Chökor - Tibethaus-Journal - Ausgabe Nr. 43, Juli 2007
Berggötter und Bodhisattvas - Geschichte der Religionen Tibets
Von Dagyab Kyabgön Rinpoche
Dies ist eine Abschrift des öffentlichen Vortrags, den Dagyab Rinpoche im Tibethaus gehalten hat. Rinpoche betonte wieder, wie wichtig es ist, dass man Geschichte - in dem Falle: die religiöse - immer aus verschiedenen Blickwinkeln heraus betrachtet. Geschichte sei ein lebendiger, vielschichtiger Prozess, oft von einzelnen Menschen, aber auch von allgemeinen Grundbedürfnissen beeinflusst.
Hinzu komme, dass die religiöse Geschichte Tibets durchzogen sei von Mythen und Legenden, die sich mit belegbaren historischen Berichten mischten. Es gebe nicht nur eine Wahrheit - und das gelte nicht nur für Tibets Vergangenheit.
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Wenn ich heutzutage über die Bevölkerung Tibets bzw. die Anzahl derer, die Buddhismus oder Bön als Religion praktizieren, spreche, dann behaupte ich einfach mal, dass etwa 75 % der Tibeter Buddhisten sind, aber nur 75 %, mehr sind es nicht. Der Rest sind 20 % Bön-Praktizierende und Praktizierende der Naturreligionen. Dann bleiben nur noch 5 % übrig, das sind Muslime und auch einige wenige Christen, wie ich gehört habe. So sieht es heute aus. Wenn ich von früheren Entwicklungen spreche, dann sieht es natürlich ganz anders aus, aber darüber können wir später reden. Tibet hat etwa über 30.000 Jahre Geschichte. Es wurde durch archäologische Untersuchungen festgestellt, dass die tibetische Bevölkerung seit mehr als 30.000 Jahren existiert.
Die Wichtigkeit der fünf Elemente
Heute möchte ich nur einen kurzen Überblick geben: Zunächst hat es in Tibet, wie das auch in anderen Ländern der Fall ist, eine Naturreligion gegeben. Das bedeutet, dass man u.a. zunächst sehr stark auf die Elemente fixiert war. Unter Elemente verstehe ich Wasser-, Erd-, Feuer- und Windelement und ab und zu den sogenannten Zwischenraum, auf Tibetisch: bar nang (tib: bar - snang)(1).
Das bedeutet, diese Elemente entsprechen den damaligen Vorstellungen von der Zusammensetzung der Materie. Dabei ist Erde fast alles. Ohne Erde kann man gar nicht leben, kann man nicht ernten, nicht richtig fest in der Welt stehen. Erde hat daher eine gewisse Kraft, sie gibt viel positive Unterstützung, aber sie kann auch viel Schaden zufügen, z.B. durch Erdbeben bzw. Schlammlawinen oder Treibsand, daher gibt es auch wiederum einen negativen Teil des Erdelements. Ebenfalls so beim Feuerelement, Wärme gibt mehr Kraft, aber es kann auch Katastrophen auslösen, deshalb haben alle Elemente letztendlich einen positiven und einen negativen Charakter. Somit haben es die Tibeter verstanden, die positiven nützlichen Seiten als das Göttliche, die Kraft der Götter zu sehen und die negativen Aspekte der Elemente als Hindernisse und Dämonen. Durch diese Sichtweisen entstanden damals allmählich die Bezeichnungen "Götter" und "Dämonen". Dadurch, weil sie einfach Anhaltspunkte brauchten, haben sie gerne daran festgehalten und es noch weiter vertieft. Durch diese Vertiefung haben sie noch weitere Anhaltspunkte kreiert, wie z. B. Quellen als Wohnsitz der Wassergottheiten galten, Berge als Wohnsitz der Erdgötter und Bäume/Wälder als Wohnsitz der Windgötter. Der Wohnsitz der Feuergötter war natürlich das Feuer. Diese Vorstellungen gelten immer noch in Tibet.
Ein Beispiel: Als ich klein war, mussten wir öfter in der Nähe eines roten Hügels vorbeireiten. Dieser Hügel sollte der Wohnsitz von Tsen-Dämonen(2) sein, eine Art von Erdgöttern. Wer auch immer da vorbeiritt, musste vom Pferd absteigen und zu Fuß gehen. Falls der Reisende dies nicht tat, passierte ihm etwas. So glaubten die Tibeter.
Ich war damals vielleicht elf oder zwölf Jahre alt. Ich saß auf einem Pferd, dessen Zügel von einem Mitarbeiter geführt wurden, der ebenfalls auf einem Pferd saß. Er ist damals nicht abgestiegen, aber plötzlich hat sein Pferd ohne ersichtlichen Grund gescheut und er ist samt Pferd in den Abgrund gestürzt. Ich habe Angst bekommen, dass er mich mitreißt, was glücklicherweise nicht passiert ist. Das Pferd ist bei diesem Absturz gestorben, ihm, dem Reiter, ist nichts passiert. Das war ein Beispiel dafür, warum die Tibeter für solche Sachen sehr sensibel sind. Früher holzten die Tibeter Bäume erst ab, nachdem sie - oft mit Hilfe eines Lamas - Gewissheit erlangt hatten, dass dort keine Nagas, Wassergötter, oder Windgötter aus Versehen vertrieben wurden.
Der Glaube der Bevölkerung an Götter in der Natur ist sehr stark verankert, und ich denke, es gibt keinen einzigen Berg ohne Götternamen. Menschen, die in Dörfern in der Nähe wohnen, haben eine sehr enge Beziehung zu diesem Berggott. Sie beten regelmäßig zu ihm, machen jährliche Zeremonien. Wenn sie diese nicht einhalten, fühlen sie sich unwohl, bekommen Krankheiten und erleben unterschiedlichste Hindernisse. Tibeter sind sehr sensibel im Umgang mit der Natur und den entsprechenden Naturgottheiten.
Nun möchte ich noch einen Schritt weitergehen, ich möchte noch mehr Hintergrundinformationen geben. Sie haben sicherlich alle schon tibetische Gebetsfahnen oder die kleinen bedruckten Papiere, die auf Pässen in die Luft geworfen werden, die "Lungtas", gesehen. Bei diesen sind an allen vier Ecken und in der Mitte fünf verschiedene Tiere dargestellt. Es gibt den Tiger, den Drachen, den Schneelöwen, den Garuda - ein mythologischer Vogel - und in der Mitte ein sogenanntes "kostbares Pferd". Diese fünf Tiere sind seit Alters her mit den Kräften der fünf Elemente verbunden.
Schneelöwe - Erde
Das Erdelement gilt als stabil, also zentral für das Land und ist deshalb außerordentlich wichtig. Als Essenz der Erde betrachtete man damals die Berge, als höchsten Berg den Kailash. Ich weiß nicht warum, aber über den Mount Everest spricht man so gut wie gar nicht, der Kailash dagegen gilt als zentraler Berg der Erde und ist für die Tibeter ein sehr wichtiges Symbol. Der Kailash wird auch Schneejuwel genannt, also gibt es dort Schneelöwen, wodurch der Schneelöwe die Erdkraft symbolisiert.
Drache - Wasser
Für das Wasserelement gibt es eine mythologische Erklärung. Der Drache ist ein Tier, das in der Regel im Wasser zu Hause ist. Damit sich Regen bildet, steigen die Drachen zum Himmel auf und lassen dann den Regen herabfallen. Das ist die Funktion des Drachens.
Garuda - Feuer
Das Feuerelement wird durch Garuda, den Fabelvogel, symbolisiert. Garuda wird auf tibetisch auch "Khyung" genannt. Der Garuda erzeugt durch seine Flügelbewegungen sehr viele Flammen und Funken, weil er die Feuerkraft besitzt.
Tiger - Wind
Wind entsteht - so sagen die Tibeter - durch eine große Anzahl von Bäumen, die eine wichtige Quelle für Wind sind. Für mich persönlich ist die Erklärung, dass Bäume Wind erzeugen, etwas unschlüssig, aber vielleicht kommt es daher, dass die Blätter an den Bäumen rascheln, wenn sie sich bewegen... Ich weiß es nicht, aber jedenfalls wird es so erklärt. Man sagt in Tibet: In einem "Haufen von Wind", also in einem Wald, lebt ein Tiger. Dadurch steht der Tiger für das Windelement. Eine andere Erklärung ist, dass der Tiger besonders schnell ist, nämlich "so schnell wie der Wind".
Pferd - Raum
Nun gibt es noch in der Mitte das Pferd, das kostbare Ross, welches den Raum, präziser - wie ich eben schon gesagt habe - den "Zwischenraum", symbolisiert. Ohne Raum gibt es keine Möglichkeit, dass andere Elemente existieren können. Die Erd-, Feuer-, Wasser- und Windelemente benötigen Platz, um sich zu bewegen, daher ist der Raum die Basis für alles. Ein Beispiel: Diese Flasche steht auf dem Tisch, aber wenn es keinen Raum gibt, gibt es keine Möglichkeit sie zu bewegen, also sind alle Bewegungsmöglichkeiten abhängig vom Raum.
Formen der Bön-Religion
Vielleicht kann ich eine Erklärung liefern, die schon während der Zeit der Bön-Religion existierte. Ich habe absichtlich Bön-Religion gesagt. Sie ist immer noch lebendig in Tibet, und es gibt eine charakteristische tibetische Bön-Kultur.
Warum ich vorhin Bön-Religion gesagt habe: Man muss bei Bön etwas unterscheiden, es gibt "solche Bön" und "solche Bön". Ich möchte heute keine wissenschaftlich fundierten Erläuterungen abgeben, ich erkläre es heute etwas populärer. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, diese "zwei Böns" auseinanderzuhalten. Ganz einfach wäre es mit "Schwarzer Bön" und "Weißer Bön". Die Schwarzer-Bön-Richtung kommt aus der Naturreligion und wurde unmittelbar daraus weiterentwickelt. Aber in dieser Tradition gab es Handlungen wie das Töten von Tieren, die als heilig deklariert wurden. Die Weißer-Bön-Richtung entstand durch das Wirken von Buddha Shenrab. Das sage ich jetzt ausdrücklich aus politischer Korrektheit, denn wenn wir Buddha sagen, meinen wir heute hauptsächlich Buddha Sakyamuni. Das ist die Sicht des Buddhisten. Aus Bön-Sicht ist Buddha Shenrab (bzw. Buddha Shenrab Miwoche) ein vollkommen Erleuchteter. Buddha Shenrab lebte laut den Recherchen von Namkhai Norbu Rinpoche(3) 1850 v. Chr. Buddha Sakyamuni lebte ca. 544 v. Chr., dazwischen liegen also viele Jahre. Wenn wir schon dabei sind: Buddha Sakyamunis Lehren wurden später vom Indischen ins Tibetische übersetzt. Letztendlich haben wir jetzt, je nach Edition, 100 bis 103 Bände. Von den Lehren Buddha Shenrabs gibt es zwei Versionen; die handschriftliche Form und die heutige gedruckte Form sind unterschiedlich. Ursprünglich waren es 158 Bände, und die jetzige Ausgabe hat 78 Bände.
Weißer Bön, entstanden durch Buddha Shenrab, ist der ritualbezogene Bön und sehr auf die Analyse der Zukunft, auf die Medizin sowie Unterstützung für Kranke und Bedürftige ausgelegt. Durch die Rituale der Bön-Praktizierenden können viele Menschen unterstützt werden, aber es können nicht alle Lebewesen zur Buddhaschaft geführt werden. Zur weiteren Vertiefung gibt es auch im Bön Sutra, Tantra und die geistige Praxis, grob formuliert.
Damit wurde insgesamt die sogenannte Neunstufige Lehre dargelegt.
Im tibetschen Buddhismus, gibt es Sutrayana, Bodhisattvayana und Tantrayana, also drei unterschiedliche Traditionen.
Die Herkunft der Bön-Tradition
Die Bön-Tradition ist verwurzelt in Zhang-Zhung, das ist eine Ortsbezeichnung. Zhang kommt vom Wort "Zhang bo" (tib.: zhang-po), was Onkel heißt. Bei uns wird jeder Mann, der etwas älter ist, als Onkel bezeichnet, ähnlich wie im Westen kleine Kinder jeden Mann als Onkel bezeichnen. Zhung ist gleichzusetzen mit Kyung, also dem Garuda, dem Fabeltier, welches das Feuerelement repräsentiert. Diese Idee ist immer weiter vertieft worden und Garuda ist nun das A und O für alle Symbole, für die gesamte Kraft. Daher wird die Garuda-Abbildung sehr gerne benutzt.
Eine Phantasie ... dieser Kopf (Rinpoche zeigt auf das Fries im Tibethaus) ist ein Fabeltier, es heißt Dzipara (tib.: dzi-pa-ra), das ist aber ursprünglich kein tibetisches Wort. Von der Schreibweise her kann man gar nichts damit anfangen. Manche Wissenschaftler behaupten, es sei eine Weiterentwicklung des Garuda-Kopfes, es fehle nur der Schnabel, basiere aber auf derselben Idee. Diese Abbildung ist nicht typisch tibetisch. Ich habe sie z.B. sehr häufig in Indonesien gesehen, nicht nur in der modernen Kunst, sondern auch in alten hinduistischen und buddhistischen Tempeln kamen diese Abbildungen massenhaft vor. In Indien habe ich sie ebenfalls in Felsenhöhlen gesehen. Sie können daher den gleichen Ursprung haben. Da es sprachlich keinen tibetischen Ursprung hat, könnte es auch indisch sein. Die Zhang-Zhung-Sprache hat ihren Ursprung in Persien, denn geografisch gesehen kommen die Bewohner Zhang-Zhungs teilweise aus dem Grenzgebiet zum heutigen Persien. Das Gebiet erstreckt sich bis nach Amdo hin. Zhang-Zhung war also mal ein großes Land. Um das zu verdeutlichen, haben die Wissenschaftler Zhang-Zhung "Go puk par sum"(4) genannt, unterer, oberer und mittlerer Teil von Zhang-Zhung. Der Mittelteil ist der wichtigste Teil, die Essenz des Landes. Hier liegt der Berg Kailash, an dem Buddha Shenrab lebte, somit ist auch im Bön der Berg Kailash außerordentlich wichtig. Hierzu gibt es viele Legenden, z.B. haben hier Milarepa und der Magier Bön Chung ihre magische Fähigkeiten gezeigt.
Auch wenn heute noch die Begriffe der Zhang-Zhung- bzw. Bön-Sprache verwendet werden, sind sie keineswegs tibetisch. Sie sind mit tibetischer Schrift geschrieben, aber was es wirklich heißen soll, ist mir ein Rätsel. Das bedeutet, dass es eine Fremdsprache ist, die durchaus ihren Ursprung in Persien haben kann. Von Persien bis zur Türkei - sprachlich gesehen - gibt es viele enge Verbindungen. Als ich in der Türkei war, habe ich mehrfach türkische Bezeichnungen entdeckt, die im tibetischen ebenfalls verwendet werden, natürlich anders ausgesprochen. Z.B. Stempel, im türkischen "Damga" geschrieben und im tibetischen Tam-ga. Im Tibetischen gibt es sogar beide Schreibweisen. Es gibt also viele Verbindungen zu den benachbarten Ländern.
Die Bön-Religion wurde im gesamten Tibet, damals noch im gesamten Zhang-Zhung, praktiziert. Im Laufe der Jahrhunderte entwickelte sich im mittleren Teil von Zhang-Zhung eine Art tibetisches Reich, das heute mit Süd-Tibet identisch ist. Von Süd-Tibet aus dehnte sich das Reich bis nach Zentraltibet Richtung Lhasa aus.
Wechselhafte tibetische Geschichte
Nun muss ich zwangsläufig über die tibetische Königsreihe sprechen. Von 127 v. Ohr., dem Beginn der Regierungszeit des ersten tibetischen Königs Nyatri Tsanpo (tib.: gnya'-bkri btsan po) bis zum 33. König Songtsen Gampo (Regierungszeit 617-649), der vielen von uns zumindest namentlich bekannt ist, gab es also nur die Bön-Religion. Zu dieser Zeit verfügte das Königshaus in Tibet am Hof über einen Hauptpriester, der den König beraten hat, Pujas machte, der auch über große Macht verfügte. Durch den Priester wurden auch andere Mitglieder des Königshauses betreut, wodurch die Königshäuser durch und durch der Bön-Praxis verpflichtet waren. Im 7. Jahrhundert hat der tibetische König aus unterschiedlichen Gründen seine Macht weiter ausgebaut. Salopp formuliert: Das Mittel hierzu war "neue Spiritualität. Mit der Bön-Religion kam er schon seit längerer Zeit nicht zurecht, er konnte damit nichts Neues, Attraktives bieten. Manche sagen, die Bön-Religion sei zu "ritualfixiert" gewesen, habe zu wenig Essenz gehabt. Nach längerer Neuorientierung seitens des Königs holte er die indisch-buddhistische Religion nach Tibet. Um diese auch schriftlich zu etablieren, sandte er einige seiner jüngeren Minister nach Indien zum Sprachstudium. Sie haben dann aus dem Indischen die neuen tibetischen Schriften eingeführt.
Wenn wir uns mit der Geschichte auseinandersetzen, müssen wir sie wirklich von allen Seiten betrachten. Das bedeutet, dass die Geschichte, wie sie von Buddhisten, von Nichtbuddhisten und von Bön-Praktizierenden niedergeschrieben wurde, nicht dieselbe Geschichte ist. Man muss alles zusammen erfassen und recherchieren, weil es hier sehr viele einseitige Berichte gibt. Von buddhistischen Meistern aus gesehen, gab es bis zur Ära Songtsen Gampos keine Schrift in Tibet. Seine Minister hätten sie aus Indien mitgebracht. Von der Bön-Seite aus gesehen gab es schon drei verschiedene Schriften in Tibet. So habe es von der ursprünglichen tibetischen Schrift, die durch Buddha Shenrab dargelegt worden sei, über eine zweite Schriftform bis zur heutigen Schrift eine Entwicklung gegeben.(5)
Dagegen schreibt die buddhistische Geschichtsschreibung: Durch die Minister Thomi Sambhota gab es bei der Übertragung vom Indischen ins Tibetische einige Veränderungen, aber angeblich bis dahin keine eigenständige Schrift.
Nur wie kann das sein? Woher kommen denn dann die 78 Bön-Überlieferungen? Hier muss man also ganz genau recherchieren. Nach heutiger wissenschaftlicher Definition haben die Bön-Praktizierenden Recht; schon wesentlich länger gibt es eine Schrift in Tibet. Nachdem König Songtsen Gampo den Buddhismus in Tibet eingeführt hatte, war das (buddhistische) "Problem" mit den Bön-Praktizierenden noch nicht beseitigt. Er hat versucht, dass beide Religionen "unter einem Dach" praktizieren, was jedoch nur teilweise funktionierte. Es gab sehr viel Streit zwischen den Ministern, eine Gruppe war für Buddhismus und die anderen für Bön. Je nachdem welche Gruppe mehr Macht hatte, dominierte die eine oder andere religiöse Ausrichtung.
Der König Trisong Detsen (reg. 755-797) lud Padmasambhava aus Indien nach Tibet ein und Acharya Shantarakshita wurde eingeladen. Dann wurde um 755 das erste tibetische Kloster Samye gegründet. Dort gab es zwei Gruppen von Praktizierenden, einmal die Ordinierten, also Mönche und Nonnen, und dann die Laienpraktizierenden. Sie wurden hier gleichwertig anerkannt und durch das Königshaus unterstützt. Ebenfalls im Samye-Kloster gab es sieben verschiedene Fakultäten bzw. Abteilungen, u.a. Übersetzer. Man begann, sehr viele indische Texte ins Tibetische zu übersetzen. Später wurden die übersetzten Texte nochmals geprüft und ergänzt bzw. verbessert. Die Übersetzungsarbeiten waren noch bis in das 16. Jahrhundert nicht abgeschlossen.
In der Königsreihe vom 33. bis zum 41. König - mehr tibetische Könige gab es nicht - läuft allerdings immer noch sehr viel durcheinander. Noch einmal: Tatsache ist, dass die eigentliche tibetische Kultur intensiv von der Bön-Tradition geprägt ist, nicht vom Buddhismus. Buddhismus war im 7. Jahrhundert eine Art Fremdreligion in Tibet. Wenn ein König mehr zur Bön-Religion tendierte, wurden Buddhisten verfolgt, und wenn ein König mehr in Richtung Buddhismus orientiert war, wurden die Bön-Anhänger verfolgt. Tausende von Bönpos sind auf Anweisung von buddhistischen Königen und Ministern hingerichtet worden. Es wurden viele Bön-Schriften verbrannt und Praktizierende unter Druck gesetzt, zum Buddhismus zu wechseln, oder sie wurden hingerichtet. Der jeweilige König selbst war gar nicht so stark religiös ausgerichtet, aber er war sehr stark an der Erhaltung der tibetischen Identität und spezifischen Kultur interessiert. Im 9. Jh. kam z.B. der König Langdarma (836-842) an die Macht, er war ein ausdrücklicher Bön-Anhänger und hat die Buddhisten massiv verfolgt.
Durch die Verfolgung der Buddhisten sind manche nach West-Tibet geflohen oder auch ganz in den Osten Tibets. 70 Jahre lang gab es hauptsächlich in Zentral-Tibet keinen Buddhismus mehr, weshalb diese Zeit von den tibetischen Buddhisten als eine "dunkle Zeit" bezeichnet wird. Nach 70 Jahren wurde die Gesamtsituation ein bisschen besser, die Bön-Sympathisanten" waren schwächer geworden. Die seinerzeit geflohenen Buddhisten wurden durch Gönner ermuntert, sich wieder nach Zentral-Tibet zu begeben, wodurch auch hier wieder buddhistisches Leben entstand. Durch die langjährige Abstinenz des Buddhismus haben viele Meister einiges vergessen und dadurch vieles falsch interpretiert. Es gab viel Religionsmissbrauch im Buddhismus, besonders was Alkohol-, Wirtschaftsmissbrauch usw. betraf. Daraufhin beschloss der westtibetische Priesterkönig Yeshe Ö (tib.: lHa bla-ma ye-shes 'od), einen großen Meister aus Indien zu holen. Er gewann den bengalischen Mönch Atisha (982-1054) ein weit bekannter Gelehrter der buddhistischen Universität von Vikramasila, der im Jahre 1042 nach Tibet reiste.
Mit diesem Gerüst der historischen Entwicklung von Bön und Buddhismus bis hin zur neueren Entwicklung des Buddhismus gehe ich weiter in Richtung des Buddhismus. Nachdem der Buddhismus nun in Tibet etabliert war, kam es im 11./12. Jahrhundert wieder zu Missständen im Buddhismus. Nun kam Atisha, der alles erneut überprüfte und schlussendlich einen "sauberen" Buddhismus ins Land gebracht hat. Insgesamt hielten dann nach und nach vier Traditionen Einzug, zum Schluss die Gelugpa-Tradition. Die Gelugpa-Tradition ist die größte innerhalb des tibetischen Buddhismus. Es gibt jedoch noch zahlreiche kleinere "Abzweigungen".
Nalanda-Schriften und Naturreligion
Der tibetische Buddhismus basiert sehr, wie S.H. der Dalai Lama oft betont, auf den Schriften der Gelehrten der damaligen indischen Nalanda-Universität. Diese Schriften, wenn nicht alle, aber überwiegend, sind ins Tibetische übersetzt worden. Diese sind die Basis für unser Studium und unsere Praxis. Die Schriften werden hauptsächlich an den großen tibetischen Klosteruniversitäten studiert und zwar in zwei verschiedenen Formen: nämlich durch die mündliche Erklärung der Lehrer und in Form der logischen Debatte der Schüler. Dieses Debattensystem gab und gibt es nur innerhalb der Sakya- und der Gelug-Tradition.
Neben dem Studium der Literatur der Nalanda-Tradition praktizieren wir sehr stark erweiterte tantrische Rituale. Im Tantra gibt es zwei Kategorien. Die eine ist eine wirklich meditative und sehr essenzielle Praxis auf philosophischer Basis, z. B. die sogenannte Vorstellungsstufen- und die so genannte Vollendungsstufenpraxis. Neben dieser tiefgründigen Praxis gibt es auch sehr viele Rituale, z. B. die Reinigungspraxis in Form von Waschungsritualen oder "To gyag", Torma-Darbringungen(6). Diese Ritualentwicklung kam aus den Naturreligionen sowie über den Schwarzen Bön zum Weißen Bön in den Buddhismus hinein und ist jetzt zu einer sogenannten Volksreligion geworden. Der Ursprung ist nicht buddhistisch, wir haben nur ein buddhistisches Mantra hineingesetzt oder ein Tara-Gebet hinzugefügt. Sozusagen haben wir "Salz und Pfeffer" auf die Bön-Kultur gegeben und damit wurde es zur buddhistischen Praxis.
Transkribiert durch Birgit Wilde
Anmerkungen
(1) Dieser Zwischenraum bezeichnet einen Raum zwischen zwei Objekten oder zwischen Subjekt und Objekt. Er spielt z.B. eine Rolle in der tantrischen Ermächtigung in dem Moment, in dem der Vajrameister die Schüler bittet, das rote Band abzunehmen und die sogenannte "Farbe des Zwischenraumes" wahrzunehmen. Er unterscheidet sich klar vom Begriff "Raum", Tibetisch: nam kha (tib.: nam-mkha'), oft auch mit "Himmel" oder "transzendenter Raum" übersetzt.
(2) Tsen-Dämonen (tib.: btsan)
(3) Diese Zeitangabe stammt aus Namkhai Norbu Rinpoches Buch Zhang-bod gna'-rabs-kyi la-rgyus nor-bu'i me-long", Seite 39, das 1990 im Sichuan Publishing House veröffentlicht worden ist.
(4) "Go - pug - bar - sum" (tib.: sgo phug bar sum), dieser Ausdruck bedeutet übersetzt: Ende (eines Tales) - tief (im Tal drin) - dazwischen - drei. Go steht für Amdo, Pug für Persien, Bar für die Kailash-Gegend.
(5) 1. Phase: Die Schrift, die Buddha Shenrab dargelegt hat, tib.: sTag-gzig spungs-yig; 2. Phase: Die Zhang zhung-Schrift (tib.: Zhang-zhung yig-rgan); 3. Phase: Mardrak-Schrift (tib.: Zhang-zhung smar-yig)
(6) Ein "To gyag" Torma (tib.: gto-rgyag) ist sehr groß, rot und mit feurigen Zacken versehen, tetraederförmig. Es wird z.B. zum tibetischen Neujahrsfest aus dem Dorf getragen und verbrannt, um symbolisch alles Böse aus der Gemeinschaft zu vertreiben.
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Quelle:
Chökor - Tibethaus-Journal
Ausgabe Nr. 43, Juli 2007, Seite 10-17
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Das Einzelheft kostet 5 Euro.
veröffentlicht im Schattenblick zum 5. August 2008