnisses sein.

FRAGE: Was macht eine Ermächtigung mit unserer Ego-Illusion?

TRINLE THAYE DORJE: Eine Ermächtigung wird natürlich das Ego in den Erleuchtungsgeist verwandeln. Am Anfang wird es etwas unterdrückt, später fühlt man sich dann wohler und kann es transformieren.

FRAGE: Wir zähmen das Ego also zuerst, und können dann Bodhicitta entwickeln?

TRINLE THAYE DORJE: Ja.

CATY HARTUNG und TOMEK LEHNERT: Vielen Dank!


Dieses Interview wurde von Caty Hartung und Tomek Lehnert in Karma Gön in Spanien am 26. Mai 2007 gehalten. Die Fragen stammen teilweise von den verschiedenen internationalen Redaktionen der Buddhismus Heute.

Aus dem Englischen von Detlev Gobel und Claudia Knoll


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Quelle:
Buddhismus heute 44, Winter 2007/08, Seite 6-13
Herausgeber:
Buddhistischer Dachverband Diamantweg der Karma Kagyü
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Redaktion: Detlev Göbel und Claudia Knoll
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. Februar 2008