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PRESSE/813: Spirituelle Autorität und individuelle Verantwortung (Zenshin)


ZENSHIN - Zeitschrift für Zenbuddhismus, Nr. 1/09

Spirituelle Autorität und individuelle Verantwortung

Auszüge aus einem Vortrag von Dorin Genpo Zenji


Durch meine traditionelle Ausbildung im Enpukuji-Zenkloster in Japan gelingt es mir vielleicht im Laufe des Vortrages ein wenig plastischer darstellen zu können, was mein Vorredner Herr Dr. Lautwein bereits in Bezug auf Lob und Tadel im Meister-Schüler-Verhältnis angesprochen hatte. Wir beide gehören zwar verschiedenen buddhistischen Traditionen an, doch unterscheiden sie sich in diesem Bereich kaum. Ich selbst bin Mitglied des Myoshinji einer der großen Schulen des Rinzai-Zen in Japan. Im Buddhismus habe ich vor über 25 Jahren meine spirituelle Heimat gefunden. Katholisch aufgewachsen, hatte ich bis in meine Jugendzeit hinein innerhalb des Christentums intensiv nach Antworten auf meine existenziellen Fragen gesucht. In Folge habe ich auch christliche Sondergruppen kennen gelernt, aber auch sogenannte Jugendreligionen aus Ost und West. Dabei machte ich es mir nicht leicht und begann mich mit den Lehren der anderen Weltreligionen auseinander zu setzen. Aber ich fand nichts, was mir bei der Bewältigung meiner Probleme geholfen hat und nichts was mich letztendlich überzeugt hätte. Erst als ich mich mit den Lehrreden des Buddha Shakyamuni beschäftigte und mich infolge dessen mit den verschiedenen Ausprägungen des Buddhismus auseinandersetzte, da erst wusste ich, dass ich endlich angekommen war. Die erste Berührung war mit Theravada, der Schule der Alten und dem Palikanon, der Sammlung der ursprünglichen Lehrreden des Buddha. Zu dieser Zeit hatte ich weder einen Lehrer, noch irgendwelche Kontakte zu buddhistischen Gruppen, aber ich hatte mir verschiedene Bücher besorgt, darunter die Mittlere Sammlung. Es waren die Lehrreden des Buddha, seine Lehre, die mich letztendlich berührt und mit Vertrauen erfüllt hat. Es war mir einfach klar, dass diese Lehre Leitlinie und Unterstützung für mein weiteres Leben sein würde. Damals dachte ich nicht daran Mönch oder Zen-Priester oder dergleichen werden zu wollen. Doch die intensive Beschäftigung mit der buddhistischen Lehre und der Versuch sie im täglichen Leben anzuwenden und umzusetzen, brachten es mit sich, dass ich nach Asien zu reisen begann, um dort lebendigen Buddhismus zu erleben. In Deutschland gab es so etwas noch nicht. So war es dann auch, dass ich nach vielen Jahren des Suchens und Lernens meinen Meister, Hozumi Gensho Roshi, in Japan gefunden habe und von ihm und anderen Meistern unserer Schule ausgebildet wurde. 1986 weihte er in München unseren ersten Meditationsraum in Deutschland, das "Jikishin-Dojo", ein. 1990 wurde ich in Japan zum Mönch ordiniert und absolvierte 1991 im Enpukuji eine traditionelle Ausbildung zum Zen-Priester (Osho). Mit Lehrerlaubnis kehrte ich nach Deutschland zurück und gründete im Frühjahr 1992 den Bodaisan Shoboji in Dinkelscherben. [...]

Als ich eben Herrn Dr. Lautwein zuhörte, musste ich unwillkürlich schmunzeln, als er von den tibetischen Lamas erzählte, die immer sagen "Ich weiß nichts, ich kann nichts, ich bin ganz klein, ich habe gar keine Ahnung von der Lehre, etc...". Asiatische buddhistische Lehrerinnen und Lehrer verhalten sich meistens so, wenn sie über sich selbst sprechen. Das "Lustige" daran ist, dass viele westliche Zuhörer solche Bescheidenheitsfloskeln bereitwillig missverstehen und solchen Aussagen Glauben schenken. Solches Verhalten ist jedoch auch zu beobachten, wenn "illegale" Lehrerinnen und Lehrer auf spirituellem Gebiet großspurig von sich behaupten "Sie seien so toll, großartig und erleuchtet", dann glaubt ihnen das Publikum hier genauso. Das ist eine Tatsache, der man besonders im Westen begegnet. Wie kann das nur sein? Haben die westlichen Menschen kein spirituelles Feingefühl oder Unterscheidungsvermögen? Warum kann man ihnen auf spirituellem Gebiet so leicht etwas vorgaukeln?

Warum geben sich die Menschen gerne mit irgendwelchen Aussagen und Glaubenssätzen zufrieden, die sich andere ausgedacht haben? Haben die Menschen kein Vertrauen zu sich selbst? Oder mangelt es an Einsicht und Wissen?

Von J.W. Goethe stammt der Satz: Mit dem Wissen wächst der Zweifel.

Heißt das, wer nichts weiß, glaubt alles? Wer nichts weiß, ist sehr von sich eingenommen? Weil sie nicht wissen, machen sie, was sie wollen?

Eben wollte ich rufen: "Ihr seid doch bereits alle Buddhas". Wir tragen alle diesen "Gottesfunken" in uns, wie Meister Eckhard, der große christliche Mystiker, sagen würde. Haben Sie ihn schon in Ihrem Herzen entdeckt? Wenn Sie ihn in sich gefunden haben, wo gibt es dann noch ein Problem? Wenn wir bereits den Gottesfunken oder die Buddha-Natur in uns tragen, warum sollten wir diese dann im Außen suchen? Heute Morgen während der Andacht hörten wir die Worte aus der Bibel: "Sorget euch nicht". Damit ist nicht gemeint, faul zu sein und den Herrgott einen guten Mann sein zu lassen, sondern, wir werden aufgefordert, diese spirituelle Suche in uns zu beginnen. Die Suche nach Weisheit, Wahrheit und Erlösung ist gemeint, die wir in uns selbst beginnen müssen. Diese Suche kann uns niemand anderes abnehmen, sie ist hauptsächlich eine innere Angelegenheit, ein Weg, den jeder für sich zu gehen hat. Gestern wurde auch die Frage gestellt: "Was ist Wahrheit?" Mir kam spontan ein Gleichnis mit dem Berg Fuji in den Sinn, welches in Japan gerne verwendet wird. Der Berg Fuji hat eine sehr gleichmäßige, ebene Form und sieht aus wie ein Kegel, wohl geformt. Die Japaner sagen: "Mit der Wahrheit verhält es sich so wie mit dem Berge Fuji. Wenn er vollkommen in Nebel und Wolken eingehüllt ist und wir ihn gar nicht sehen können, verändert er deswegen seine Form nicht!". Und ist der Berg einmal klar zu erkennen, dann aber beschreibt ihn dennoch jeder Betrachter anders. Jeder erlebt die Wirklichkeit auf die ihm individuelle Weise. Wer den Fuji jedoch kennt, weiß genau von welchem Berge die Rede ist. Und so verhält es sich mit der Wahrheit: Wir "reden" über Wahrheit. Jedoch ist es unmöglich zu sagen, was die letztendliche Wahrheit ist. Denn jeder Mensch hat im Grunde seine eigene Wahrheit und findet auch zu seiner eigenen Wahrheit hin, wenn er ernsthaft sucht.

Zu meinem Lebenslauf möchte ich noch sagen: Auch innerhalb des Buddhismus habe ich mich mit verschiedenen Schulen und Richtungen beschäftigt. Angefangen habe ich mit Theravada. Das kam mir als junger Mann dann doch etwas zu "trocken" vor. So ein "staubiger" nüchterner Buddhismus, in dem es immer nur um Texte und Wiederholungen und ein "mönchisches" asketisches Leben zu gehen scheint, war damals und ist noch heute nicht so ganz meine Sache. Ich wollte es etwas bunter und lustiger und so bin ich weiter zum Tibetischen Buddhismus gewandert. Hier lernte ich einen der großen Wegbereiter des Buddhismus in Deutschland, Geshe Thubten Ngawang vom Tibetischen Zentrum Hamburg kennen, dem ich vieles zu verdanken habe. Obwohl es mich dann in Richtung Zen weiterzog, blieb Geshela mit Rat und Tat mein Lehrer. Ich fuhr zwar nicht mehr nach Hamburg, doch wir blieben in Verbindung und ab und zu kreuzten sich unsere Wege. Das waren wunderbare Begegnungen. Es ist im Buddhismus so, dass man seine Lehrer achtet und ihnen Dankbarkeit erweist. Selbst wenn man die Traditionslinie wechselt oder selbst zum Lehrer geworden ist, bleiben sie trotzdem Meister, Wegbegleiter und spiritueller Freund. Das ist wie mit Eltern und ihren Kindern. [...]

Bezeichnenderweise sind auch mir solche Dinge passiert, wie sie von Herrn Dr. Lautwein beschrieben wurden. Ich kann nur sagen: "Wehe du wirst gelobt!" Das ist ganz schlimm, wenn man im Zen gelobt wird. Im traditionellen Zen-Buddhismus loben die Meister ihre Schüler niemals, es sei denn, sie haben gerade ihre Erleuchtung erfahren. Die Leute im Westen freuen sich immer, wenn der Roshi ganz lieb zu ihnen ist, sie anlacht und nichts kritisiert. Dazu sage ich immer: Vorsicht, wiege dich nicht in falscher Sicherheit. Denn es kann sein, dass der Roshi denjenigen nicht ganz ernst nimmt und ihn nicht überfordern möchte. Hingegen, wenn man kräftig übt und ernsthaft an der Sache arbeitet, dann ist er selten zufrieden und drängt die Schüler dazu, Erleuchtung erfahren zu wollen. Viele westliche Menschen laufen fort, wenn der Meister streng mit ihnen umgeht und ihrem Ego zu nahe kommt, in dem Glauben, man wolle sie ärgern oder quälen. Möglicherweise bin ich zwischenzeitlich sehr "asiatisch" geworden, denn für mich war und ist es immer peinlich, wenn ich gelobt werde. Ich konnte Lob noch nie besonders ertragen, denn nach erhebendem Lob erfolgte unweigerlich ein Absturz. Man kann sagen: "Je höher man gehoben wird, um so tiefer fällt man". Hingegen, wenn man schon liegt, kann das nicht mehr passieren. Ein besonders peinliches Erlebnis in diesem Zusammenhang hatte ich einmal mit Nishikata Roshi, dem jetzigen Oberhaupt unserer Myoshinji-Traditionslinie. Damals war ich als sein Sekretär mit ihm auf Dienstreise nach Kyushu geflogen. Dort begleitete ich ihn bei Krankenbesuchen, assistierte bei Zeremonien und bei seelsorgerischen Gesprächen und dergleichen. Die Menschen dort waren beeindruckt von so einem "großen Osho aus Deutschland" und machten ziemlich viel Aufhebens um mich. Einem westlichen Zen-Priester war man dort bis dahin noch nicht begegnet. Ich reagierte zurückhaltend und fühlte mich nicht besonders wohl, denn ich fragte mich, ob das gutgehen würde. So lief es weiter bis zur Verabschiedung am Flughafen. Zum Abschied von Roshi kamen viele Menschen und lobten mich wohl zu heftig. Nishikata Roshi beendete das Schauspiel abrupt: "Der, der weiß doch gar nichts, der ist richtig dumm. Er tut alles was ich ihm sage, dabei versteht er überhaupt gar nichts. Wenn ich etwas sage, sagt er zu allem immer nur 'Ja, ja'! Der ist richtig dumm!"

So etwas hatte ich schon erwartet. Als ich dann zu Hause im Empukuji angekommen war und dem Meditationshallenleiter von diesem Vorfall erzählte, meinte er: "Hast du ein Glück, dass er dieses Loben und Hochheben unterbunden hat! Der schätzt dich aber sehr!".

Nun komme ich aber wieder zurück in hiesige Gefilde. Wie ich sehe, läuft die Zeit und so möchte ich mich wieder an meinem Konzept orientieren.

Niemandem bleibt es verborgen, dass sich unsere Gesellschaft in einer kulturellen, spirituellen Krise befindet. Es scheint, als ob sich der Werteverfall nicht nur in der westlichen Welt immer weiter beschleunigt, obwohl es auch hier Gegenbewegungen gibt. Ethik und Moral befinden sich offensichtlich im Niedergang. Sozialer Altruismus, religiöse oder andere heilsame Verhaltensweisen scheinen veraltet und nicht mehr überzeugend. Die Menschen verlieren immer mehr das Vertrauen in die traditionellen Institutionen, besonders trifft dies auch auf die religiösen, politischen und sozialen Bereiche zu. Trotz ihrer unbestrittenen Norm, Leistungen und Entwicklungen, werden auch Technik und Wissenschaft von einer immer größer werdenden Anzahl von Menschen mit Misstrauen und Unbehagen betrachtet. Zu viele unlösbar erscheinende Probleme, die der Mensch verursacht hat, haben sich im Laufe der Zeit angesammelt. So darf es auch nicht verwundern, dass sich der Mensch auf seiner Suche nach Sinn des Lebens, Glück Sicherheit, Geborgenheit, Zukunftsvisionen und spirituellem Erleben allem Möglichen zuwendet, das ihm einen Ausweg aus seiner unbefriedigenden Situation zu bieten scheint. So zeigen sich viele Möglichkeiten, um seinen individuellen Neigungen und Bedürfnissen nach zu kommen. Dabei wird nicht nur in den westlichen Ländern legal und illegal vermutlich alles angeboten, was man sich nur denken kann. Auch auf spirituellem, religiösem Gebiet ist das so.

Wir können feststellen, dass in Deutschland alle Traditionslinien des Buddhismus vertreten sind. Zumindest die großen Traditionslinien und innerhalb dieser die verschiedensten Schulen. So auch die drei Zen-Schulen Japans (Soto, Rinzai und Obaku, wobei Rinzai und Obaku das selbe Gebäude haben und daher schon lange zusammen gehören).

Soto ist die größte dieser Schulen. Es ist mehr dieser Volksbuddhismus; nur Sitzen, nur "Praxis" und wenig Schriftstudium. Soto kam im 12. und 13. Jahrhundert nach Japan.

Rinzai war eine Idee schneller, durch Esai, der durch zwei Chinareisen Zen kennengelernt hatte und es dann als Erster in Japan eingepflanzt hat.

Die Soto-Schule nennt man das Zen der schweigenden Erleuchtung, also Sitzen ist die Hauptpraxis und weniger das Studium oder die Theorie. Theorie gibt es dort natürlich auch, aber die Hauptsache ist sitzen. "Shikantasa" bedeutet sitzen in Stille, objektfreie Meditation, ist also nur "reines Sitzen".

Bei der Rinzai- und Obaku-Schule hingegen spielt das Koan-System eine besondere Rolle. Hierbei komme ich dann auch auf das Thema "Autorität" zu sprechen. "Koan" bedeutet Rätsel, Fall, Beispiel oder Gerichtsfall. Im Westen sagt man meistens paradoxe Aufgabe, die man bekommt und nicht mit dem Verstand lösen kann und mit allem lösen soll, was man ist. Diese Koan-Schulung ist das Besondere der Rinzai-Schule, daher nennt man Rinzai-Zen auch Kanna-Zen oder Koan-Zen. Meditation, Zazen, ist auch sehr wichtig, die Regeln, Schriftenstudium, Kenntnisse der Sutra, Philosophie und so weiter ist alles sehr wichtig, aber dem Koanstudium wird sehr große Bedeutung beigemessen. Um wirklich Koanschulung machen zu können, ist der Roshi notwendig als jemand, der schon diese Koans alle gelöst hat, jemand der sich schon auf einer Verwirklichungsebene befindet, die wir erst "erreichen" sollen. Zwischen "Osho" und "Roshi" besteht auch ein gewisser Unterschied: "Osho" ist eher auf der formalen Ebene die Autorität, also Osho werden im Grunde in Japan alle genannt, die schwarze Gewänder tragen, Glatze haben und barfuß daherlaufen. Der Unzui ist der Mönch, der im Kloster lebt und eigentlich der Novize und Übende ist. Wenn also jemand Unzui ist oder Mönch oder Nonne geworden ist, ist er deswegen nicht sofort Autoritätsträger. Wie man auch feststellen kann, sind die Zen-Leute alle sehr "respektlos" in mancher Weise, denn sie lehnen Wunschdenken und Spekulation vollkommen ab. Wir Menschen wünschen uns immer alles und im Zen sieht man es eigentlich auch so, dass der Mensch Religion und so manches erfunden hat, um es sich besser gehen lassen zu können und dann zieht er an der Wirklichkeit vorbei. "Was ist die Wirklichkeit?" ist eine der wichtigen Fragen in dieser Koanschulung. Es gibt verschiedene Koans und Grundkoans oder Hauptaufgaben, die dann in Diskussion, im Zusammentreffen zwischen Lehrer/in und Schüler/in geklärt werden. "Den Buddha töten, wenn man ihn trifft" findet in dieser Situation jeweils statt. Einzelgespräche finden unter einer besonderen Atmosphäre statt. Dieses Zimmer in dem man zusammentrifft, nennt man das "Geheime Zimmer". Der Roshi sitzt in einer Ecke auf einem Sitzkissen, hat eine Klingel und seinen Meisterstab vor sich liegen. Der Schüler kommt und wirft sich drei mal vor ihm nieder und trägt am Boden liegend sein Koan vor, setzt sich dann auf und gibt die Antwort. Dann muss er sehen, was der Meister daraufhin tut. Wenn der Meister klingelt, muss der Schüler gehen, ganz egal, ob er noch etwas sagen möchte oder nicht. In dem Moment, wenn die Klingel ertönt, geht man, das hat man zu akzeptieren. Man beschreibt diese Situation, wenn Schüler/in und Meister/in auf einander treffen als "Die Maus, die die Katze angreift, und dann besiegt".

In Japan kam ich einmal in einen Tempel und wusste nichts von diesem Koan, war also ganz unvorbereitet und da hing ein Rollbild mit einer großen, fetten Katze mit unglaublich verdrehten Augen, und sie war total erschrocken, weil vor ihr eine kleine Maus ist, die faucht und sie dabei anspringt. Ich stand vor diesem Bild und dachte: "Was ist das denn?!" und es hieß: "So benimmst du dich, wenn du mit mir Koans machst!". Diese Maus soll also den Meister, beziehungsweise, die Katze "besiegen", anspringen und so verblüffen, dass er nichts mehr sagen kann. Im Zen reicht es auch nicht, wenn der Schüler dem Meister irgendwann ebenbürtig ist, denn wenn der Schüler den Meister nicht überflügelt, bedeutet dies unweigerlich Stagnation. Der Schüler hat den Meister auf jeden Fall zu übertreffen! Der Meister ist seinem Schüler kaum eine Handbreit voraus. Echte, authentische Meister freuen sich, wenn der Schüler den Meister übertrifft, freuen sich und sind glücklich darüber. Es ist das Ziel ihrer Arbeit. Denn die Rolle eines Roshi und Zen-Meisters beruht außer auf ein wenig natürlicher Autorität, häuptsächlich auf fachlicher Qualifikation und auf phasenrelevanter Autorität. Das heißt, der Meister ist für einen gewissen Zeitraum für jemanden verantwortlich, der von ihm Zen in Theorie und Praxis erlernen möchte. Der Schüler sollte jedoch niemals seine Selbstständigkeit, seine Selbstverantwortung und seinen Verstand an der Garderobe abgeben.

Seit 1977 bin ich intensiv mit Buddhismus beschäftigt und seit vielen Jahren auch als Lehrer tätig. Da begegnet einem sehr sehr viel und auch in meiner Tätigkeit bei der DBU habe ich auch sehr viel gelernt. Als ich damals zum ersten Mal als junger Hüpfer und ganz grün hinter den Ohren zur DBU gekommen bin, dachte ich: "Oh, jetzt treffe ich nur erleuchtete Menschen, die sich in der Lehre des Buddha üben, gemeinsam an einem Strick ziehen, und alle das gemeinsame Ziel vor Augen haben." Es war jedoch eine Illusion zu glauben, dort, in buddhistischen Vereinen und Versammlungen nur Heilige zu treffen. Ich fand Menschen wie mich selbst, Menschen, wie alle anderen auch. Mit Sorgen, Nöten, Problemen, mit allen guten und schlechten Charaktereigenschaften. Wenn jemand Buddhist wird, heißt das nicht, dass er dadurch ein vollkommen anderer Mensch wird. Wenn er keine Probleme hätte, dann bräuchte er auch keinen Buddhismus. Weil ich Probleme habe, deswegen übe ich Zazen. Weil Zazen gute Wirkung entfaltet und diese spürbar ist, deswegen übe ich immer noch.


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Quelle:
ZENSHIN - Zeitschrift für Zenbuddhismus, Nr. 1/09, S. 4-8
Herausgeberin: Hakuin Zen Gemeinschaft Deutschland e.V. (HZG)
Burggasse 15, 86424 Dinkelscherben
Redaktion: Nanshu Susanne Fendler / Bunsetsu Michael Schön
Übelherrgasse 6, 89420 Höchstädt a.d.D.
E-Mail: s-fendler@t-online.de / schoen-bio@gmx.de
Internet: www.shoboji.de

ZENSHIN erscheint halbjährlich.
Einzelheft 7,50 Euro inklusive Versand


veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Januar 2010