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PRESSE/740: Interview mit Thich Thien Son - Wie Ängste uns steuern (Buddhismus aktuell)


Buddhismus aktuell, Ausgabe 1/2009
Zeitschrift der Deutschen Buddhistischen Union

ZEN-BUDDHISMUS
Wie Ängste uns steuern

Interview mit Thich Thien Son


Viele Praktizierende aus der ganzen Welt bitten den Abt der Pagode Phat Hue um psychologische Beratung. Zen-Meister Thich Thien Son unterscheidet drei Grundängste, die in jedem Menschen wirksam sind. Elena Hamm fragte ihn, warum es so wichtig ist, sich seiner Angstwelten bewusst zu werden.


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ELENA HAMM: Was ist eigentlich Angst?

TICH THIEN SON: Angst ist ein Gefühl und alle Gefühle entstehen durch ein Zusammenspiel von Körper und Geist. Wenn unsere Vorstellung nicht mit der erlebten Realität übereinstimmt, entsteht eine Diskrepanz, die auf körperlicher Ebene eine Anspannung erzeugt. Diese körperliche Reaktion, zum Beispiel eine Verkrampfung des Magens, wird dann von uns mit einem Gefühlskonzept belegt, beispielsweise mit dem Begriff der Angst.

So haben wir uns vielleicht vorgestellt, dass unsere Partnerbeziehung stabil ist und wir bis zum Ende unseres Lebens mit diesem Partner verbunden sein werden. Dann erfahren wir, dass der Freund oder die Freundin die Beziehung auflösen will. Die durch diesen Schock ausgelösten körperlichen Reaktionen interpretieren wir als Angstgefühl.

ELENA HAMM: Drückt sich das Gefühl von Angst immer gleich aus oder gibt es unterschiedliche Gefühlsformen von Angst?

TICH THIEN SON: Tatsächlich kann sich das, was wir als Angst bezeichnen, unterschiedlich anfühlen und unterschiedlich zugeordnet werden. Ich unterscheide nach meiner Erfahrung drei Grundängste: die Verlustangst, die Ablehnungsangst und die Angst vor Minderwertigkeit. Wir alle erleben diese drei Gefühlswelten, neigen aber je nach Persönlichkeitsbild und Situation mehr zu der einen oder anderen Variante von Angst.

ELENA HAMM: Wieso erzeugen Menschen so unterschiedliche Gefühlswelten von Angst?

TICH THIEN SON: Einerseits bringen wir aus früheren Leben bestimmte Gewohnheitsstrukturen mit. Andererseits bilden wir in der Begegnung mit unserer Umgebung bestimmte Strukturen aus. Ein Kind, das von seinen Eltern wenig Aufmerksamkeit erhält, wird dies als Zurückweisung dekodieren und dann Ablehnungsangst als Grundform entwickeln oder verstärken. Das Angstbild von Minderwertigkeit kann sich ausformen, wenn die Mutter starken Gefühlsschwankungen unterworfen ist und das Kind folglich wenig verlässliche Orientierung erfährt. Die Gefühlswelt von Verlustangst wird dagegen ein Kind entwickeln, das glaubt, alleingelassen zu werden. Wobei die vom Kind wahrgenommene Situation nicht unbedingt mit der realen Situation übereinstimmen muss. Es reicht, wenn das Kind aufgrund seiner mitgebrachten Wahrnehmungsmuster eine Situation entsprechend aufnimmt.

ELENA HAMM: Und diese Grundängste bestimmen dann unsere Handlungen, sodass sich durch die unterschiedlichen Angstformen unterschiedliche Handlungsmuster herausbilden?

TICH THIEN SON: Genau so. Also nehmen wir zum Beispiel eine Person mit Verlustangst. Sie sucht immer die Nähe zu anderen Menschen. Ihre einmal geschaffenen Beziehungen dürfen sich auf keinen Fall auflösen. Folglich entwickelt sie eine große Sensibilität für die Bedürfnisse anderer und liest deren Wünsche schon von den Lippen ab. Aus der Angst heraus, den anderen zu verlieren, entwickelt sie auch einen ausgeprägten Muttermechanismus oder gar Kontrollzwang. Zum Beispiel telefoniert eine solche Person dem Partner oder den Kindern gerne hinterher, um zu hören, wo sie sich gerade aufhalten und was sie gerade machen. Man könnte meinen, dass diese Person sich ständig Sorgen um die andern macht. Aber wenn man genau hinblickt, wird man feststellen, dass sie Angst um sich selbst hat. Sie will sich durch ihre Aktionen ständig vergewissern, dass die andern immer noch für sie da sind.

Menschen, die von der Angst der Ablehnung dominiert werden, bleiben gegenüber andern auf Distanz, sie wirken oft verschlossen. Dieses Verhalten schafft ihnen vermeintliche Sicherheit. Äußerst misstrauisch beobachten sie die Menschen, um festzustellen, ob und wo die Gefahr der Ablehnung lauert. Die Fehler der anderen werden genau registriert, denn die Kenntnis der Schwachstellen ist ihre Waffe gegen Kritik, die von anderen kommt. Kritik können sie nämlich nicht gut ertragen, bestätigt diese doch ihr Grundgefühl von Ablehnung. Gleichzeitig nehmen sie aber auch Lob nicht gerne an. Sie können nicht glauben, dass es wirklich ernst gemeint ist. Lob als Bestätigung stellt ihre Welt der Ablehnung auf den Kopf. Folglich werden sie alles tun, um eine Situation, die ihnen Anerkennung bringen könnte, herunterzuspielen: "Da ist doch nichts Besonderes dabei", werden sie sagen oder, "ich bitte Sie, das ist doch völlig normal."

Eine Person, deren Verhalten von Minderwertigkeitsangst geprägt wird, tendiert zu zwei verschiedenen Extremen: Entweder geht sie gegenüber anderen in die Selbstentwertung oder aber in die Selbstüberhöhung. Im ersten Fall macht sie sich klein und denkt, dass sie nichts weiß und nichts kann, alle anderen aber viel mehr können als sie selbst. Sie verfällt in Selbstmitleid und eine ausgeprägte Opferhaltung, wodurch sie Mitleid und Aufmerksamkeit von andern erhalten will. Gleichzeitig aber - und das scheint paradox - kennt diese Person sehr wohl ihre Fähigkeiten, aber nur im Geheimen - sozusagen privatissime.

Im zweiten Fall, der Überhöhung, neigt der Mensch zu Arroganz. Dann denkt er: "Ihr wisst doch gar nicht, wer ich wirklich bin, ich werde euch schon noch beweisen, wie toll ich bin. Euch brauche ich gar nicht, denn ich schaffe doch alles allein in meinem Leben." Und wiewohl diese Person ihren Gefühlen misstraut, hält sie ihre Ideen für absolut richtig. Das Schwanken zwischen den Extremen führt zu der inneren Zerrissenheit und Orientierungslosigkeit dieses Angsttyps.

Menschen mit Angst vor Minderwertigkeit häufen viel Wissen an, sind kritikfreudig und haben in Diskussionen stetst ein "ja aber" bereit, wollen sie doch gegen das Angstgefühl der Minderwertigkeit ankämpfen. Aufgrund ihrer Fokussierung auf Wissen und ihrer zeitweiligen Arroganz kommen andere Menschen nur sehr schwer an sie heran.

ELENA HAMM: Es sieht ja so aus, als würden diese Angstbilder uns geradezu lenken.

TICH THIEN SON: Das kann man sicherlich so sagen. Deswegen ist es wichtig, dass wir die von uns selbst geschaffenen Angstwelten erkennen. Sonst werden wir niemals frei entscheiden und handeln können. Unsere Angstbilder lenken die Berufswahl, die Partnerwahl, unser Freizeitverhalten, ja sogar unsere Art des Argumentierens und des Überzeugens.

ELENA HAMM: Also zu welchem Beruf würde sich beispielsweise ein Mensch hingezogen fühlen, der die Idee von Ablehnung in sich trägt?

TICH THIEN SON: Dieser Mensch könnte gut am Check-In-Counter am Flughafen arbeiten, dort steht er hinter einem Tresen und nimmt die Tickets der Fluggäste in Empfang. Der Tresen bietet Distanz und Sicherheit, und der Mensch muss sich nicht emotional auf die Kunden einlassen. Ganz anders eine Person, deren Welt von Verlustangst geprägt ist. Aus ihren Ängsten heraus wird sie einen Beruf ergreifen, der die Nähe zu Menschen ermöglicht. Und ein Mensch mit Minderwertigkeitsängsten könnte zu einem Beruf neigen, bei dem die Systematisierung und die Vermittlung von Fakten gefordert werden. Dies ermöglicht eine gewisse Abstraktion und Fokussierung auf Wissen.

ELENA HAMM: Was geschieht eigentlich in Partnerbeziehungen, wenn wir dieses Angstmodell zugrunde legen? Jeder nimmt doch die Wirklichkeit aus dem Blickwinkel seiner Angstwelt heraus wahr und reagiert entsprechend. Muss das nicht zu tragischen Missverständnissen führen?

TICH THIEN SON: Ich will dies an einem Beispiel verdeutlichen. Nehmen wir an, Partner A wird durch die Angst vor Ablehnung gesteuert und Partner B wird von Verlustangst getrieben. Aus der Angstfantasie heraus, den Partner zu verlieren, wird Partner B seine eignen Bedürfnisse nicht äußern und erst recht nicht einfordern. Er wird sie vielmehr völlig zurückstellen. Insgeheim erwartet er aber, dass er als Gegenleistung für seine Zurückhaltung verstärkte Zuneigung und Akzeptanz erhält. Doch das wird nicht der Fall sein. Partner A, der vom Bild der Ablehnungsangst getrieben wird, möchte Distanz beibehalten, deswegen fühlt er sich jetzt in die Enge getrieben. Fordert Partner B von ihm mehr Nähe, igelt er sich ein.

ELENA HAMM: Wahrscheinlich lässt sich das Karussell des Beziehungsdramas noch weiter fortsetzen. Denn der von Verlustangst geprägte Partner wird jetzt auch wieder reagieren ...

TICH THIEN SON: ... Partner B sieht sich in seinen ewigen Verlustfantasien bestärkt und versucht, die Gefühle des anderen genau zu erforschen. Er will wissen, ob er noch auf seinen Partner bauen kann, und bedrängt ihn, über seine augenblicklichen Gefühle zu sprechen. Aber während es einer Person mit Verlustangstbildern leicht fällt, über Gefühle zu reden, will ein Mensch mit Ablehnungsängsten seine Gefühlswahrnehmung nicht preisgeben. Denn die Vorstellung, dass er sich öffnet und dann vielleicht abgelehnt wird, ist für ihn unerträglich. Dies wiederum kann Partner B nicht nachvollziehen. Ich erlebe in meiner Beratungstätigkeit oft, dass Partner sich verständnislos gegenüberstehen. Man sieht, Angstbilder, die nicht bewusst sind, führen zu Konflikten und zu einer Eskalation in Beziehungen.

ELENA HAMM: Wäre es dann nicht das Beste, dass sich Menschen mit den gleichen Angstbildern zusammentun?

TICH THIEN SON: Meistens ziehen sich Menschen mit unterschiedlichen Angstformen an. Personen, die von Verlustangst getrieben werden, fühlen sich vor allem zu Menschen mit Ablehnungsangst hingezogen. Sie glauben, gerade jenen helfen zu müssen, die immer auf Distanz gehen. Wenn man bereit ist, sich seiner Ängste bewusst zu werden, dann kann in der Partnerschaft gerade die Konfrontation mit der gegensätzlichen Angstwelt hilf- und lehrreich sein. Oppositionen können eine heilsame Auseinandersetzung fördern.

ELENA HAMM: Das heißt, wenn Partner A aus dem oben skizzierten Beispiel sich seiner Angst vor Ablehnung bewusst ist, dann wird sein Verhalten nicht mehr durch das Angstbild bestimmt.

TICH THIEN SON: Die Wirklichkeit ist komplexer. Bisher habe ich aus Gründen der Vereinfachung nur von jenen Angstmechanismen gesprochen, die relativ leicht wahrnehmbar sind, weil sie sozusagen an der Oberflächenschicht liegen. Die von uns geschaffene Gefühlswelt an der Oberfläche dient dazu, die Ängste der tieferen Schicht zu verdecken. Diese sind für uns so unangenehm, so unerträglich, dass wir ein Ablenkungsmanöver durchgeführt haben. Wer an der Oberfläche zu Verlustangst tendiert, verdeckt die darunterliegende Angst vor Minderwertigkeit. Die Person mit Ablehnungsangst verbirgt die tiefer liegende Verlustangst und wer Angst vor Minderwertigkeit an der Oberfläche wahrnimmt, versucht der darunterliegenden Ablehnungsangst auszuweichen. Das heißt, es reicht nicht, den Angstmechanismus auf der ersten Ebene aufzuarbeiten. Man muss vielmehr der tieferen Angstschicht begegnen.

ELENA HAMM: Nochmals zur Funktionsweise dieser miteinander verbundenen Angstebenen. Was geschieht, wenn eine Person mit einer unliebsamen Situation konfrontiert wird? Werden beide Angstwelten gleichzeitig ausgelöst?

TICH THIEN SON: Sagt man zu einer Person, die das Bild von Minderwertigkeit in sich trägt, "das machst du falsch", so hört sie sofort eine negative Bewertung. Damit wird das Angstgefühl zum Schwingen gebracht, wertlos zu sein. Gleichzeitig wird auf der darunterliegenden Ebene die Angst aktiviert, von der beurteilenden Person abgelehnt zu werden. Dieses zweite Angstbild kann aber erst nach intensiver innerer Arbeit wahrgenommen werden.

ELENA HAMM: Du hast eingangs deutlich gemacht, dass Ängste nur Gefühlskonzepte sind. Das bedeutet doch, dass diese Ängste letztendlich gar nicht real sind. Warum soll man sich dann mit ihnen auseinandersetzen?

TICH THIEN SON: Man muss verstehen, dass die Grundängste und ihr Zusammenwirken auf den verschiedenen Ebenen Teil unseres Egospiels sind. Je mehr wir unser Ego ausbilden, desto mehr Ängste haben wir. Nehmen wir zur Verdeutlichung ein Beispiel, zugegebenermaßen ein sehr vereinfachendes: Wir definieren eine Armbanduhr als Teil unseres materiellen Besitzes. Je mehr wir uns nun über das Objekt identifizieren - "ich bin derjenige, der dies und das besitzt, unter anderem auch diese Armbanduhr" -, desto größer werden unsere Ängste. Wir haben Angst, dass die Uhr kaputtgeht, dass wir sie verlieren oder dass sie jemand wegnimmt. Unsere Angstvorstellungen und unser Egobild sind eng miteinander verwoben. Insofern ist die bewusste Konfrontation mit unseren Angstbildern zwar nur ein Schritt, aber ein wichtiger Schritt hin zur Befreiung.

Letztendlich geht es natürlich um die Auflösung des Egos. In den Zen-Seminaren leiten wir unsere Teilnehmer an, tief in ihre Gefühlswelten einzudringen, um nach und nach die Schichten abzutragen und sich immer deutlicher mit dem Egobild zu konfrontieren. Zunächst machen wir das Ego klein, dann wollen wir es auflösen.


Thich Thien Son ist Zen-Meister in der Lin-Chi-Tradition, TCM-Meister und Abt der Pagode Phat Hue. Er stammt aus Vietnam und wurde mit acht Jahren ordiniert. Mit 12 Jahren flohen seine Familie und er nach Deutschland. 2001 gründete er die Pagode Phat Hue in Frankfurt a. Main. Dort leben zurzeit 25 Mönche und Nonnen. Thich Thien Son lehrt den Dharma in vielfältiger und moderner Form. Die buddhistische Psychologie bildet dabei einen der Schwerpunkte.

Weitere Infos: www.phathue.de


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Quelle:
Buddhismus aktuell, Ausgabe 1/2009, S. 16-19
Herausgeberin: Deutsche Buddhistische Union (DBU)
Buddhistische Religionsgemeinschaft e.V.
www.dharma.de
www.buddhismus-deutschland.de

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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Januar 2009