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PRESSE/941: Achtsamkeit und Augenblick (DMW)


Der Mittlere Weg - Nr. 2, Mai - August 2012
Zeitschrift des Buddhistischen Bundes Hannover e.V.

Achtsamkeit und Augenblick
Satipatthana unter neuzeitlichem Blickwinkel

von Axel Rodeck




Eine alte fernöstliche Technik

Man hat den Buddhismus als "Religion der Vernunft und der Meditation" bezeichnet. Tatsächlich ist die Meditation der Königsweg zur Erreichung des Heilsziels des Buddhismus, des "Nirvana". Dabei bildet "Meditation" (im Buddhismus als "dhyana" bezeichnet) einen Sammelbegriff für unterschiedliche psychologisch-psychosomatische Techniken und Methoden.

In der frühvedischen Zeit hatten sich die Priester noch bemüht, veränderte Bewusstseinszustände mit rauschbegründenden Hilfsmitteln herbeizuführen. Durch Einnahme einer Droge namens "Soma", die vermutlich aus halluzinogen wirkenden Pilzen zusammengerührt wurde, sollten der Besessenheit ähnelnde Zustände geschaffen werden.

Der spätere Brahmanismus sprach jedoch Besessenheitszuständen den Wert ab und sie wurden deshalb aus der brahmanischen Religion eliminiert. Denn Besessenheit bedeutet, die Selbstkontrolle zu verlieren, der Brahmanismus vertrat aber den Gedanken der Kontrolle über das Bewusstsein. Insoweit bestand dann Übereinstimmung zwischen dem Brahmanismus und dem neu entstandenen Buddhismus. Auch der Erleuchtung Buddha Gautamas haftet nichts Ekstatisches an, sie war ein rational gelenkter, ruhiger Vorgang - der Buddha war Yogi, aber kein Schamane.

Die methodisch ausgeübte Selbstkontrolle fällt unter den Pauschalbegriff "Yoga" und hat die Hauptrichtungen Meditation und Körperkasteiung, wobei letztere bekanntlich vom Buddha auf Grund der von ihm gewonnenen Erfahrungen abgelehnt wurde. Über die Technik der Meditation finden sich nur wenige Aussagen in der vedischen Literatur, offenbar handelte es sich um - zumindest in interessierten Kreisen - allgemein bekannte und deshalb nicht erwähnenswerte Methoden des ruhigen Sitzens mit dem Versuch der Einschränkung diskursiven Denkens.

Diese wurden von den Urbuddhisten übernommen, welche prinzipiell keinen Anlaß sahen, neue Meditationstechniken entwickeln zu müssen. Die Buddhisten übernahmen also die an keine bestimmte Religion gebundene Praxis der Meditation und verbanden sie dann mit spezifisch buddhistischen Begriffen.


Rechte Achtsamkeit - ein wiederentdecktes Verfahren

Allerdings hatte der Buddha auch eine eigene, nicht aus der Hindu-Tradition stammende und daher essentiell buddhistische Verfahrensweise entwickelt. Wir finden sie in der vierten "Edlen Wahrheit", der Wahrheit vom Wege zur Leidensaufhebung. Diese enthält für den Heilssucher acht Verhaltensempfehlungen, wie der Erlösungsweg beschritten werden sollte. Sie lassen sich in die drei Themenblöcke "Erkenntnis", "Ethik" und "Meditation" gliedern, wobei wir unser Augenmerk auf den Block "Meditation" richten wollen. Hier stoßen wir auf die siebente Regel des achtfältigen Pfades, die "Rechte Achtsamkeit" (samma-sati).

Die rechte Achtsamkeit (samma-sati) ist als 7. Glied des achtspurigen Weges für den Heilssucher von großer Bedeutung und eine Art "Ausführungsvorschrift" dazu enthält das Satipatthana-Sutta, welches in neuerer Zeit in Burma durch einen Ordensältesten namens Narada wieder ins Bewusstsein auch der buddhistischen Laien gerufen wurde. "Satipatthana Sutta" heißt "Lehrrede über die Erweckung der Achtsamkeit". (Nach anderer Übersetzung auch: "Grundlage" oder "Vergegenwärtigung" der Achtsamkeit.) Sie ist im Digha-Nikaya (D 22) wie auch im Majjhima-Nikaya (M 10) überliefert, zudem enthält M 118 die "Lehrrede vom bewussten Einund Ausatmen" (Anapanasati-Sutta).

Der Meditierende verhält sich dem Beobachtungsobjekt gegenüber rein aufnehmend, ohne mit seinem Denken oder Gefühl bewertend Stellung zu nehmen. Kommen gleichwohl Bewertungen auf, können diese selber zum Gegenstand reinen Beobachtens gemacht werden. Bei der Achtsamkeitsmeditation betrachtet der Meditierende ausschließlich das, was tatsächlich vorhanden ist oder stattfindet. Er bringt jedoch nichts eigens hervor, wie es etwa bei der Visualisierungsmeditation des tibetischen Buddhismus der Fall ist. Das reine Beobachten deckt sich mit (westlich-) wissenschaftlichem Denken und der Mönch und Übersetzer Nyanaponika betont: "Der echte Forschergeist, der sich in der Grundhaltung des Reinen Beobachtens manifestiert, wird die Buddha-Lehre stets dem Geiste wahrer Wissenschaft verbinden."


Reines Beobachten und Aufmerksamkeit heute

Die Methode der Achtsamkeitsübungen hat in den letzten Jahren einen erstaunlichen Aufschwung genommen, auch über den Kreis der Buddhisten hinaus. Wir hören gar von einer Anwendung zu Heilzwecken bei der "achtsamkeitsbasierten Streßreduktion MBSR", die wissenschaftlich anerkannt und sogar von den Krankenkassen akzeptiert sein soll. (s. zu diesem Thema "Buddhismus aktuell" Heft 4/2011.) Immerhin wird gefordert, dass Achtsamkeit nicht auf ihre konzentrative Funktion beschränkt, sondern nur zur Erreichung ethischer Ziele verwendet werden soll. Mag dies eine Mahnung für alle engagierten Einbrecher sein, die mit Achtsamkeitstraining lediglich ein optimales Knacken der Tresore bezwecken.

Dass die Weisen in Ost und West ebenso wie die ernsthaft ihr Metier betreibenden Wissenschaftler sich in reinem Beobachten üben und sich dem konzentrierten Erfassen des Augenblicks widmen, kann nicht verwundern. Denn nur so ist es möglich, die Gegenwart zu begreifen. Nur mit Konzentration gelingt uns die Wahrnehmung des Zeitabschnitts, in dem die bisherige Zukunft in Vergangenheit umschlägt. Andernfalls erleben wir durch unsere im Kopf ständig kreisenden Gedanken zwar Vergangenheit und Zukunft, das mit den Sinnen aufgenommene "Jetzt" bleibt uns aber fremd.

Es fällt allerdings sehr schwer, mit der Aufmerksamkeit im Hier und Jetzt zu bleiben. Denn unsere Gehirne entstanden als Werkzeuge im Überlebenskampf, wo schnell, aber meist nur kurzzeitig, auf Umweltsignale geachtet werden mußte. Deshalb erlahmt die bewusste Aufmerksamkeit sofort, sobald sich in unserer Umgebung nur wenig tut. Und wenn das Gehirn wenig gefordert ist, wendet sich die Aufmerksamkeit automatisch nach innen und wir erleben seine Aktivität als Tagträume, Monologe und Sorgen. Wir können niemals nichts denken, ein leerer Verstand füllt sich sofort mit Gedanken. Häufig kommentiert eine innere Stimme jedes noch so belanglose Tun. Und noch eine wohl kaum erheiternde Feststellung: Bevor das Bewusstsein zu wenig Beschäftigung erträgt, befasst es sich lieber mit Unsinn.


Blick auf die Gegenwart

Natürlich haben sich Verfahrensweisen entwickelt, die dem Erlangen von Konzentration dienen sollen. Wichtigste Erkenntnis ist, dass die Aufmerksamkeit von selbst erwacht, wenn man ihr ein klares Ziel setzt. Auf diesem Prinzip beruhen die Methoden der Meditation, wo stets ein Fokus der Wahrnehmung gesucht werden soll (z.B. Mantra, Atem). Entscheidend ist, dass die Wahrnehmung beschäftigt bleibt und den gegebenen Reiz zu erfassen versucht, weil nur so das Bewusstsein in der Gegenwart bleiben kann.

Die Fixierung "auf den Punkt" ist gar nicht so einfach und hat schon manchen Meditationsschüler abgeschreckt. Denn insbesondere, wenn wir etwas Neues, bisher noch nicht Vertrautes beginnen, schweift unsere Aufmerksamkeit zunächst herum und läßt sich nur schwer auf das gewünschte Objekt - sei es ein Mantra oder eine Rechenaufgabe - richten. Bei der Sache zu bleiben ist ein ständiger Kampf und die meisten Menschen können erst nach ca. 15 Minuten die für die Lösung einer Aufgabe erforderliche Konzentration aufbringen. Dann sind aber Schulstunde oder Meditationsübung schon zu einem großen Teil abgelaufen...

Abschließend sei gefragt, wie lang die zwischen Zukunft und Vergangenheit eingebundene, im Fluß der Zeit ständig veränderliche "Gegenwart" denn nun eigentlich ist. Sie ist der "Augenblick", den wir voll konzentriert zu erfassen versuchen. Dieser Augenblick ist nach heutigen Feststellungen ca. 3 Sek. lang, denn länger kann das Bewusstsein ihn nicht halten, wenn keine wesentlichen neuen Informationen erfolgen. Diese Periode von 3 Sekunden empfinden wir als "Gegenwart" und können sie unmittelbar wiedergeben. Ein einfacher Versuch bestätigt diese Feststellung: Betrachten Sie mit festem Blick ein doppeldeutiges Bild (z.B. Vase/Kopf), so kippt das zuerst wahrgenommene Bild nach spätestens 3 Sekunden in seine andere Variation um.

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Quelle:
Der Mittlere Weg - majjhima-patipada
44.‍ ‍Jahrgang, Mai - August 2012/2555, Nr. 2, Seite 20-21
Herausgeber: Buddhistischer Bund Hannover e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Mai 2012