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PRESSE/845: 10 mal 10 Sätze zur Buddhistischen Praxis (Buddhismus heute)


Buddhismus heute 47 - Sommer 2009
Das Diamantweg-Magazin der Karma-Kagyü-Linie

10 mal 10 Sätze zur Buddhistischen Praxis

Von Wolfgang Poier


Karma ist Gegenwart

Das Erklären von Ursache und Wirkung ist eines der wichtigsten Geschenke Buddhas an uns. Denn es bedeutet, dass wir volle Freiheit haben, unser Leben bewusst zu gestalten und uns in Richtung Befreiung und Erleuchtung zu entwickeln. Karma bedeutet nicht Schicksal, sondern - im Gegenteil - volle Selbstverantwortung. Längerfristig gesehen sind wir tatsächlich unseres Glückes Schmied. Und der Angelpunkt von Ursache und Wirkung ist die jeweilige Gegenwart. Gerade jetzt wird Karma reif und wir erleben die Resultate früherer Handlungen von Körper, Rede und Geist Gerade jetzt entscheiden wir, wie wir die gegenwärtigen Erfahrungen verarbeiten, sie wahrnehmen, interpretieren und bewerten, und mit unseren Gedanken und Gefühlen, Worten und Taten gestalten wir unsere Zukunft. Wir erleben Wirkungen und kreieren neue Ursachen zur gleichen Zeit. Alles ist daher möglich und unsere Freiheit unermesslich!


Meine Sinne sind klar und sie nehmen wahr

Die Welt der Erscheinungen, wie wir sie mit unseren Sinnen wahrnehmen können, wird im Buddhismus als Illusion angesehen. Dennoch gibt es eine Wahrnehmung dieser Welt, die frei von Täuschung ist. Üblicherweise verstellen unsere Deutungen und Bewertungen und die damit zusammenhängenden Störemotionen den unvoreingenommenen, direkten Blick auf die Dinge. Anstatt Erscheinungen als traumartig und grenzenlos zu erfahren, schreiben wir ihnen abgegrenzte, dauerhafte Wirklichkeit zu und stellen sie zu unserem Ich in Bezug. Aufgrund unserer Unwissenheit und unseres dualistischen Erfahrens stecken wir sie in eine von drei großen Schubladen mit einer der folgenden Aufschriften: angenehm - unangenehm - neutral. Daraus entstehen Störemotionen und negative Handlungen. Wenn wir die Ich-Anhaftung und alles, was damit zusammenhängt, überwinden, dann werden unsere Sinne klar und sie nehmen die Welt direkt wahr. Ohne hinzuzufügen oder wegzunehmen werden die Erscheinungen gesehen, wie sie wirklich sind, in ihrer natürlichen Schönheit und gleichzeitig in ihrer Einbettung in den leuchtenden und strahlenden Raum des Geistes. Dann wird, wie es Lama Ole Nydahl manchmal ausdrückt, "die äußere Welt zu einer Verlängerung der Sinne".


Das Ton-Gefäß des Ich darf zerbrechen

Manibhadra(1), eine Yogini, die als Hausfrau lebte, wurde mit einem Tongefäß zum Wasserholen an einen Bach geschickt. Eine Wurzel brachte sie zum Stolpern, der Tonkrug entglitt ihren Händen und zersprang. Dies setzte in ihr die Erfahrung von Erleuchtung frei. Ihre Anhaftung an die Illusion eines dauerhaften, substantiell wirklichen Ich war überwunden. Raum innen und außen verschmolzen in diesem Augenblick miteinander. Und so ist es im Grunde die ganze Zeit: Raum ist nicht Trennung, sondern Behälter, der alles miteinander verbindet. Dennoch halten wir an der Wirklichkeit des Ich fest und tun so, als wären wir ein Schiffbrüchiger auf hoher See, der nur mehr einen Schiffsbalken zum Festklammern hat. Tatsächlich verlieren wir aber gar nichts, wenn wir unsere Ich-Anhaftung loslassen. Im Gegenteil, wir gewinnen an Freiheit, Spontaneität, Mut, Kreativität, Offenheit, Liebe, Freude, Einsicht, Intuition und Weisheit.


Die Wellen sind der Ozean

Üblicherweise haften wir an unseren wellenartig im Geist erscheinenden Gedanken und Gefühlen. Wir halten sie für wirklich und sie bekommen damit isolierte Existenz. Unsere Gedanken und Gefühle sind aber immer Teil unseres Bewusstseins und Manifestationen des Geistes, sein freies Spiel können wir sie in dieser Weise - entspannt und offen - wie Wellen als Teil des Ozeans erfahren, haben wir zwei grundlegende Freiheiten erlangt: Erstens können wir dann Gedanken und Gefühle einfach vorbeiziehen lassen und diejenigen nützen, von denen wir uns die beste Wirkung, die meiste Kraft, die höchste Freude und die größtmögliche Liebe erwarten. Wir sind dann wie die Wellenreiter an den spannendsten Surfspots der Welt, die - mit ihren Boards in den Fluten wartend - die kleinen Wellen vorbeiziehen lassen und mit der großen Welle, die sie am weitesten bringt, auf ihre Bretter steigen. Zweitens, und das ist noch essentieller, werden wir aber früher oder später erkennen, dass jegliche Welle nur Wasser ist, genau wie der weite Ozean auch. Letzten Endes ist es völlig gleichgültig, ob es windstill und der Ozean glatt ist, die Wellen hoch oder klein sind und wie die einzelne Welle beschaffen ist. Durch diese höchste Sicht sind Gedanken und Gefühle schon in ihrem Entstehen in sich selbst befreit und werden zugleich-entstehende Weisheit, ein Ornament des Geistes. Das ist wohl der Zustand, den die Yogis und Yoginis über die Jahrtausende, in denen Buddhas Lehre praktiziert wird, in ihren spontanen Liedern der Einsicht besingen.


Wir sitzen zusammen, der Buddha und ich, bis nur der Buddha bleibt

In den Meditationen des Diamantwegs richten wir uns auf Buddhas als Formen von Licht und Energie aus. Diese Meditationsformen drücken die erleuchtete Natur unseres Geistes aus. Sie wirken wie ein Spiegel für die Qualitäten, die wir in uns tragen, aber noch nicht voll entdeckt haben. In manchen Meditationen vergegenwärtigen wir uns selbst als diese Buddhas, identifizieren uns mit ihnen. Mehr und mehr erfahren wir dann, dass unser Geist grundlegend alle Qualitäten besitzt und immer schon vollkommen war. Die Vorstellung eines kleinen, begrenzten Ichs lassen wir im Laufe des Übens gehen. Wenn wir den Weg zur Erleuchtung zu Ende gegangen sein werden, dann bleibt nur mehr die Erfahrung von uns selbst als Buddha. Das Ich hat dann seine Bedeutung als etwas Dauerhaft-Wirkliches verloren und ist zum ozeangleichen Raum des Geistes geworden, der von Buddha-Weisheit durchdrungen ist und Buddha-Aktivität in die Welt hinaus strahlt. Bis dahin trainieren wir, so wie der Buddha zu sein - in der Meditation wie im Alltag.


Meditation ist wahrer Urlaub

Nach einer langen Phase intensiver Arbeit gönnt man sich gerne einige Tage der Erholung, zum Beispiel an einem Strand am Mittelmeer. Die Sonne strahlt warm auf den Bauch, die Wellen des Meeres rauschen, der Himmel ist blau - und dennoch können wir uns möglicherweise nicht entspannen und uns auf die gegenwärtige Situation einlassen. Zu sehr ist unser Bewusstsein noch aus Gewohnheit mit Kleinigkeiten des Alltags befasst, die uns stören. Natürlich könnten es auch Eindrücke von der Außenwelt, wie die zu laute Musik aus dem Portable der Nachbarn sein, die uns die Freude am Augenblick verderben. Aber letztlich sind es immer wir selbst, die wir uns ärgern oder freuen oder entspannen. Dies wird uns in der Meditation bewusst. Denn bei der Meditation ist unser Bewusstsein in einer Situation, in der wir wirklich loslassen können und nichts mehr festzuhalten oder wegzuschieben brauchen. Dadurch wird der Geist klar, weit, offen und strahlend, freudvoll und kreativ. Nach einem "Bad in der Natur des Geistes" können wir uns in einer Weise erneuert und erfrischt fühlen, wie nach keiner anderen Situation in der Welt.


Die Sonne des Mitgefühls durchstrahlt den wolkenlosen blauen Himmel der Weisheit

Dieser Satz zeigt eine Situation an, in der sich die Wolkendecke unserer Konzepte und Emotionen aufgelöst hat. Über den Wolken ist ja an sich immer blauer Himmel und es scheint immer die Sonne. Es ist schon sehr nützlich, dies bloß zu wissen; doch selbst dazu ist man in dichten Alltagssituationen nicht immer in der Lage. Man vergisst es und diese befreiende Perspektive geht - zumindest kurzfristig - verloren. Man ist unter Stress, erlebt starke Emotionen, derer man sich kaum erwehren kann und man leidet am Leben. Wenn sich die Lage aber wieder ändert, die Meditation erfolgreich ist, und der Segen des Lamas erfahren wird, dann handelt es sich um mehr als bloßes Wissen: Dann kann die Erfahrung davon sogar tatsächlich gemacht werden. Und man fühlt sich befreit. Die Weite des Geistes wird erfahren, jenseits von Mitte und Grenze, jenseits aller Vorstellungen. Man spürt die Verbindung zu allen Lebewesen und die grenzenlose Liebe durchstrahlt alles, wie die Sonne den blauen wolkenlosen Himmel durchdringt.


In der leuchtenden Fläche des Spiegels zeigen sich alle Phänomene

Wenn wir die Erscheinungen für wirklich halten, lenken uns die Dinge, die wir wahrnehmen, ab. Und nicht nur das: Wir sind geradezu hin- und hergerissen - von Mögen und Nicht-Mögen, Wollen und Nicht-Wollen. Mit dieser Schlangenlinie von Begehren und Ablehnen, die sich durch unser Leben zieht, ist auch eine Art Sinuskurve verbunden, die, vertikal - in die Höhe und die Tiefe - in freudvolle und leidhafte Zustände reicht. Stellen wir uns vor, wir hätten alles das nicht, diese Unwissenheit, diese Anhaftung und die Abneigung. Und wir würden die Erscheinungen wie einen strahlenden Vollmond erleben, der sich in der glatten Oberfläche eines nächtlichen Weihers spiegelt. Vorhanden, weil erscheinend und als Licht wirksam, zugleich nicht vorhanden, weil letztlich nicht greifbar, einer magischen Spiegelung vergleichbar. Wenn der Erleber wichtiger wird als die Erlebnisse, dann lösen sich unsere Anhaftungen und Abneigungen von selbst im Raum des Geistes auf. Der Erleber ist unser Bewusstsein, strahlend, weit und offen, und von den Erlebnissen sind wir nicht getrennt. Volle Freiheit und höchste Intensität.


In allem halten wir die höchste Sicht und verhalten uns im täglichen Leben so sinnvoll wie möglich

In unserer Welt (der relativen Wirklichkeit) ist entscheidend, wie man sich verhält, was man sagt und denkt, sozusagen was man bewirkt und verwirklicht. Damit gestaltet man seine Welt mit und kann für sich selbst und die Menschen seiner Umwelt Glück und Freude verursachen. Wir haben dabei der größtmöglichen und langfristigen Nutzen für so viele Wesen wie möglich im Auge. Der Buddha rät hier zu Großzügigkeit in allen Belangen, sinnvollem positiven Handeln mit Körper, Rede und Geist, zu Geduld (sollten Hindernisse und Störemotionen auftauchen), zu freudvoller Energie (oder eben auch zu Fleiß und Disziplin, wenn es gerade nicht von selbst fließt oder ohnehin Spaß macht), zu Meditation, die zu einem ruhigen Geist führt, und zu Weisheit, die alle Erfahrungen befreiend und vollkommen macht. Erleben wir unsere Mitmenschen als sehr durchschnittlich oder gar als negativ oder dumm, dann fällt es mit Sicherheit schwerer, in einer positiven Weise zu wirken; wenn wir hingegen ihr Potential sehen, und uns auch unserer Qualitäten und unserer grundlegenden Erleuchtungsnatur bewusst sind, fällt es sicher leichter. Das ist mit höchster Sicht gemeint. Sinnvolles Handeln wird natürlich. Damit hegen wir zugleich im Garten unseres eigenen Bewusstseins die besten Pflanzen. Sie werden exzellente Früchte hervorbringen, die wir selbst genießen und mit anderen teilen könne, wenn sie reif sind.


Der Lama sitzt im Lotuspalast meines Herzens

Im Diamantweg-Buddhismus vergegenwärtigt man den Lama, auf Lotus und Mondscheibe sitzend, in der Mitte der eigenen Brust auf Herzenshöhe. Dadurch verankert man den Segen aus den Begegnungen mit dem Lama und die befreienden Erfahrungen aus der Meditation mit dem täglichen Leben. Während unsere westliche Kultur nach wie vor gerne das Gehirn als Zentrale unseres Lebens ansieht, nehmen Buddhisten ihr Erlebenszentrum in der Mitte ihrer Brust auf Herzenshöhe an. Das sammelt und gibt ein rundes Gefühl von Vollkommen-Sein. Stellt man sich den Lama im Herzen vor und öffnet sich seinem Segen, verbindet man sich mit dem Strom zeitloser Erleuchtung. Der Lama ist die Essenz der Zuflucht, das höchste Prinzip. Buddha und Lama sind untrennbar. Buddha, der Lama und wir sind untrennbar voneinander. Der Lama ist unser direkter Draht zur Erleuchtung.


Anmerkung:

(1) Manibhadra zählt zu den 84 Mahasiddhas. Diese großen Verwirklichten des alten Indien, Männer wie Frauen aus ganz unterschiedlichen Gesellschaftsschichten, verbanden auf einzigartige Weise ihre buddhistische Praxis mit ihrem Alltagsleben und sind daher wichtige Vorbilder für uns als Laien und Verwirklicher des Diamantwegs.


Wolfgang Poier
Buddhistischer Reiselehrer, lebt seit 1986 im Buddhistischen Zentrum Graz; arbeitet als Lehrer am Gymnasium und als Lehrbeauftragter an der Universität.
wolfgang.poier@aon.at


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Quelle:
Buddhismus heute 47, Sommer 2009, Seite 52-55
Herausgeber:
Buddhistischer Dachverband Diamantweg der Karma Kagyü
Linie e.V. (BDD) für Diamantweg-Buddhismus in Deutschland
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Juni 2010