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PRESSE/907: Linie und Übertragung - Interview mit dem 17. Gyalwa Karmapa Thaye Dorje (Buddhismus heute)


Buddhismus heute 49 - Frühjahr 2011
Diamantweg-Buddhismus Karma-Kagyü-Linie

Linie und Übertragung

Ein Interview mit dem 17. Gyalwa Karmapa Thaye Dorje


FRAGE: Warum gibt es im Buddhismus Übertragungslinien und was ist die Bedeutung von Übertragung?

THAYE DORJE: Die Übertragungslinien geben uns eine Anleitung. Wenn wir einem bestimmten Weg folgen, sind diese Anleitungen sehr tiefgründig, denn eine Übertragungslinie wird über mehrere Generationen hinweg vom Lehrer an den Schüler übertragen. Es ist eine Aufeinanderfolge von Lehrern und Schülern. Wenn man sich daran orientiert, wird man häufig dahin geführt, die volle Bedeutung der Lehren des ganzen Buddhismus zu verwirklichen.

FRAGE: Warum verwendest du das Wort "Anleitung"?

THAYE DORJE: Ich spreche von Anleitung, weil es keinen absoluten Buddhismus gibt, keinen letztendlichen Theravada-, Bodhisattva- oder Diamantweg. Tatsächlich sind es Bezugspunkte, es sind Orientierungshilfen. Es ist ähnlich wie bei einer Fußgängerampel: Sie zeigt Grün und Rot an, um Sicherheit zu gewährleisten, aber man muss dem nicht folgen, wenn es überhaupt keinen Verkehr gibt. In ähnlicher Weise geben die Übertragungslinien Bezugspunkte oder Richtlinien, nichts weiter. Das Wichtigste ist, dass sie als Führung passen und nützlich sind.

FRAGE: Was ist die Bedeutung der Übertragung in der Kagyü-Linie?

THAYE DORJE: Übertragung ist sehr wichtig, damit man keine Information, Zeit und Energie auf der Suche nach dem, was man sich wünscht, verliert: Dem Wissen, das von Generation zu Generation weitergegeben wird. In diesem Fall - ob in der Kagyü-Linie oder auch in jeder anderen Tradition des tibetischen Buddhismus - geht es um die absolute Weisheit von der Natur des Geistes.

Übertragung ist in jeder Linie gleichermaßen wichtig. Es geht um die Weitergabe des eigentlichen, ursprünglichen Dharma, der Lehren Buddhas, bis in unsere heutige Zeit. Das ist wesentlich. Alles dreht sich darum, die ursprüngliche Information intakt zu bewahren, so dass man sich immer ohne Frage oder Zweifel auf sie beziehen kann.

FRAGE: Welche Lehren sind für unsere Linie charakteristisch?

THAYE DORJE: Kurz gesagt ist es das Wort und die Methode des "Mahamudra", das "Große Siegel". Es wird in anderen Linien anders interpretiert. Die Kagyü-Schule war vor allem für Meditations-Geschick bekannt. Die Kombination von Meditation und philosophischem Hintergrund entstand, als Gampopa die Erfahrung Marpas mit der Weisheit Atishas vereinte.

FRAGE: Könntest du die verschiedenen Herangehensweisen an das Mahamudra in Sutra und Tantra erklären?

THAYE DORJE: In allen vier Traditionen des tibetischen Buddhismus werden Sutra und Tantra ganz leicht kombiniert. Zur Zeit der Repas (1) gab es einige ganz besonders befähigte Individuen. Sie hatten in vielen früheren Leben eine große Menge an positivem Karma angesammelt und brauchten nur noch einen ganz kleinen Anstoß. Für ihre Verwirklichung waren philosophische Methoden nicht so notwendig. Darüberhinaus waren die Menschen damals eher motiviert, genau so wie ihre Lehrer zu sein.

Die Dinge haben sich im Laufe der Jahrhunderte geändert und für uns hat ein ganz neuer Abschnitt begonnen, in dem wir nun alles zusammenbringen müssen - Philosophie, Meditation und den Intellekt. Die Sutras und Tantras haben sich von Anfang an ergänzt. Sie waren untrennbar voneinander und unterstützten sich gegenseitig, so wie das auch heute noch der Fall ist.

Es hängt aber von den Schülern ab, was am Nützlichsten für sie ist. Unsere Linie hat ein vollständiges Angebot für Menschen, die nur Meditation brauchen und für Menschen, die Meditation und den theoretischen Hintergrund brauchen.

FRAGE: Teil unserer Übungen ist das Chagchen Ngöndro, die "Mahamudra-Vorbereitungen". Welcher Aspekt dieser Übungen macht sie dazu?

THAYE DORJE: Man braucht das Ngöndro als Vorbereitung, damit der Geist fähig wird, die Mahamudra-Lehren anzuwenden. Zuerst muss man sich reinigen, Verdienst ansammeln und Hingabe entwickeln, um sich vom Ego zu befreien und die Natur des Geistes zu verwirklichen. Ngöndro ist eine sehr einfache Übung des Mahamudra und auch in einem geschäftigen Leben sehr gut machbar. Die Idee, das Ngöndro vollständig zu praktizieren, ist eine großartige Motivation, aber die eigentliche Vollendung einer jeden Meditation ist die Erleuchtung.

FRAGE: Was bedeutet das Mahamudra für dich?

THAYE DORJE: Es ist mein bester Freund. Und ich denke, so ist es für alle. Mahamudra ist der Freund, der immer zugegen ist.

FRAGE: Was unterscheidet das Mahamudra von anderen Methoden?

THAYE DORJE: Das muss vielleicht jeder für sich selbst herausfinden. Es gibt keinerlei Grenzen, nicht einmal auf relativer Ebene. Mahamudra ist eine Methode, die in jeder relativen Erfahrung auf die absolute Wahrheit hinweist.

FRAGE: Welche Belehrungen Buddhas erhielt Marpa und wie geschah das?

THAYE DORJE: Nun, es gibt eine ganze Lebensgeschichte über ihn. Aber kurz gesagt: Jede Übertragung, jede Methode, jede Meditation und jegliches Wissen in unserer Linie wurde entweder direkt oder indirekt von Buddha gelehrt. Die Belehrungen unserer Ära des Buddhismus begannen vor 2500 Jahren. Seit dieser Zeit wurde die Übertragung der Sutras und Tantras von bestimmten Individuen, den verwirklichten Bodhisattvas, gehalten. Sie erreichte viele Menschen in Indien und als später das Karma der Menschen auf der anderen Seite des Himalayas reif dafür wurde, begann die Übertragung unserer Linie dort mit Marpa. Wir wissen, dass er dreimal nach Indien reiste und dass sein Hauptlehrer - neben Lehrern wie Maitripa, Kukuripa und anderen großen Mahasiddhas - Naropa war. Diese Übertragung ist bis heute lebendig erhalten worden.

FRAGE: Wann begann unsere Linie?

THAYE DORJE: Die ursprüngliche Quelle für alle buddhistischen Schulen ist Buddha Shakyamuni. Von ihm wurde alles übertragen, bis hin zu Saraha, Tilopa, Naropa usw. In Tibet begann die Übertragung mit Marpa. Es war eine klare Fortsetzung der Übertragung Buddhas; der einzige Unterschied war, dass die Lehren von Marpa übersetzt und von Indien nach Tibet gebracht wurden.

FRAGE: Wie kam es dazu, dass Marpa diese Rolle hatte?

THAYE DORJE: Er war die Manifestation eines großen Bodhisattvas. Dadurch, dass er in einer Gegend lebte, in der gute Umstände für Dharma-Aktivität reif wurden, kam er zu seiner Rolle. Das bedeutet, dass die Menschen interessiert daran waren, das Dharma zu lernen.

FRAGE: Was war das Besondere in seiner Aktivität als großer Bodhisattva? Dass er ein Laienpraktizierender war, eine Familie hatte?

THAYE DORJE: Es war wie bei jedem großen Bodhisattva: Wenn man verwirklicht ist, wird jeglicher Lebensstil den man zeigt - ganz gleich welcher - eine Inspiration für die Schüler sein. Ein Beispiel ist auch König Indrabodhi (2)

FRAGE: Was ist der Unterschied zwischen einem Linien-Lama und einem Wurzel-Lama?

THAYE DORJE: Ein Linien-Lama ist derjenige, der die Übertragung hält, der die Verantwortung dafür trägt, dass die Linie ungebrochen weitergeführt und an jemand anderen übertragen wird.

Ein Wurzel-Lama kann irgendjemand sein. Es könnte dein Boss sein, deine Eltern, dein Professor... Es gibt nicht einen ganz bestimmten, festgelegten Wurzel-Lama oder Guru. Der Job des Wurzel-Lamas ist sehr einfach: Er bringt eine Person dahin, ihre wahre Identität zu erkennen, so als würde man ihr einen Spiegel vor das Gesicht halten, so dass sie sehen kann: "Aha, das bin also ich".

FRAGE: Der 16. Karmapa startete das "Karmapa International Buddhist Institute". Ein Studium dort ist aber für viele westliche Laienpraktizierende zu zeitaufwändig. Wie viel Wissen benötigt ein normaler Kagyü-Laienpraktizierender, um sicherzustellen, dass die Meditation Resultate bringen wird?

THAYE DORJE: Buddhistische Institute wie KIBI, ITAS und andere wie Kirtipur in Nepal(3) stehen Praktizierenden zur Verfügung, um ihnen die Möglichkeit zu geben, Dharma zu lernen. Sie können dort fortgeschrittene Belehrungen bekommen und auch die ganze Struktur des Dharma lernen. Aber das hängt natürlich davon ab, wie viel Zeit der einzelne Schüler hat, denn das ist heutzutage ein sehr wichtiger Faktor. Die Entfernung spielt natürlich auch eine Rolle. Wenn ein Praktizierender an einem solchen Ausbildungsprogramm teilnehmen kann, wird ihm das ganz sicher in der Meditation helfen. Falls man aber nicht die Bedingungen dafür hat, heißt das nicht, dass man deswegen keine erfolgreiche Meditation haben wird.

In unserer Tradition ist es üblich, dass man in solchen Instituten im ersten Semester Belehrungen über Gampopas "Juwelenschmuck der Befreiung" erhält. Das gibt einen vollständigen Überblick über Buddhas Lehren. Es ist der grundlegende Text mit dem jeder vertraut sein sollte. Die notwendigen Belehrungen unserer Linie werden jedoch auch woanders angeboten. Wenn man nicht an einem solchen Kurs in einem der Institute teilnehmen kann, kann man es auch mit Dharma-Freunden und Lehrern in den Zentren studieren.

FRAGE: Haben Laienpraktizierende früher in Tibet in ähnlicher Weise Zurückziehungen gemacht, wie wir es heute tun?

THAYE DORJE: Ich bin mir nicht sicher, ob die Praktizierenden damals in Tibet die gleichen Möglichkeiten hatten, wie wir es heutzutage hier im Westen haben. Aber diejenigen, die die Chance und den Wunsch dazu hatten, taten es. Tatsächlich war das aber eher selten. Zuerst einmal hatten die Menschen keine wirklich anständige Ausbildung. Deswegen wussten sie nicht, was sie praktizieren sollten und sie konnten nicht einmal lesen, da sie ein sehr einfaches Leben führten. Nur wenige hatten wirklich die richtigen Umstände.

FRAGE: Vielleicht machen wir im Westen heutzutage Retreats in formellerer Weise. Wir haben klare Unterweisungen dazu, wie man sie machen soll.

THAYE DORJE: Ja, heutzutage ist es ist ziemlich verschieden von damals. In Tibet früher war es sehr selten und hing wirklich von glücklichen Umständen ab. Wenn sehr gute Lehrer vorbeikamen, dann hatten die Leute gute Möglichkeiten. Aber wenn das nicht geschah, dann rezitierten die Leute einfach mit viel Fleiß und blinder Hingabe das, was sie kannten.

FRAGE: Woraus bestand die Praxis der Laien-Buddhisten in Tibet?

THAYE DORJE: Einige waren fähig, als Laien zu praktizieren, andere nicht. Sie führten ihr Leben entweder ganz und gar als Nomaden oder als Einsiedler. Oder sie waren Bauern und hatten sehr wenig Wissen über Praxis. Es gab damals Laienpraktizierende, aber vielleicht nicht so viele mit Ausbildung, wie wir es heute haben.

FRAGE: Wie praktizierten die Nomaden? Haben sie Altäre benutzt und einfach Mantras gesagt?

THAYE DORJE: Sie hatten nicht einmal immer einen Altar. In den meisten Fällen wurden Gaus(4) als Altar benutzt und sie glaubten einfach aus vollem Herzen. Dass sie das Dharma als Hintergrund hatten, war eine glückliche Bedingung, aber ansonsten hatten sie das gleiche blinde Vertrauen, das wir noch heute in sehr abgelegenen Gegenden bei ihnen vorfinden.

FRAGE: Gab es in sehr ländlichen Gegenden nicht auch Leute, deren Häuser mit buddhistischen Ornamenten bedeckt waren?

THAYE DORJE: Ja, das gab es. Aber sie verstanden die Bedeutung nicht. Sie wussten nur, dass es Segen hatte, heilen konnte, Hindernisse entfernen und Glück bringen würde. Es war einfach blinder Glaube. Da dieser sehr authentisch war, war aber natürlich auch der Segen da.

FRAGE: Ab wann würdest du jemandem raten, in eine Zurückziehung zu gehen? Einige Leute in unseren Zentren machen Ngöndro und fragen danach.

THAYE DORJE: Allgemein würde ich jedem anraten, kurze Retreats auszuprobieren. Wenn euer Lehrer vorschlägt, dass es nützlich wäre, sie über einen längeren Zeitraum zu machen, dann würde auch ich das unterstützen.

Ich würde vorschlagen, kurze Retreat mit mehreren Sitzungen zu machen, zum Beispiel für eine Woche oder einen Monat. Eine Woche ist gut. Achtet dabei auf ein gutes Gleichgewicht: Lernt, was ihr im Retreat anwenden könnt und schaut dann, ob es zurück im täglichen Leben funktioniert.

FRAGE: Gibt es eine ganz besondere Sache, auf die wir uns in unserer Praxis innerhalb der modernen Gesellschaft konzentrieren sollten?

THAYE DORJE: Es gibt so viele Dinge, auf die man sich konzentrieren könnte, aber es ist alles eine Frage der Zeit. Ganz einfach gesagt: Versucht ein anständiger Mensch zu sein und das bedeutet, zufrieden zu sein. Wir verlieren unseren Weg, wenn wir zu gierig und unzufrieden sind und nicht schätzen, was wir haben. Dies ist etwas, wozu alle großen Bodhisattvas ständig raten.

FRAGE: Einige Menschen kämpfen mit Depressionen und nehmen Medikamente. Wenn sie meditieren, werden sie labil. Was wäre ein guter Ratschlag für sie?

THAYE DORJE: Ein solcher Zustand lässt sich ganz sicher beheben. Es erfordert aber große Geduld, also Zeit und Energie, um diese Menschen da durchzubringen. Oft ist es nützlich, sie in Ruhe zu lassen und ihnen dabei zu helfen, ein gutes Leben zu führen. Meditation ist vielleicht nicht so passend für sie und ich würde raten, dass sie stattdessen lieber in den Zentren bei einfachen Aufgaben mithelfen.

FRAGE: Von allen Teilen der Welt sind Freunde hier zum Kurs im Europazentrum gekommen, um auf Basis von Freundschaft und Idealismus mitzuhelfen. Was ist der Nutzen dieser Aktivität für ihre Praxis?

THAYE DORJE: Was den Aufbau von Verdienst und gutem Karma angeht, so ist da keinerlei Unterschied, denn es ist - abhängig von der eigenen Motivation - letztendlich eine Praxis von Großzügigkeit. Jeder Praktizierende hat seine eigene Weise, um zu dieser Aktivität beizutragen, die von den Lehrern überschaut und weise geleitet wird. Es gibt einen Nutzen und jeder, der teilnimmt, wird ein gewisses Gefühl von Frieden und Freude erfahren. Wir sollten in unserem Geist nie eine Trennung zwischen dem Leben und der Praxis machen. Dann können wir genießen, dass wir mit unserem Tag etwas Sinnvolles getan haben.

FRAGE: In unseren Zentren ist die Zusammenarbeit eine Art von Praxis, in der wir lernen, eine positive Einstellung gegenüber allen anderen zu haben und ihre Qualitäten zu sehen. Welche formelle Praxis unterstützt diese Sicht?

THAYE DORJE: Übungen wie Guru-Yoga oder Bodhicitta haben alle den Sinn, uns sehen und verstehen zu lassen, dass jeder unser Freund und spiritueller Lehrer ist. Das ist natürlich leichter gesagt als getan. Es braucht Zeit, viel Energie und viel Geduld. Aber wenn man es schafft, kann jeder, der uns im Leben begegnet, ein Freund oder Lehrer sein. Das ist der eigentliche Grund dafür, dass wir Guru-Yoga üben. Wir sehen unseren formellen Lehrer als einen lebenden Buddha, als einen Lehrer für das Leben. Mit den Guru-Yoga-Belehrungen lernen wir im Laufe der Zeit, diese Sicht auch auf andere Menschen anzuwenden. In dieser Weise können dann ihre Kritik, ihre Sichtweisen und alles was sie tun, zu einer Belehrung für uns werden.

FRAGE: Wir möchten gerne unsere Zentren und Aktivitäten ständig verbessern. Die Menschen investieren viel Energie darin und wollen wirklich, dass etwas dabei herauskommt. Oft gibt es dann Spannungen, wenn die Dinge nicht so laufen wie geplant. Wie können wir das beilegen?

THAYE DORJE: Ich kann verstehen, dass das etwas verwirrend werden könnte, aber ich habe erlebt, dass dieser Enthusiasmus große positive Resultate bringt. In anderen Fällen waren Leute viel zu entspannt. Die Weisheit zu wissen, wie man durch Meditation die Energie und die Geduld im Gleichgewicht hält, ist der Schlüssel für alle guten Ergebnisse.

FRAGE: Es ist gut, dass wir Belehrungen haben, um diese Energie in eine nützliche Richtung zu lenken.

THAYE DORJE: Das ist sehr wahr. Es geht nicht darum, den Antrieb oder die Motivation zu reduzieren, sondern eine bestimmte Qualität hinzuzufügen - Entspannung, einen ruhigen Fokus. Ich denke, dass es damit funktionieren sollte.

FRAGE: Die Linie hat sich in unserer Zeit über die ganze Welt verbreitet - es gibt sie nicht mehr nur in Tibet. Wie hältst du sie als Oberhaupt der Linie zusammen und sicherst ihre Entwicklung in die richtige Richtung?

THAYE DORJE: Ja, das stimmt, die Übertragungslinie ist heutzutage überall auf der Welt und die Aufgabe ist viel größer als für die früheren Karmapas. Es ist definitiv eine größere Herausforderung. Aber das Ziel selbst ist das gleiche: Die Übertragung authentisch zu wahren, sie rein zu halten und sicherzustellen, dass der Same des Dharma in die Herzen aller gepflanzt wird, die sich das wünschen. Das ist die Herausforderung und die Aktivität.

FRAGE: Was bedeutet in diesem Zusammenhang "Übertragung" für dich?

THAYE DORJE: Es bedeutet ganz einfach die Übertragung des Mahamudra, der Sechs Lehren Naropas und all der Ermächtigungen und Anweisungen der Karma Kagyü Linie. Es ist von höchster Wichtigkeit, wie rein sie erhalten wird. Wir werden mit der Zeit sehen, wie intakt sie bleibt, und ich bin sehr optimistisch und wünsche, dass es gut geht. Natürlich werde ich mein Möglichstes dafür tun, dass sie unverfälscht bleibt. Und die letztendliche Aufgabe wird sein, sie an einen geeigneten, richtigen Praktizierenden weiterzugeben.

FRAGE: Du bist hier im Europazentrum am Ende des ersten von vielen Kursen. Was ist dein Eindruck von diesem historischen Besuch?

THAYE DORJE: Es war eine Freude und wird es immer sein, an solch einem Platz zu sein. Ich war tief berührt von jedem, der teilnahm. Besonders beeindruckt war ich von denen, die die harte Arbeit machen: Die Köche, das "Dorje Sempa Team" - das Reinigungsteam (Karmapa lacht). Ich bin erstaunt, denn es ist schwer, in dieser Art von Job Enthusiasmus zu finden. Sie werden schließlich nicht dafür bezahlt.

FRAGE: Sie nehmen ihren Urlaub, bezahlen dafür hier zu sein - und putzen! Dabei verpassen sie sogar einige Belehrungen.

THAYE DORJE: Das ist unglaublich! Es ist wirklich inspirierend, dass Menschen ihre Zeit dafür geben, damit andere meditieren können. Ich war wirklich berührt. Als ich das gesehen hatte, dachte ich: Was ich da für fünf oder sechs Stunden auf der Bühne mache, ist gar nichts. Und dann hat jeder auch noch die Liebenswürdigkeit, mich zu fragen, ob ich müde sei. Das geschah nicht nur auf dieser Reise, sondern überall, wo ich hinkam. Ich bin dankbar.

FRAGE: Gibt es irgendetwas, das du brauchst oder dir von uns wünschst?

THAYE DORJE: Ich habe in den letzten paar Tagen hier im Europazentrum so ziemlich alles gesagt, was ich sagen wollte. Das ist eigentlich alles, was ich von jedermann erwarte. Zuerst möchte ich euch bitten, mit dieser großartigen Aktivität weiterzumachen. Zweitens, es mit einem sehr entspannten Geist zu tun, die Dinge stufenweise anzugehen. Und schließlich: Habt Geduld, habt viel Geduld!


Das Interview wurde während des Sommerkurses 2008 im Europazentrum von mehreren Kursteilnehmern geführt. Später wurde es von Caty Hartung und weiteren Teilnehmern zusammen mit Gyalwa Karmapa ergänzt und editiert.

Aus dem Englischen von Detlev Göbel und Claudia Knoll



17. KARMAPA TRINLE THAYE DORJE

Karmapa verkörpert die Tatkraft aller Buddhas und ist das Oberhaupt der Karma Kagyü Linie des Diamantweg-Buddhismus. Der Karmapa gilt als der erste bewusst wiedergeborene Lama Tibets - so war ein Schüler des 4. Karmapa der Lehrer des 1. Dalai Lama. Bis heute gab es 17 Inkarnationen dieses "Königs der Yogis von Tibet". Der 16. Karmapa floh 1959 aufgrund der chinesischen Besetzung aus Tibet und sicherte von Sikkim/Indien aus das Weiterbestehen des Diamantweg-Buddhismus. 1981 starb er in der Nähe von Chicago.

Der jetzige 17. Karmapa Thaye Dorje (geb. 1983) konnte 1994 das chinesisch besetzte Tibet verlassen und in die Freiheit nach Indien gebracht werden. Seitdem wird er dort in der überlieferten buddhistischen Lehre unterrichtet und erhält gleichzeitig eine westliche Schulbildung. Ausserdem leitet er grosse Zeremonien und wird zu Staatsbesuchen in asiatische Länder eingeladen. Anfang 2000 bereiste er zum ersten mal Europa.


Anmerkungen

(1) Ein tibetischer Ausdruck für Yogis, Verwirklicher

(2) Der seine Diamantweg-Praxis in den Alltag seiner königlichen Regierungs-Aufgaben einzubinden verstand.

(3) www.kibi-edu.org, www.itas-uni.eu, www.kirtipur.org

(4) Tibetischer Reliquienbehälter


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Quelle:
Buddhismus heute 49, Frühjahr 2011, Seite 4-9
Herausgeber:
Buddhistischer Dachverband Diamantweg e.V. (BDD) in Deutschland
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Internet: www.diamantweg.de, www.diamondway-buddhism.org
Redaktion: Detlev Göbel und Claudia Knoll
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Einzelheft: 8,00 Euro


veröffentlicht im Schattenblick zum 16. April 2011