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PRESSE/836: Politischer und sozialer Buddhismus - ein Paradigmenwechsel? (DMW)


Der Mittlere Weg - Nr. 2, Mai - August 2010
Zeitschrift des Buddhistischen Bundes Hannover e.V.

Politischer und sozialer Buddhismus - ein Paradigmenwechsel?

Von Axel Rodeck


1. Buddhismus - Hilfe auch für andere

a) Einsatz für die Welt

Kürzlich warfen wir in dieser Zeitschrift einen Blick 30 Jahre zurück auf Themen, die die Deutsche Buddhistische Union im Jahr 1980 zur Erörterung auf europäischer Ebene (Generalkonferenz der World Fellowship Of Buddhists) vorgeschlagen hatte: Humanitäre Angelegenheiten wie Entwicklungshilfe, Erhaltung des Weltfriedens, Atomwaffen und Atomenergie, Umweltschutz und Ökologie sowie Kampf gegen Drogen. Kurz: Es ging um die Weltprobleme aus buddhistischer Sicht. Bemerkenswert auch der Artikel über Sarvodaya Shramadana, eine buddhistische Laienbewegung, die mit ihrem Einsatz für die gewaltlose Schaffung vorbildlicher Sozialordnungen als vorbildlich für die Dritte Welt bezeichnet wird.

Inzwischen haben sich solche Gedanken verbreitet und wir erleben, daß beispielsweise der derzeitige Dalai Lama - für seine Vorgänger wohl undenkbar - eine Großveranstaltung unter dem Motto "Kunst des Lebens" führte und dabei gegenwartsbezogene Referate zu Themen wie globale Verantwortung, Klimaschutz und Wirtschaftsethik gehalten wurden. Der Dalai Lama legte erstaunlich weltoffen dar, daß Beten oder Meditieren im Kloster nicht ausreicht, sondern daß soziales Engagement im Alltag erforderlich ist.

Das buddhistische Hausblatt "Buddhismus aktuell" widmete der Heilung der Erde gar ein Schwerpunktthema (Heft 3/2009) und beklagte unsere naturmissachtende Lebens- und Wirtschaftweise. Jedenfalls steht fest, daß der Buddhismus das Meditationskissen verlassen hat und sich um soziale und politische Anliegen seiner Anhänger oder gar darüber hinaus aller Wesen dieser gemeinsamen Erde kümmert. Die Natur wird nicht mehr wie in früheren Zeiten als der zu bekämpfende Feind des Menschen angesehen, sondern ist vor seiner Gier zu schützen. Kurz - ein sich in hohem Maße sozial betätigender Buddhismus wird, möglicherweise dem christlichen Vorbild folgend, zunehmend gefordert und praktiziert.

Aber ist das überhaupt im Sinne seines Stifters, des Buddha Gautama? Zu fragen wäre letztlich auch, ob die Buddhisten im Bemühen um eine Heilung der Welt nicht ein allgemeinpolitisches Mandat erstreben und wo die Grenze zwischen Staat und Religion verläuft.


b) Keine kommunalistische Religion

Der Buddha Gautama war kein Sozialrevolutionär. Er akzeptierte die vorgefundene staatliche Ordnung und sah soziale Ungleichheit (Kastenwesen!) als das Ergebnis früherer Taten an, jeder hat sich seinen Stand karmisch verdient. Buddha lehrte die Menschen ausschließlich einenWeg aus dem als leidhaft empfundenen Dasein: "Nur dies verkünde ich früher wie heute: Das Leiden und des Leidens Aufhebung."(SN 22) Wenn dieser Weg dann zu einer in die Gemeinschaft ausstrahlenden positiven Geisteshaltung führte, so war diese erfreuliche Konsequenz zwar zu begrüßen, aber keineswegs beabsichtigt.

Der Buddha verkündete eine Heilslehre, die sich, wie alle Religionen, primär mit dem Schicksal nach dem Tode befasst. Nicht aber wirkte er in die Gesellschaft hinein, indem er ihr Handlungsmodelle vorsetzte. Insbesondere fehlen im Buddhismus Rituale bei den wichtigen Lebensabschnitten eines Menschen wie Geburt, Pubertät, Heirat und Tod. Der Indologe Richard Gombrich bezeichnet in Anlehnung an soziologischen Sprachgebrauch die mit einer Vielzahl von Normen in die Gesellschaft hineinwirkenden Religionen als "kommunalistisch". Das betrifft beispielsweise den Hinduismus ebenso wie den Islam mit dessen Vorstellung einer Identität von Staat und (islamischer) Religion. Genau daran war der Buddha nicht interessiert, sondern predigte reine Soteriologie, einen "religiösen Individualismus ohne spirituelle Vermittler".


c) Das Sutra von den vier Ständen

Im "Sutra von den vier Ständen" (Agganna-Sutra; D 27) belehrt der Buddha zwei ehemalige Brahmanen, die als Novizen seinem Orden beigetreten sind, und erteilt dem priesterlichen Standesdünkel eine Absage. Weil in allen vier Kasten gleichermaßen sowohl gute als auch schlechte Taten mit entsprechenden karmischen Folgen begangen würden, sei kein Stand der bessere Stand.

Wie der Indologe K. Meisig ausführt, ist der Kern des Sutras die Frage nach dem Verhältnis von Religion und Gesellschaft. Beide lassen sich vom Standpunkt der frühen buddhistischen Mönchsethik her nicht miteinander vereinbaren. Denn nur der weltflüchtige Mönch, der alle gesellschaftlichen Bindungen abgestreift hat, kann das Rad der Wiedergeburten für sich persönlich zum Stillstand bringen und sich dadurch aus dem Leiden erlösen. Das gilt auch für Angehörige der niederen Kasten, die somit nicht erst über viele Wiedergeburten in der gesellschaftlichen Hierarchie aufsteigen müssen.

Der Buddha lehrte also eine "gesellschaftsverneinende und von daher individualistische Erlösungsethik für jedermann" (K. Meisig). Nicht das Sammeln von gesellschaftlichem oder religiösem Verdienst mit der Folge des Erwerbs von gutem Karma, sondern die Vermeidung von jeglichem Karma war angesagt. Denn Karma, heilsames ebenso wie unheilsames, ist eine Bindung an den Wiedergeburtenkreislauf. Nirvana kann nur eintreten, wenn das Karma-Konto gelöscht ist.


2. Der Bodhisattva

Hilfsbereitschaft gegenüber notleidenden Mitwesen war traditionell nicht gerade Schwerpunkt der indischen Kultur (s. hierzu Aufsatz Kickstein S. 20). Doch die strenge Ausrichtung der frühen Buddhisten auf die eigene Erlösung wurde seit dem Entstehen des Mahayana-Buddhismus im 1.Jh.v.Chr. ein ständiger Kritikpunkt. Es erschien selbstsüchtig, wenn die Anhänger des frühen Buddhismus zwar Mitgefühl (karuna) für alle Wesen übten, sich aber dadurch nicht vom ausschließlichen Ziel des eigenen Heils (Nirvana) abbringen ließen. Herzlos und egoistisch sei es, so wurde gesagt, sich ins Nirvana zu verabschieden und die bedauernswerten Mitwesen im Geburtenkreislauf zurück zu lassen.

Mit dem Mahayana kam daher ein neues Leitbild auf, das des "Bodhisattva". Ein Bodhisattva ("Erleuchtungswesen") war nach altem Sprachgebrauch jeder auf dem Weg zur Erlösung Befindliche. Nun wurde der Begriff auf einen kurz vor dem Ziel befindlichen, uneigennützigen Heilssucher bezogen: Dieser könnte zwar schon das Heilsziel erreichen, verzichtet darauf jedoch freiwillig, um sich der Leidensbefreiung anderer zu widmen. Aus reinem Mitgefühl bleibt er als Nothelfer in derWelt und räumt den anderen Heilssuchern unheilsames Karma (die Folgen früherer schlechter Taten) aus dem Wege.

Anders als die Buddhas, die sich auf das Aufzeigen des Erlösungsweges beschränken, aber keine praktische Hilfe leisten, stehen die Bodhisattvas nun für tatkräftige Unterstützung zur Verfügung. Sie geben aus ihrem reichhaltigen Vorrat an Verdienst den Bedürftigen ab. Das widersprach freilich der alten Lehre, wonach das Karma höchstpersönlich wirkt und Verdienstübertragung (Pali: pattidana) durch Dritte nicht möglich ist. Der Populärbuddhismus hatte jedoch auch in den theravadischen Ländern den Brauch entwickelt, lieben Verstorbenen Verdienst (punna) nachzusenden. Dies gab den neuen mahayanischen Vorstellungen Raum: Bei aller Ablehnung der mahayanischen Neuerungen übernahmen die Anhänger des Hinayana (Theravada) doch gelegentlich stillschweigend Mahayanalehren, die sie als nützlich und akzeptabel empfanden. Verdienstübertragung und mitleidiges Tätigwerden gehörten dazu.

Der Altruismus der Bodhisattvas wurde somit allgemeines buddhistisches Leitbild und prägte das soziale Verantwortungsbewußtsein über die Anhänger des Mahayana hinaus auch für die Angehörigen anderer Lehrtraditionen. In heutiger Zeit mag die Konkurrenz zum die Nächstenliebe predigenden Christentum dazu beigetragen haben, daß die eingangs genannten, in die Gesellschaft hineinwirkenden buddhistischen Aktivitäten entwickelt wurden. Die alten Texte werden so ausgelegt, daß sich aus ihnen die Verbundenheit von Natur undWesen, ja gerade Buddha lehrte, ist die Welt ein ausschließlich dynamischer Vorgang, der auf Ursache undWirkung beruht. Menschen, Tiere und Pflanzen sind Teile dieses unpersönlichen evolutionären Prozesses. Diese Aussage gewinnt heute, wo - anders als zu Buddhas Lebzeiten - die Natur nicht als bedrohend, sondern als bedroht aufgefasst wird, besondere Bedeutung.

Es liegt auf der Hand, daß mit dieser Ausdehnung auf die Belange der Welt die Basis religiöser Tätigkeit verlassen und das Feld politischen Handelns betreten wird. Aber letztlich muß sich der Buddhismus, wie jede andere Religion auch, mit der Gesellschaft arrangieren und zu Fragen des weltlichen Lebens Stellung beziehen.


3. Die ethischen Grundlagen

a) Weg vom Opferkult

Die dogmatischen Grundlagen für ein das Leid der Welt bekämpfendes Tun finden sich in der buddhistischen Ethik. Diese entstand aus der vedischen Tradition mit ihrem Opferkult heraus. Die Opferrituale hatten sich zu komplizierten magischen Techniken entwickelt und wurden vom Buddha entschieden abgelehnt und umgedeutet: Statt blutiger Tieropfer ethische Verhaltensweisen wie Almosenspende, Klosterbau und Zuflucht zum Buddha. Freilich hat, so K. Meisig, Ethik im frühen Buddhismus keinen Wert an sich, sondern ist nur eine Vorleistung im Dienste des Heilserwerbs. Denn nicht um des NächstenWillen wird hier Liebe geübt, sondern wegen der Förderung des eigenen Heils. Allerdings hat der Buddha selber nach seiner Erleuchtung die zur Erlösung führende Lehre (dhamma) aus reinem Mitgefühl verkündet, war für ihn persönlich doch die Angelegenheit erledigt - ein klarer Altruismus.

Es sei auch angemerkt, daß das sittlich-vollkommene Leben allenfalls in die Welt der Götter führt, aber noch nicht zur Erlösung.

Natürlich ist der ethische Wandel der Mönche strenger geregelt als der der Laien. Für letztere gelten (nur) fünf grundsätzliche Verhaltensweisen, die "fünf Silas" (Pali "sila" = sittliches Verhalten). Ohne ihre Beachtung ist es unmöglich, den Buddhaweg mit Erfolg zu beschreiten.


b) Die Silas

Am Anfang des buddhistischen Sittengesetzes stehen also fünf Regeln, die universale Grundnormen sind, wie wir sie auch in anderen Religionen finden, die "Silas". Es handelt sich, wohlgemerkt, nicht um Ge- oder Verbote, sondern um (dringende) Empfehlungen, die keinerlei metaphysische Begründung oder außerweltliche Verankerung haben. Stattdessen ist die Vernunft gefordert: Der Verstand soll den sittlichen Lebenswandel kontrollieren. "Sittlichkeit und Vernunft sind die beiden Grundpfeiler, auf die das gesamte Gebäude der Religion des Buddhismus gegründet ist" (K. Meisig).

Die fünf Silas, die sowohl für Mönche als auch für Laien gelten, lauten:

1.) kein Lebewesen töten, 2.) nicht stehlen, 3.) keinen (insbesondere sexuell) unreinen Lebenswandel führen, 4.) nicht lügen und 5.) keine berauschenden Getränke zu sich nehmen. Dieser Negativkatalog wurde dann auf seine positiven Gegenstücke erweitert, also z.B. aus dem Tötungsverbot die Pflicht zu Hege und Pflege anderer Lebewesen, ja der ganzen Umwelt abgeleitet.

Für Mönche gelten zusätzlich fünf weitere Silas:

6.) nicht zur Unzeit (d.h. nach 12.00 Uhr) essen, 7.) nicht an Tanz- oder Musikaufführungen teilnehmen, 8.) keinen Blumenschmuck, Salben oder Parfüm gebrauchen, 9.) keine bequeme Lagerstatt benutzen und 10.) kein Gold oder Silber annehmen. Später wurde das Alltagsleben der Mönche in 227 und das der Nonnen gar in 311 Vorschriften penibel geregelt.


c) Die Brahmaviharas

Die (theravada-)buddhistischen Formen der Meditation (Bewachung der Sinnestore, Achtsamkeitsübungen und vierstufige Versenkung) sind grundsätzlich nach innen gerichtet, wirken auf den Meditierenden selbst und nützen nur ihm. Daneben gibt es aber eine Meditation, die nach außen gerichtet ist und ausstrahlen soll in die Gesellschaft. Sie wird nach dem Hindu-Gott Brahma als "Brahmavihara" (= Brahma-Verweilung, auch: göttliche Verweilung) bezeichnet, weil Brahma mit vier in alle Himmelsrichtungen schauenden Gesichtern dargestellt wird. Genau so soll der Meditierende seine heilsamen Stimmungen in die Weltgegenden schicken.

Das erste Objekt dieser Meditation ist die "liebende Güte" (metta). Der Meditierende begibt sich in Meditationshaltung und durchströmt mit einem Denken voller Güte nacheinander die vier Himmelsrichtungen sowie den Raum nach oben und unten. Anschließend strahlt er nacheinander Mitgefühl (karuna), Mitfreude (mudita) und Gleichmut (upekkha) auf die selbe Weise aus. - Ob diese Verfahrensweise (das gilt auch für Gebete!) unmittelbare Wirkung entfalten kann, sei dahingestellt. Zumindest nutzt sie dem Meditierer selber, was mittelbar positive Auswirkungen auf die Gesellschaft haben mag.

Für unsere Betrachtung wichtig sind die "liebende Güte" (metta) und das oben (Ziff. 2) schon erwähnte Mitgefühl (karuna). "Karuna" erstreckt sich über Menschen und Tiere hinaus bis in die Pflanzenwelt. Metta und Karuna sind die Anknüpfungspunkte für die altruistischen Tätigkeiten, insbesondere auf sozialem Gebiet. Denn mit ihnen geht der Heilssucher über die bloße Unterlassung unheilsamer Taten hinaus, gibt den negativ gefassten Verhaltensregeln also eine positive Interpretation. Sittlichkeit ist das, was ein anständiger Mensch sowieso nicht tut, sie verhindert schlechtes Karma.Wer jedoch gutes Karma erlangen will, muß darüber hinaus gehen. "Mitgefühl und Güte geben der buddhistischen Lehre die Lebenswärme, die sie den Strafgesetzen überlegen macht" (H.W. Schumann).


d) Vier Edle Wahrheiten

Die Lehre Buddhas ist eine ethische Lehre und es überrascht daher nicht, daß er in seinen fundamentalen "Vier Edlen Wahrheiten", die er in Benares seinen ersten Anhängern verkündete, hierauf einging. Die Vierte Edle Wahrheit vom Wege zur Leidensaufhebung, der "achtgliedrige Pfad", umfasst neben den Themenblöcken "Erkenntnis" (Glieder 1 und 2) und "Meditation" (Glieder 6 - 8) den Themenblock "Ethik" (Glieder 3 - 5). Dessen drei Regelungen betreffen

a) Rechte Rede (samma-vaca), also nicht lügen (4. Sila!), schmähen oder schwätzen,

b) Rechtes Verhalten (samma-kammanta), also eine die
Sittlichkeitsregeln beachtende Lebensweise führen und

c) Rechten Lebensunterhalt (samma-ajiva), also kein grausamer und anderen Wesen Schmerzen oder Nachteile bringender Broterwerb.

Unabdingbar für den Heilsweg ist also die Befolgung der "Silas".


4. Politisierung des Buddhismus?

a) Ein Reich wird buddhistisch

Spätestens unter Kaiser Ashoka (Regentschaft 268-239 v.Chr.) wurde der Buddhismus in Indien von einer Erlösungsbewegung zur Religion. Die Buddhisten hatten sich nun in derWelt eingerichtet, bauten Stupas und Klöster und nahmen am Gesellschaftsleben teil. Ashoka, der mit brutaler Gewalt ein Riesenreich erkämpft hatte, schwor der Gewalt ab und wünschte sich Frieden und ein harmonisches Zusammenleben der Menschen. Dazu schien ihm der Buddhismus das geeignete Instrument zu sein. Denn zum einen gefiel dem Herrscher seine antibrahmanische Haltung, hatte Ashoka doch innenpolitisch gegen diesen Stand zu kämpfen. Zum anderen hatte der Buddhismus die universelle Ethik und Weltoffenheit, die in seinem von vielen äußeren und inneren Gefahren bedrohten Reich benötigt wurden. Der Kaiser wurde daher zum Freund und Förderer der Buddhisten.

Ashokas politische Inanspruchnahme des Buddhismus hatte jedoch für die Entwicklung des Buddhismus erhebliche Folgen: "Auf der Grundlage der buddhistischen Laienethik", so der Religionswissenschaftler v. Brück, "veränderte sich der im Prinzip weltentsagende Glaube in eine potentiell weltgestaltende Ethik". Es entstand erstmals eine "buddhistische Soziallehre".


b) Aktives Handeln wird gefragt

Es würde zu weit führen, hier auf die unterschiedliche Entwicklung der buddhistischen Religion im südlichen (Theravada) und nördlichen (Mahayana) Buddhismus einzugehen. Im Laufe der Zeit wurde in allen buddhistischen Ländern der König als Bodhisattva oder Maitreya verehrt. Dies führte zum Beispiel in Tibet zur Identifikation des Dalai Lama mit dem Bodhisattva Avalokiteshvara ("Gottkönig"). Der König nahm daher bald eine religiös höhere Stellung ein als die Mönche und verlangte, daß diese eine Partnerschaft von Macht und Religion pflegen und sich aktiv in der Welt betätigen sollten.

Auch wies beispielsweise im alten China die Verehrung des Amitabha schon soziale Komponenten auf. Und in der wichtigsten Schule des japanischen Buddhismus, Jodo-Shinshu, wurde in der Bodhisattvamentalität der Ausdruck einer grundlegenden sozialen Idee gesehen. Denn meditative Ausstrahlung von "Liebender Güte" allein ist sicherlich erfreulich, kann aber keinen einzigen Hungernden satt machen.

Doch erst die durch Industrialisierung und Urbanisierung Anfang vorigen Jahrhunderts entstandenen Probleme führten in einigen Ländern zu buddhistischen Sozialbewegungen. Ein charakteristischer Zug im modernen Buddhismus etwa in Japan ist die Hinwendung zum Diesseits und zu Diesseitsaufgaben. Während der alte Buddhismus die Diesseitsaufgaben der Religion gering bewertete oder gar abstritt, wird seit einiger Zeit der Diesseitsvorteil, den der Buddhismus bringt, in den Vordergrund gestellt. Hier wie in allen anderen großen Religionen der Gegenwart wird die soziale Verpflichtung des Menschen stark betont.


c) Sozial engagierter Buddhismus

In Japan entwickelte sich die Vorstellung eines "buddhistischen Sozialismus". Erwähnt werden soll hier die nach dem II. Weltkrieg aus dem nationalistischen Nichiren-Buddhismus hervorgegangene neobuddhistische Laienbewegung "Soka-Gakkai", die sich dem Weltfrieden und gesellschaftspolitischen Aufgaben widmet. Auch in Thailand wurde nach Modellen für buddhistische Gesellschaften gesucht. Der Thailänder Buddhadasa erarbeitete eine religiös-utopische Soziallehre, die auf dem urbuddhistischen Axiom von der ursprünglichen Gleichheit aller Wesen basierte. Im Westen führte die Friedensbewegung vietnamesischer buddhistischer Mönche und amerikanischer Aktivisten, an der der bekannte vietnamesische Buddhist Thich Nhat Hanh maßgeblich beteiligt war, zu der Bewegung "Engagierter Buddhismus". Sie will sich auf der Basis buddhistischer Spiritualität der Friedensarbeit sowie ökologischen Themen widmen.

Der (amerikanische) Theravada-Mönch und Gelehrte Bhikkhu Bodhi fasst den Paradigmenwechsel im Buddhismus prägnant zusammen: "Der Dharma sollte heute nicht nur als Mittel zum inneren Erwachen dienen, sondern auch dazu, die Welt zu transformieren und soziale und ökonomische Strukturen umzugestalten, entsprechend den ethischen Prinzipien, die sich aus den Lehren des Buddha ergeben." Ethisches Verhalten und liebende Güte, so Bhikkhu Bodhi, bedeuteten heute, "für die Opfer sozialer, wirtschaftlicher und politischer Ungerechtigkeit aufzustehen." Es empfiehlt sich, den Akzent von bloßer Frömmigkeit mit dem Fernziel der "unio mystica" hin zum sozialen Handeln in aller Welt zu verschieben.

Damit schließen wir den Kreis zu den eingangs (1 a) genannten Aktivitäten. Zu Bewusstseinsschulung durch Meditation und Studium der Buddha-Lehre sind nun auch soziale Aufgaben und Mitarbeit in Politik und Ökonomie gekommen. Die Buddhisten haben ihre vornehme Zurückhaltung in weltlichen Fragen aufgegeben - auch ihnen steht schließlich das Wasser bis zum Halse. "Der Buddhismus ist damit weltweit in eine neue Phase seiner Entwicklung eingetreten" (v. Brück). Es ist ihm zu wünschen, daß er sich dabei nicht übernimmt.


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Quelle:
Der Mittlere Weg - majjhima-patipada
42. Jahrgang, Mai - August 2010/2554, Nr. 2, Seite 6-10
Herausgeber: Buddhistischer Bund Hannover e.V.
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E-mail: info@buddha-hannover.de
Internet: www.buddha-hannover.de

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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Mai 2010