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PRESSE/871: Dukkha vertikal betrachtet (Buddhistische Monatsblätter)


Buddhistische Monatsblätter Nr. 3/2010, September - Dezember
Vierteljahreszeitschrift der Buddhistischen Gesellschaft Hamburg e.V.

"Dukkha" vertikal betrachtet

Von Dr. Marianne Wachs


Gerade im Theravda-Buddhismus ist es üblich, Texte und Begriffe unter traditionellen, dem 19. Jahrhundert entstammenden geisteswissenschaftlichen Gesichtspunkten und unter Anwendung traditioneller, ebenfalls dem 19. Jahrhundert entstammender (geistes-)wissenschaftlicher Kriterien und Methoden zu betrachten(1). Dabei wird jedoch nicht zur Kenntnis genommen, dass sich die Geisteswissenschaft weiter entwickelt hat und dass das, was in methodischer, aber auch inhaltlicher Sicht unhinterfragt übernommen wurde, seit mindestens dreißig Jahren problematisiert wird, sowie, dass man seit dieser Zeit zu einer neuen Sichtweise gekommen ist, welche neue Fragen und Ergebnisse gezeitigt hat. Mein Aufsatz soll dazu dienen, den Buddhismus der neuen Sichtweise - oder besser den neuen Sichtweisen - zu öffnen und ihm auf diese Weise einen erweiterten Raum zu geben, in dem sich frische und überraschende Einsichten entwickeln können.

In Nordeuropa hat sich, anders als in den romanischen Ländern, historisch eine Sichtweise entwickelt, welche man als "horizontal" bezeichnet. Texte, Begriffe u. ä. werden dem Inhalt nach betrachtet und analysiert, wobei man fast völlig vergisst, dass es auch noch eine weitere Ebene gibt - die Ebene der Form. Im Theravda-Buddhismus wird so getan, als hätte der Buddha, wie er in den Lehrreden erscheint, jegliche Beschäftigung mit der Form abgelehnt. Dabei verkennt man freilich, dass er nur eine übertriebene, manieristische Beschäftigung mit der Form, welche den Inhalt hintanstellt und sich um eine bewusste Ästhetisierung bemüht, abgelehnt hat.

Bei jedem Text gehen jedoch Form und Inhalt ineinander über; das Eine ergibt sich aus dem Anderen, das Andere aus dem Einen, wie es der um die "Bedingte Entstehung" zentrierten Argumentation des Buddhismus entspricht. Diese wird im Pali-Kanon häufig zu einer einzigen Kurzformel zusammengefasst, welche später im Mahayana übernommen wurde: Wenn dieses ist, ist jenes, durch das Entstehen von diesem entsteht jenes. Wenn dieses nicht ist, ist jenes nicht; durch die Aufhebung von diesem verschwindet jenes. Wenn es also Form gibt, gibt es auch Inhalt und wenn es keine Form gibt, gibt es keinen Inhalt. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, über den Inhalt nicht die Form zu vergessen.

Eine Konzentration auf die Form hat sich in den romanischen Ländern mindestens seit dem 16. Jahrhundert entwickelt. Man bezeichnet sie als "vertikal". In der romanischen Philosophie und Literaturwissenschaft der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts hat man nun gezeigt, dass eine vertikale Betrachtung von Texten ebenfalls zu inhaltlichen Aussagen führen kann, dass sie ebenfalls hermeneutisch genutzt werden kann. Wenn man von der Form ausgeht, führt dies zu erstaunlichen Resultaten und die Texte werden in einer neuen Weise erhellt.

In Frankreich gab es einen Denker, der auf der Grundlage dieser Sichtweise noch weiter ging. Dies war Michel Foucault (1926-1984), der aus jedem Rahmen heraus fiel und eigentlich auch nicht als Philosoph bezeichnet werden kann. Er war weder Strukturalist, noch Poststrukturalist, noch Dekonstruktivist, noch sonst etwas. Sein geniales Denken benutzte die "vertikale" Sichtweise, ging aber weit darüber hinaus. Wenn man seine Werke studiert, dann stellt man mit Erstaunen fest, dass sein Denken "flüssig" und zumindest ab seinen mittleren Jahren "kristallklar objektiv" war. Beides entspricht in erstaunlicher Weise dem, was sich im Theravda-Buddhismus ergibt, wenn die drei Daseinsmerkmale anicca, dukkha und anatta zutiefst verstanden wurden(2). Natürlich hat dies zu vielen Missverständnissen geführt. Die Menschen wollen etwas ergreifen, und wenn da jemand ist, bei dem man keine Begriffe ergreifen kann(3) , da jeder Begriff nur ein vorläufiger ist, dessen Bedeutungsinhalt sich mit dem Fortschreiten des Denkens entwickelt und verändert, da also keinem Begriff ein letztgültiger Bedeutungsinhalt zugeordnet werden kann, dann verunsichert dies die LeserInnen tief.

Es verunsichert vielleicht noch mehr, wenn da jemand ist, der einen Sachverhalt einfach nur darstellt, ohne schon mit der Wortwahl seine eigene Meinung dazu auszudrücken! Dies wurde Foucault als "antihumanistisch" angekreidet. Man hat z.B. nicht verstanden, dass er sich in einer Vorlesungsreihe mit dem Liberalismus beschäftigt hat, und man meinte, er wäre nun plötzlich ein Liberaler geworden. Das ist von der Wahrheit himmelweit entfernt: Er hat sich nur damit beschäftigt und war weder dafür noch dagegen! Beim Lesen von Foucault lässt sich in aller Deutlichkeit verstehen, wie häufig man allein durch die Wortwahl immer zugleich die eigene Meinung ausdrückt: z.B. durch die Verwendung herabsetzender Begriffe und durch das implizite Beharren auf einer bestimmten Anschauungsweise. Man verstößt in der sprachlichen Ausdrucksweise fortwährend gegen das, was im Satipatthana-Sutta mit den verschiedenen vorgestellten Methoden eingeübt werden soll: die Objektivität, die von jeder vorgefassten Ansicht abstrahieren kann. Eine solche Objektivität ist weder Unmenschlichkeit noch Sentimentalität.

Wie soll das aber gehen: Begriffe nicht zu ergreifen? Auch das lehrt Foucault. Es gelingt, wenn man sie nur versuchsweise aufnimmt, ihren Bedeutungsinhalt in einem bestimmten Kontext, unter einer gewählten Perspektive akzeptiert und schaut, wie weit man mit diesem Bedeutungsinhalt kommt. So entwickelt sich ein Gedankengang, an dessen Ende der Begriff entweder aufgegeben wird oder sich sein Bedeutungsinhalt verändert hat! Nicht viele Wissenschaftler waren fähig, diese Vorgehensweise ebenfalls anzuwenden - der Mensch ergreift zu gerne. Entweder sie zogen sich auf die alten festen Begriffe zurück, die implizit als Universalien aufgefasst wurden - Begriffe wie "Wahrheit", aber auch der "Geist der Geschichte" u.ä. - oder aber sie gaben sich einem völligen Relativismus hin. Letzteres trifft z.B. auf Jacques Derrida (1930 - 2004) zu, der frappierend an einen der im Pali-Kanon abgelehnten "Aalwinder" erinnert. Interessanterweise verwendet er genau die Form der Logik, die nach den Aussagen des Pali-Kanons von den "Aalwindern", den sog. Carvakas, die von ihrem rhetorischen Geschick lebten, benutzt wurde. Dies ist eine viergliedrige Logik, die mit "Ist", "Ist-Nicht", "Weder-Ist-Noch-Ist-Nicht" und "Sowohl-Ist-Als-Auch-Ist-Nicht" arbeitet. Derrida kann jede Meinung vertreten, springt von einer zur anderen und verwirrt absichtlich, um zu zeigen, dass alles relativ ist. Das ist auch der Grund, warum heute in den USA die künftigen Rechtsanwälte Derrida und dessen Methode studieren müssen: Um ihre Mandanten verteidigen zu können, müssen die Rechtsanwälte nach amerikanischem Brauch fähig sein, jede beliebige Position mit der gleichen Überzeugung zu vertreten, denn es wird davon ausgegangen, dass es keine allgemeingültige Wahrheit gibt - und natürlich auch keine Gerechtigkeit(4).

Dies möge als Vorrede reichen. Nun soll an dem Wort dukkha, das, wie wir noch sehen werden, im Deutschen - nur zu einem Teil gerechtfertigt - mit "Leiden" übersetzt wird, und einer seiner Erklärungen im Pali-Kanon demonstriert werden, welche Erkenntnisse sich aus einer vertikalen Betrachtungsweise ergeben. Ich werde dazu den in den Lehrreden immer wiederkehrenden stereotypen Text heranziehen:

Was aber, ihr Mönche, ist die edle Wahrheit vom Leiden? Geburt ist Leiden, Altern ist Leiden, Krankheit ist Leiden, Sterben ist Leiden, Kummer, Jammer, Schmerz, Trübsal und Verzweiflung sind Leiden; das Nichterlangen dessen, was man begehrt, ist Leiden; kurz gesagt: die fünf mit Anhaften verbundenen Gruppen des Daseins sind Leiden.
(5)

Warum gerade diesen Text? Er ist eine Übersetzung aus dem Pali, die aus dem Kontext Nyanatiloka / Nyanaponika stammt, er ist nur eine von einer Menge Aussagen über dukkha, die in dem Gesamtkorpus des Pali-Kanons zu finden sind. Was rechtfertigt, gerade diesen einen bestimmten, noch dazu nicht "originalen", sondern ins Deutsche übertragenen Text zu nehmen? Die Antwort, welche die moderne Geisteswissenschaft darauf gibt, mag viele verblüffen: Eine Rechtfertigung ist unnötig. Texte sind, wenn man den Aussagen zur Intertextualität der bulgarisch-französischen Psychoanalytikerin und Kultur- und Literaturwissenschaftlerin Julia Kristeva folgt, immer ein Mosaik von Zitaten, Absorption und Transformation eines anderen Textes. Sie sind keine selbstgenügsamen Gebilde, sondern sind ein Kreuzungspunkt anderer Texte. Sie geben für deren Umstellung und Umwandlung (Permutation und Transformation) unter dem Einfluss von ideologischen Voraussetzungen den Schauplatz ab. Sie sind offen für Interpretationen und nie stabil und fest umrissen. Keine ihrer Deutungen aber kann Endgültigkeit beanspruchen. Jede Deutung ist nur ein weiterer Kommentar - das, was bei Foucault das "Schäumen des Geistes" heißt. Es gibt kein "besser" oder "schlechter" von Texten, kein "heiliger" oder "weltlicher" - und deshalb kann auch eine bestimmte Aussage über dukkha in einer bestimmten deutschen Übertragung genommen werden, ohne dass man sich dafür rechtfertigen muss. Allerdings sollte man beachten, dass sie im Gesamtkorpus, dem sie entnommen ist, keine Ausnahmestellung innehat, da sonst die Aussagen dazu auch "Ausnahme-Aussagen" sind und ihnen nicht wenigstens eine gewisse Allgemeingültigkeit zugesprochen werden kann. Und dies wurde bei dem hier zur Besprechung ausgewählten Text berücksichtigt.

Betrachten wir zuerst die Reihenfolge, in welcher das, was unter dukkha subsumiert ist, erscheint. Es beginnt in dieser Formel mit der Geburt und d.h. mit dem unmittelbaren Anfang des Lebens. Danach wird aber sofort das Altern angegeben. Dies bedeutet nicht, dass der gesamte Verlauf des Lebens bis zum Alter hin unterschlagen wird. Wenn man die Reihenfolge "beim Wort" nimmt, bedeutet sie eigentlich, dass der Prozess des Alterns mit der Geburt beginnt! Allerdings wird meist nicht so genau zugehört oder gelesen, und das unachtsame Bewusstsein nimmt an dieser Stelle "Alter" und nicht "Altern" auf. Damit wird für das nicht mit der nötigen Konzentration und Genauigkeit vorgehende Bewusstsein beim Zuhören oder Lesen der Verlauf des Lebens doch unterschlagen. Es geht hier nur um einen Buchstaben, nämlich das "n", das im Deutschen wahrgenommen oder ausgelassen wird. Dieser eine Buchstabe ist jedoch entscheidend, denn er führt dazu, dass ein ganzer organischer Verlauf angegeben wird - und nicht ein singuläres Ereignis oder ein Teil eines Prozesses. Die Krankheit wird nach dem Altern genannt, weil eben das Altern mit der Geburt einsetzt und deshalb auch von Geburt an die Möglichkeit der Krankheit besteht und diese immer wieder aus der Potentialität in die Realität geholt wird.

Mit "Altern" und "Krankheit" ist der gesamte Lebensverlauf unter das Stichwort dukkha gestellt, denn danach folgt gleich das Sterben. Hier scheint wieder die Notwendigkeit auf, dass "Altern" nicht mit dem "Alter" gleichgesetzt werden darf, denn das Sterben kann schon in sehr jungen Jahren eintreten. Man sollte darauf achten, dass an dieser Stelle nicht der Tod erwähnt wird. Dies steht mit dem Kern der Lehre des Buddha in Einklang, denn in der Lehre wird immer wieder darauf hingewiesen, dass mit dem Tod die fünf Erfahrungsbereiche des Menschen auseinander fallen und zu funktionieren aufhören. Die fünf Erfahrungsbereiche sind aber mit dukkha fest verbunden, und deswegen kann der Tod als das, was auf das Sterben folgt, selbst nicht mit dukkha verbunden sein. Der Grund dafür ist, dass mit dem Tod auch das Bewusstsein als einer der Daseinsbereiche "auseinander fällt". Von daher ist die Voraussetzung für das Empfinden von dukkha nicht mehr gegeben. Später wurde im Abhidhamma ein sog. "bhavanga" konstruiert, eine Art "unbewusster Daseinsstrom", um den Prozess der Wiedergeburt erklären zu können, aber selbst dieses Konstrukt(5) legt Wert darauf, dass das "bhavanga" unbewusst abläuft und damit nichts mit dem Bewusstsein zu tun hat! Aus dem eben Gesagten ergibt sich, dass in dieser Formel gleich am Beginn der gesamte Lebensverlauf vom Anfang bis zu seinem Ende unter die Herrschaft des Leidens gesetzt wird.

Danach folgen in der Aufzählung Begriffe, die für uns dukkha näher erläutern: "Kummer, Jammer, Schmerz, Trübsal und Verzweiflung". Diese Begriffe entstammen alle dem Bereich der Empfindung. Sie scheinen unauflöslich damit verbunden. Innerhalb dieses Empfindungsbereiches sind sie in großer Nähe zueinander angesiedelt. Dies bedeutet aber nicht, dass sie in eins gesetzt werden können. Wenn man genauer hinschaut, dann drücken sie jeweils etwas Spezifisches aus. Kummer ist ein allgemeiner Begriff, der mit einem Objekt verbunden ist (man empfindet immer Kummer über etwas und nicht Kummer allein) und sich eher still äußert. Jammer dagegen äußert sich laut, wobei sich das "laut" nicht nur auf eine sprachliche Dimension beziehen kann. Jammer kann sich auch auf das Sichtbare beziehen: Er kann beispielsweise an einem pathetischen oder verzerrten Gesichtsausdruck ersichtlich werden. Also: die erste Erläuterung geht auf das Innerliche, die zweite auf das Äußerliche. Schmerz wiederum ist innerlich und äußerlich: Er wird innerlich empfunden und äußerlich ausgedrückt. Trübsal dagegen ist eine im Inneren beheimatete Empfindung, die mehr als die Verzweiflung die Tendenz hat, im Inneren zu bleiben. Die Verzweiflung dagegen ist auch im Inneren beheimatet, hat aber die Tendenz, sich nach außen zu wenden. Sie wird im Äußeren sichtbar, entweder an einem bestimmten Gesichtsausdruck oder an bestimmten Worten oder bestimmten Handlungen.

Resümieren wir noch einmal: Die Begriffe, die dukkha näher erläutern, sind alle im Raum der Empfindung angesiedelt. Es beginnt mit einem objektgebundenen Terminus, der mehr im Inneren bleibt. Es folgt einer, der ins Äußere gerichtet ist. Der dritte wird innerlich empfunden und äußerlich ausgedrückt. Der vierte ist im Inneren beheimatet, so wie der letzte, hat aber eine stärkere Tendenz, im Inneren zu bleiben. Wir sehen: Bei den zur Erklärung verwendeten Begriffen findet ein Spiel zwischen Innen und Außen statt, das aber trotzdem in dem Raum der Empfindung bleibt.

Nun folgt in der Formel das, was man als eigentliche Erklärung von dukkha verstehen kann: "das Nichterlangen dessen, was man begehrt, ist Leiden". Diese Definition ist elementar dualistisch aufgebaut. Auf der einen Seite steht das Nichterlangen als Negativum, auf der anderen das erwünschte Erlangen als die Befriedigung des Begehrens, die erst einmal für positiv gehalten wird. Dieses Erlangen ist jedoch dem Bereich der Realität entrückt. Daraus ergibt sich eine Reduktion auf das Nichterlangen. Es bleibt ein Begehren, welches immer wieder ins Leere läuft, an eine Mauer stößt, durch die es nicht hindurch kommt. Daraus ergibt sich das Leiden. Der Dualismus erweist sich also bei genauerer Betrachtung nicht als Dualismus und auch nicht als dialektisch überwindbar, denn in der Realität handelt es sich nicht um etwas Positives und etwas Negatives, welche beide in einer Synthese aufgehoben und zugleich auf eine höhere Ebene gehoben werden. Es geht nicht um Dialektik - und dies ist ebenfalls eine Erkenntnis, die sich in den Geisteswissenschaften seit den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts verbreitet hat. Dialektik ist - egal, was der dialektische Materialismus gesagt hat - nicht das Gesetz, welches in der Erfahrungswirklichkeit regiert. Was dort regiert, das ist das Nicht-, das Un-, aus dem sich dukkha ergibt. Dies bedeutet jedoch nicht, dass dieses dukkha nicht überwunden werden kann, denn die Realität, wie sie der gewöhnliche Geist erfährt, ändert sich, wenn der Geist sich entwickelt, und zwar in eine Richtung, die vom Begehren wegführt.

Um es zu resümieren: In der Formel, welche die eigentliche Erklärung von dukkha abgibt, findet ein subtiles Spiel mit dem Negativen statt, wobei dieses Negative nicht - wie in der Dialektik - in einer spiralförmig aufwärts gerichteten Bewegung aufgehoben wird, sondern negativ bleibt. Aus dem Verständnis ergibt sich die Notwendigkeit, das Begehren, welches immer wieder auf das Negative stößt und deswegen letztendlich nicht endgültig befriedigt und in der Befriedigung zum Verschwinden gebracht werden kann, zu überwinden.

In dem Zitat folgt eine Zusammenfassung, die aber dennoch auf Neues, bisher nicht Genanntes Bezug nimmt: "kurz: die 5 mit Anhaften verbundenen Gruppen des Daseins sind Leiden". Diese Zusammenfassung ist erst einmal so, wie sie in der Formel auftaucht, nicht verständlich. Es bedarf der Vorkenntnisse und es bedarf der Schlussfolgerungen. Die Vorkenntnisse beziehen sich auf die "5 mit Anhaften verbundenen Gruppen des Daseins"(6). Die HörerInnen oder LeserInnen müssen wissen, was die hiermit gemeinten Bereiche der erlebten Wirklichkeit sind. Sie müssen dreierlei in ihrem Repertoire haben: Sie müssen sie aufzählen können, sie müssen sie im Einzelnen definieren können und sie müssen wissen, wie sie in der erlebten Wirklichkeit zusammenwirken.

Die Schlussfolgerungen erweisen sich nicht als bloße Schlussfolgerungen, sondern enthalten eine verdeckte Forderung: Die HörerInnen oder LeserInnen sollen das Wissen um dukkha mit dem Wissen um diese Bereiche, die bei allen Lebewesen, außer bei den Buddhas, upadana - also mit Anhaften verknüpft - sind, verbinden und daraus ableiten, dass zur Vermeidung von dukkha nicht die fünf Bereiche allgemein, sondern die fünf mit Anhaften verbundenen Bereiche der erlebten Wirklichkeit aufzugeben sind. Dies ist äußerst wichtig, da es sonst zum Fehlschluss kommen kann, dass ein Freitod, bei dem sie insgesamt aufgegeben werden, zum Entfliehen aus dukkha angebracht wäre. Bei einem Freitod nicht erwachter Menschen wird jedoch nicht das Anhaften aufgegeben und er ist fast unausweichlich mit Aversion (Selbstaggression, Zorn u.ä.) verbunden. Darum ist das Verständnis, dass die fünf Bereiche, khandhas genannt, nicht zu dukkha führen müssen, sondern nur dann, wenn sie mit Anhaften einhergehen, so bedeutsam.

Es hat sich also gezeigt, dass eine äußerlich so täuschend einfach erscheinende Formel dann, wenn man sie vertikal betrachtet - und das heißt in diesem Fall, dass man das Auftreten ihrer Glieder, die Richtungen, die sie implizieren, und das, was notwendig, aber verdeckt zu ihnen gehört, betrachtet, - eine ganz eigene Dynamik verrät. Es geht dabei um das implizite Einbeziehen des gesamten Lebensverlaufes von Anfang bis Ende, es geht um ein Spiel mit Innen und Außen, es geht um etwas Negatives, welches nicht positiv umgedeutet oder in einer Synthese aufgehoben werden kann, und es geht um Voraussetzungen und Schlussfolgerungen, welche die Formel einrahmen und durchdringen.

Und da ist noch etwas. Man könnte nun argumentieren, dass es in der Formel doch etwas Festes gibt - nämlich die Begriffe von dukkha, von Kummer, Verzweiflung, Nichterlangen usw. Doch stimmt dies wirklich? Schauen wir uns einmal dukkha näher an. Wir übersetzen den Begriff mit "Leiden", egal, wie unzulänglich diese Übersetzung auf den ersten Blick erscheinen mag und zu wie vielen falschen Schlussfolgerungen sie führt(7). Wir übersetzen ihn nicht mit "Unzulänglichkeit", wie es im westlichen Buddhismus häufig getan wird. Dr. Peter Gäng hat mich darauf hingewiesen, dass eine Übersetzung mit "Unzulänglichkeit" unangemessen ist und dass dahinter eine Ablehnung und Wegdeutelei des Leidens steht. Ich folge ihm hierbei gern und bin dankbar für den Hinweis.

Bei "Leiden" haben wir es mit einem Begriff zu tun, also mit etwas, das buddhistisch zu den geistigen Phänomenen gehört. Diese Phänomene stehen nicht für sich allein, sondern hängen mit der gesamten erlebten Wirklichkeit zusammen. Das ist bei "Leiden" besonders deutlich, denn darunter werden eine Vielzahl von rein geistigen und auch körperlich verursachten Gefühlen verstanden. "Leiden" bezieht sich also primär auf die Gefühlsgruppe (vedanakkhandha). Interessant wird es aber nun, wenn man fragt, ob das Leiden heutzutage noch genau so wie zu Buddhas Zeiten empfunden wird! Die Antwort darauf ist ein entschiedenes Nein. Dies ergibt sich daraus, dass man inzwischen erkannt hat, dass auch bei der Empfindung, nicht nur bei den Gedankeninhalten, eine kulturelle Deutung einbezogen ist. Es gibt keine "reine" Empfindung, sondern wir Menschen interpretieren sie gleichzeitig und können gar nicht anders, als sie zu interpretieren. Wir interpretieren das Leiden wie zu Buddhas Zeiten als negativ und nicht wünschenswert, daran hat sich nichts geändert und darum treffen die Grundaussagen des Buddhismus auch heute noch zu. Aber unsere Kultur sieht und empfindet Leiden in einer anderen Form, als sie die Kultur zu Buddhas Zeit gesehen und empfunden hat.(8)

Wenn wir im Westen von "Leiden" sprechen, dann beziehen wir uns kulturell determiniert auf etwas viel Pathetischeres, etwas viel Dramatischeres als die Menschen zu Buddhas Zeit. Skizzieren wir kurz eine Geschichte, die unser westliches, kulturell gebundenes Verständnis von "Leiden" illustriert: Ein englischer Adliger hat zwei Söhne, einen ehelichen und einen unehelichen. Der uneheliche will nicht immer ins Hintertreffen geraten und denunziert den ehelichen Sohn bei dem gemeinsamen Vater: Er behauptet, sein Halbbruder hätte die Absicht geäußert, den Vater zu ermorden, um früher an das Erbe zu kommen. Der Vater verstößt den ehelichen Sohn, welcher nun vorgibt, wahnsinnig zu sein und in der Natur fast nackt, ausgesetzt den feindlichen Elementen, umherirrt. Der uneheliche Sohn, der vom Vater zum einzigen Erben erklärt wird, geht an den Adelshof und bringt es durch Intrigen so weit, dass der Vater des Verrates angeklagt und geblendet wird. Der blinde Vater irrt umher und bittet einen armen - anscheinend - Wahnsinnigen, ihn zu den Klippen von Dover zu bringen, damit er sich von ihnen stürzen kann. Er weiß nicht, dass sein Helfer der eheliche Sohn ist, der nur vorgibt, den Vater zu den Klippen zu bringen und ihn in Wirklichkeit auf einen flachen Hügel führt. Der Vater stürzt sich von ihm hinunter und verletzt sich nicht, was sein Kind als ein Wunder erklärt. Auf diese Weise gelingt es ihm, den Vater aus der völligen Verzweiflung zu reißen.

Ich hoffe doch, dass alle LeserInnen die Geschichte wiedererkannt haben - es ist die in Shakespeares Lear geschilderte Parallelhandlung um den Earl of Gloucester und seine Söhne Edgar und Edmund. Daran zeigt sich eklatant unser von der Antike her nachweisbares Verständnis von Leiden: Leiden, das ist für uns mehr unbewusst als bewusst ein äußerst tragisches Geschehen, dem eine nachdrückliche Ausweglosigkeit zu eigen ist. Diese Ansicht haben wir mit unserer Kultur aufgesogen, sie durchtränkt unser Verständnis der Begriffe. Sie ist pathetisch, sie ist tragisch - und häufig mit einer Geste der Großartigkeit verbunden.

Häufig wird von dukkha in der Pali-Form behauptet, dass es etwas bezeichnet, was "nicht ganz rund läuft". Dies ist, wie mir der Indologe Dr. Peter Gäng klar gemacht hat, falsch: Die Etymologie "läuft nicht ganz rund" stammt nach seinen Worten aus dem Veda. Der Begriff kommt dort ein einziges Mal vor und weicht von der späteren Semantik ungefähr so weit ab, wie bei uns die Semantik von "allein" (was ursprünglich "mit allem eins" bedeutete). Im Sprachgebrauch schon in den Epen, aber auch im Pali und klassischen Sanskrit bis hin zu den modernen indischen Sprachen, ist das Paar "dukkha - sukha" äquivalent zu unserem "Unglück - Glück". Kha ist "der Bereich, Raum", dus und su ("schlecht, verkehrt" und "gut, richtig") sind sprachlich verwandt mit griechisch dys und eu.

"Dukkha" besitzt im Buddhismus nicht von vornherein eine pathetische, eine tragische Konnotation, denn es kann überwunden werden. Damit ist der Begriff nicht wie der äquivalente für die Menschen im Westen, ob sie sich dessen bewusst sind oder nicht, mit einer ausgesprochenen Tragik verbunden, und es geht in die Irre, wenn die nicht-buddhistische westliche Öffentlichkeit dann, wenn im Buddhismus von Leiden gesprochen wird, sofort etwas ganz dezidiert Auswegloses und "Herunterziehendes" assoziiert. Trotzdem bleiben für den westlichen Menschen die tragischen Konnotationen des Begriffes "Leiden" auf der affektiven Ebene bestehen. Sie können zwar verstandesmäßig erhellt werden, aber auf die Gefühle bezogen nützt es nichts, wenn wir uns unsere kulturellen Wurzeln deutlich machen: die entsprechenden Gefühle bleiben für lange Zeit, wenn nicht für das ganze Leben bestehen. Zusätzlich muss man bedenken, dass die den Begriffen und deren Bedeutung zu Grunde liegende Ordnung, ihre Archäologie, für die westlichen Menschen, wie es Foucault nachgewiesen hat, nicht bis ins letzte Detail zu verstehen und zu überwinden ist, solange sich der Westen mitten in ihr befindet - und damit fällt die Möglichkeit der grundlegenden bewusstseinsmäßigen Erhellung weg. Erst wenn eine Art der Ordnung zu Ende geht und sich der Umbruch zu einer nächsten ankündigt, kann eine gehobene Perspektive eingenommen werden, von der aus die Umrisse der alten Ordnung erscheinen und beschreibbar werden.

Man muss zusätzlich bedenken, dass ein bestimmtes und umfassendes kulturelles Verständnis in erster Linie im Unbewussten verankert ist und dass deswegen ein einfaches, einmaliges Bewusstwerden nicht genügt. Vielmehr muss ein unausgesetztes Bewusstwerden erfolgen, immer im Vergleich mit Texten, mit Begriffen, die einer anderen Kultur entstammen. Dies bedeutet aber nicht, dass man versuchen muss, sich der anderen Kultur zu assimilieren - es würde sowieso nicht gelingen. Aber Texte, die einer anderen Kultur entstammen, verwandeln die LeserInnen und HörerInnen auch und dies bedeutet z.B., dass man im Laufe der Zeit so mit Buddhismus "durchtränkt" wird - besonders, wenn die eigene Erfahrung hinzukommt! -, dass bestimmte kulturelle Determinanten schwächer werden können.

Kehren wir zum letzten Mal zurück zu dem westlichen Verständnis von dukkha. Wir haben gesehen, dass "Leiden" bei uns eine elementar andere Färbung hat als im alten Indien und man dies gar nicht ändern kann. Der Buddhismus zeichnet sich nun aber einerseits durch eine ungeheure Assimilationskraft aus, andererseits führt er bei rechtem Bemühen die Menschen zu einer zunehmenden Klarheit und Unaufgeregtheit. Diese wirken sich wiederum auf das Verständnis der westlichen BuddhistInnen - wenn sie denn diesen Namen verdienen - aus, sodass es eine Chance gibt, dass sie als Praktizierende doch immer besser einsehen, dass es beim Leiden nicht um ein auswegloses Faktum geht. Es geht vielmehr um die Tatsache, dass jeder Mensch durch sein Anhaften, durch sein Gefangensein in Aversion und Attraktion, geringeren und stärkeren Qualen ausgesetzt ist, da er das Angenehme nie festhalten und das Unangenehme nie bloß durch seinen Willen loswerden kann. Um noch einmal Dr. Peter Gäng zu zitieren: Es geht "schlicht darum, dass wir das Leben, so, wie es eben ist, akzeptieren und nicht daran kleben bleiben, anhaften, alles das, was unser Leben ausmacht, nicht wollen: ohne Geburt ins Dasein treten, am besten so ungefähr zwischen 16 und 20 Jahre alt, und ewig leben, jung und gesund - das ist nicht nur ein abendländischer Menschheitstraum!"

Die Tatsache des Leidens ist unumstößlich, aber sie braucht kein Jammern und keine Niedergeschlagenheit auszulösen, sondern ist ein objektives Faktum, dem sich begegnen lässt. Der Mensch lässt sich nach den Grundaussagen des Buddhismus nämlich ändern - und damit ändert sich auch seine Haltung zu den Tatsachen der von ihm erlebten Wirklichkeit und zu den kulturellen Gegebenheiten. Mit einer geänderten Haltung kann letztendlich dukkha - das Leiden, sprechen wir es noch einmal aus und drücken wir uns nicht davor! - vollständig überwunden werden.


Wie ein tiefer See
klar und unberührt ruht,
so wird auch der Weise
klar, wenn er die Lehre hört.
Dhammapada, Vers 82


Anmerkungen:

(1) Siehe z.B. die Werke von Bhikkhu Bodhi oder von Prof. Gombrich

(2) Michel Foucault hatte durchaus ein Verhältnis zum Buddhismus: Er hat - allerdings erst in seinen mittleren bis späteren Jahren - den Zen-Buddhismus für sich entdeckt und auch meditiert. Der Zen-Buddhismus hatte damals in Frankreich unter allen buddhistischen Richtungen die beherrschende Stellung inne, sodass Foucault fast zwingend auf diese Schule gestoßen wurde.

(3) Man beachte, dass in dem Wort "Begriff" das Wort "greifen" enthalten ist!

(4) Man sollte allerdings verstehen, warum sich Derrida so verhält: Er war wie Foucault von Nietzsche beeinflusst und hatte eingesehen, dass man nun, nachdem sich erwiesen hat, dass hinter den Texten - und bei ihm ist alles Text, nicht bloß schriftlich Niedergelegtes - keine transzendente Instanz verborgen ist, nichts mehr dahinter suchen kann. Darum kreist er geradezu verzweifelt um die Worte und versucht, in dem Wissen, dass es vergeblich ist, trotz allem in und hinter ihnen eine Heimat zu finden!

(4) zitiert nach Nyanatiloka, Buddhistisches Wörterbuch, Konstanz 1983, S. 197

(5) Ich rede hier von "Konstrukt", da mir das "bhavanga" nicht der empirischen Realität des Menschen entnommen, sondern gedanklich zu Stande gekommen zu sein scheint. Aber ein/e Abhidhamma-AnhängerIn könnte hier widersprechen und darauf hinweisen, dass auf einer hohen Meditationsstufe eben doch eine unmittelbare Einsicht in das "bhavanga" erfolgt. Nur: man zeige mir einen Menschen, der die persönliche Erfahrung damit gemacht hat! Und außerdem: Wie sollte das "bhavanga" erfahren werden, wenn nicht, indem es ins Bewusstsein gehoben wird, womit es wiederum nicht unbewusst bleibt! Aber dennoch sei den Abhidhamma-AnhängerInnen ihre Ansicht zugestanden, so dass wir es objektiv betrachtet nur mit zwei verschiedenen Meinungen zu tun haben.

(6) Man sollte hier vielleicht doch anmerken, dass dies eine unzulängliche Übersetzung Nyanatilokas von khandhas ist: Es geht bei den khandhas eigentlich um die Bereiche der erlebten Wirklichkeit, welche ineinander verschränkt sind und immer im Rahmen eines dynamischen Prozesses und als ein solcher Prozess auftreten.

(7) Damit ist z.B. die Schlussfolgerung gemeint, dass der Buddhismus pessimistisch sei - eine krasse Fehleinschätzung, welcher der Westen gerne unbewusst, aber auch bewusst erliegt.

(8) Das ist übrigens der Grund,warum die einfache, im Pali-Kanon immer wieder zu findende Aussage, dass sich beispielsweise ein Seheindruck aus dem Zusammentreffen von Sehobjekt, Sehorgan und Sehbewusstsein ergibt, für den heutigen Wissensstand zu sehr verkürzt: Was bei dem Seheindruck zusätzlich immer mitspielt, ist die kulturelle Deutung des Sehobjekts, die unbewusst gegeben ist und in das Bewusstsein hineinwirkt. Da sie dem Unbewussten entstammt, kann die kulturelle Deutung nicht einfach dem Sehbewusstsein subsumiert werden. Dies war zu Buddhas Zeit noch nicht bekannt, doch wäre es ihm bekannt gewesen, so hätte er diese Erkenntnis sicher mit übernommen.


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Quelle:
Buddhistische Monatsblätter Nr. 3/2010, September - Dezember Seite 17-28
Vierteljahreszeitschrift der Buddhistischen Gesellschaft Hamburg e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. September 2010