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PRESSE/981: Das Herz-Sutra der Transzendenten Weisheit (DMW)


Der Mittlere Weg - Nr. 1, Januar - April 2014
Zeitschrift des Buddhistischen Bundes Hannover e.V.

Das Herz-Sutra der Transzendenten Weisheit
(Prajnaparamita-hrdaya-Sutra)

von Axel Rodeck



Die Weisheit im Buddhismus

Der Begriff "Prajna" (Skt. = Weisheit; Pali: panna) bezeichnete im alten Buddhismus die "Erkenntnis", die durch analytisches Denken gewonnen wird und deshalb später als eine nur niedere Erkenntnis abqualifiziert wurde. Denn auch die Lehre Buddha Gautamas unterlag dem Gesetz der Veränderung und einige Jahrhunderte nach seinem Tod bildete sich eine neue Form des Buddhismus heraus, die - im Gegensatz zur etwas geringschätzig als "Hinayana" (kleines Fahrzeug) bezeichneten alten Lehre - als "Mahayana" (großes Fahrzeug) bezeichnet wurde.

Verwundert nahmen die Hinayanins zur Kenntnis, dass im Zuge der Einführung der Schreibkunst in Indien Schriften auftauchten mit Texten, die angeblich vom Buddha verfasst sein sollten. Doch die Mahayanins erklärten, der Buddha habe noch zu Lebzeiten seine Lehre in der Form des Mahayana dargelegt, nur seien die meisten der frühen Mönche noch nicht in der Lage gewesen, dies zu verstehen und deshalb auf den hinayanischen Anfangsteil beschränkt worden.

Wie immer dem auch sei. Zu den vorgenommenen Änderungen gehörte, dass der Begriff "Prajna" nun mit dem Adjektiv "paramita" versehen wurde, Prajnaparamita wurde sogar die Bezeichnung der um die Zeitwende entstandenen maßgeblichen mahayanischen Texte. "Param-ita" bedeutet wörtlich "nach-jenseits-gegangen", demnach bezeichnet Prajna-paramita gemäß dem in Indien üblichen Bild der Stromüberquerung die jenseitige, oder, wie wir heute sagen würden, die transzendente Weisheit.

Nach anderer Deutung leitet sich "paramita" von der "Vollkommenheit" ab (vgl. die "paramitas" = Vollkommenheiten, d.h. Kardinaltugenden des Bodhisattvas), was aber zum selben Ergebnis führt, denn die Vollkommenheit der Einsicht wäre gleichbedeutend mit der transzendenten Weisheit. Jedenfalls meint Prajnaparamita die vom analytischen Wissen der alten Texte (Abhidharma) grundverschiedene Einsicht in das Wesen der Dinge, wie sie erforderlich ist, um dem Geburtenkreislauf zu entrinnen.

Die Mahayana-Texte, zu denen das aus 40 Einzelwerken bestehende Prajnaparamita-Sutra gehört, verlagern den Schwerpunkt der buddhistischen Betrachtung. Dieser geht von der Analyse der Dharmas, der Bausteine der empirischen Welt, hin zur Beziehung des einzelnen zu den anderen Wesen, vom Arhat (Heiligen) als "Erlösungsegoisten" hin zum Bodhisattva, der das ihm eigentlich mögliche Verlassen der Welt unterlässt, um anderen zu helfen. Ihre Verfasser stützen sich nicht mehr auf den historischen Buddha Gautama und seine rationalistischen Ausführungen, sondern auf kontemplative Erfahrungen bei der Verehrung von Buddhas und Bodhisattvas einer überweltlichen Sphäre.

In Meditationen und Visionen werden sie von diesen übermenschlichen Wesen inspiriert, so dass sie ihre über mehrere Generationen erstellten umfangreichen Texte als Aussagen eines transzendenten Buddhas ausgeben können. Der Bodhisattva als das neue Ideal muß während unzähliger Wiedergeburten diverse Tugenden (paramitas) erwerben, von denen Weisheit die wichtigste ist, und die Prajnaparamita-Sutras handeln vom Wesen dieser Weisheit und ihrem Erwerb. Besonderer Beliebtheit erfreut sich auch heute noch (wohl neben dem Lotos-Sutra) das "Herz-Sutra".


Weisheit auf den Punkt gebracht

Im Zeitraum zwischen dem 3. und 5. Jahrhundert entstand in Indien das "Herz-Sutra". Es wird so genannt, weil es die Hauptanschauungen der Prajnaparamita-Literatur wiedergibt, also das "Herz" der mahayanischen Weisheitslehre. Mit seinen nur 286 Schriftzeichen hebt es sich wohltuend ab von den umfangreichen Wälzern wie dem "Lotos-Sutra" und erwies sich daher als praktikabel für den Alltagsgebrauch. In seiner Kürze wird es nur noch übertroffen von dem Laut "a", der als (indisches) Negationspräfix der Verneinung dient und daher selber zum Symbol für Leerheit und Erlösung wurde. Da das Sutra die Leerheit ganz besonders betont, steht es in der Welt des Zen in hohem Ansehen und wird in den Zen-Klöstern morgens und vor jeder Mahlzeit rezitiert.

Die Prajnaparamita-Texte und demzufolge auch das Herz-Sutra offenbaren die Wahrheit vom Standpunkt dessen, der das Absolute geschaut hat. Sie sind deshalb dem Laien nur schwer verständlich, denn diese Wahrheit wird durch eine Reihe von Paradoxien beschrieben und "wir betreten hier ein Reich, in dem unsere Alltagslogik keinen Halt findet." (Chi Kung) Die Schwierigkeit liegt darin, dass sich unsere Sprache und unser Bewusstsein auf Dualität gründen, während das Sutra vom Geist der Nicht-Zweiheit ausgeht.

Es gilt, über den dualistischen, mit Begriffen arbeitenden Geist hinaus zu gehen und so die Einsicht von der Wahrheit der Leerheit zu gewinnen. Dazu werden Aussagen gemacht, die Gegensätzliches besagen, aber dennoch nicht im Widerspruch zu einander stehen. Obwohl also die Wahrheiten, auf die hier hingewiesen wird, eigentlich gar nicht in Worten ausgedrückt werden können, unternehmen die Verfasser des Sutras den dankenswerten Versuch, uns der Weisheit ein Stück näher zu bringen.

Der folgende Text des Herz-Sutras wurde der leichteren Verständlichkeit halber - Indologen und Bodhisattvas mögen diesen Frevel verzeihen - aus fünf verschiedenen Übersetzungen kompiliert, die "Erläuterungen" beruhen hauptsächlich auf den Ausführungen von H.W. Schumann in seinen Büchern "Mahayana-Buddhismus" (S. 56 ff) und "Handbuch Buddhismus" (S. 184 ff).


Text und Erläuterung des Herz-Sutras

1. "Der Edle Bodhisattva Avalokiteshvara verweilte in der tiefen Erleuchtungsschau transzendenter Weisheit und schaute dabei auf die leidenden Wesen herab. Er sah, daß die fünf "Skandhas" (aus denen sich die empirische Person zusammensetzt) ihrer Natur nach völlig leer sind und so überwand er alles Leiden."

Erläuterung: Das Sutra fängt mit einem Wortspiel an: Avalokiteshvara = "Der Herr der herab schaut" schaut auf die Welt herab. Aber wo der Weltmensch reale Personen sieht, sieht Avalokiteshvara nur jeweils fünf Gruppen (skandhas) von Daseinsfaktoren (dharmas), die die scheinbaren Personen bilden, also einen Haufen von Atomen in einem fließenden Prozeß. In ihnen ist kein dauerhaftes Element zu finden, sie sind ohne Selbst, ohne den Tod überdauernde Seele (anatta), sind leer. Diese Erkenntnis ist leidensbefreiend.

2. So nun sprach er zu (dem Mönch) Shariputra: Höre, Shariputra! Form (= Körper als das 1. Skandha ) ist nicht verschieden von Leerheit und Leerheit ist nicht verschieden von Form. Form ist also (identisch mit) Leerheit und Leerheit ist (identisch mit) Form. Dasselbe gilt für (die anderen 4 Skandhas) Empfindungen, Wahrnehmungen, Geistesregungen und Bewusstsein."

Erläuterung: Während oben schon gesagt wurde, dass die Skandhas leer sind, wird hier entprechend mahayanischem Sprachgebrauch darüber hinaus noch festgestellt, dass die Leerheit das Wesensmerkmal von allem ist. Denn wenn sich bei einer Einzelanalyse alles als "leer" erweist, so herrscht bei Gesamtbetrachtung "Leerheit". - Dem Mönch Shariputra als Gesprächspartner Avalokiteshvaras wurde scharfer analytischer Verstand nachgesagt.

3. "Shariputra! Alle Dharmas sind (aus der Perspektive transzendenter Weisheit) durch Leerheit gekennzeichnet, weder entstehen sie noch vergehen sie, sie sind weder rein noch unrein, weder nehmen sie zu, noch nehmen sie ab. Darum gibt es in der Leerheit keine Form (= Körper), keine Empfindungen, keine Wahrnehmungen, keine Geistesregungen und kein Bewusstsein. Es gibt weder Auge noch Ohr, weder Nase noch Zunge, weder Leib noch Geist. In der Leerheit sind weder Formen noch Töne, weder Duft noch Geschmack, weder Tastempfindungen noch Vorstellungen. Es gibt weder den Bereich der Sinne noch den des Bewusstseins. In der Leerheit gibt es weder Unwissenheit noch eine Aufhebung von Unwissenheit, es gibt kein bedingtes Entstehen und keine Aufhebung des bedingten Bestehens, da ist weder Altern und Sterben noch die Aufhebung von Altern und Sterben. In der Leerheit gibt es kein Leiden, keine Entstehung des Leidens, keine Aufhebung des Leidens und keinen zur Leidensaufhebung führenden Weg. Da gibt es weder Erkenntnis noch Verwirklichung, weil es in der Leerheit nichts gibt, was zu verwirklichen wäre."

Erläuterung: Wer im Besitz der transzendenten Weisheit ist, kann getrost alles vergessen, was dem Menschen wichtig erscheint - einschließlich der Buddhalehre! Der Abschnitt enthält bei näherem Hinsehen vertraute Elemente der buddhistischen Lehre und benennt die Folgen der Erkenntnis der Leerheit für den Erlösten. Für ihn gibt es nicht mehr

a) die fünf "Skandhas" (Körper, Empfindungen, Wahrnehmungen, Geistesregungen und Bewusstsein), also die Grundrealitäten alles Daseienden,

b) die sechs Sinnesorgane (Auge, Ohr, Nase, Zunge, Körper, Denken),

c) die Sinnesobjekte (Formen, Töne, Geschmack usw.),

d) die Sinnesfähigkeiten (Sicht-, Hör- usw. Elemente),

e) die zwölf Glieder des Konditionalnexus (patitccasamuppada), also das Entstehen in Abhängigkeit,

f) nicht einmal die "Vier Edlen Wahrheiten" Buddha Gautamas (!),

g) Wissen und Erkenntnis,

h) eine Verwirklichung (der Erlösung), da diese latent in jedem Wesen vorhanden ist.

4. "Der Bodhisattva, gestützt auf die Vollkommenheit der Erkenntnis, ist daher frei von den Trübungen des Geistes. Deshalb ist er auch frei von Angst, ohne Verblendungen und verwirklicht so das Nirvana."

Erläuterung: Durch die Transzendente Weisheit wird vom Bodhisattva jenseits aller Dogmen die Naturtatsache erkannt, dass die Leerheit in ihm das durch nichts bedrohte Absolute ist. Er wird daher frei von Ängsten und falschen Ansichten und es steht ihm keine Wiedergeburt mehr bevor.

5. "Alle Buddhas in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vertrauten der Transzendenten Weisheit und erreichten dadurch die unübertreffliche Vollkommene Erleuchtung. (Anuttara-Samyak Sambodhi) Wisse daher, daß "Prajnaparamita" das große Mantra ist, das lebendige Mantra, das beste Mantra, das unübertreffliche Mantra, das allem Leiden ein Ende macht. Das ist die reine, unverfälschte Wahrheit. Darum rezitiere das Mantra der transzendenten Weisheit also:

GATE GATE PARAGATE PARASAMGATE BODHI SVAHA"

(gegangen, gegangen, hinübergegangen, völlig hinübergegangen, o Erleuchtung! Heil!)

Erläuterung: Die Transzendente Weisheit führt zur Erlösung - das Erfolgsrezept der Buddhas aller Zeiten. Die Prajnaparamita-Texte enthalten die zur Erleuchtung führende Wahrheit. Da nach indischer Vorstellung jede Wahrheit gleichzeitig auch ein Mantra (Wirkspruch) ist, durch das sich magische Wirkungen erzielen lassen, sind auch die Prajnaparamita-Sutras wundersam wirkkräftig. Weil aber selbst das kurze Herz-Sutra für den Gebrauch als Mantra zu lang wäre, nennt Abschnitt 5 die Keimsilben (bijamantra), die seine magische Potenz ausmachen. Erfreulicherweise ist dieses Mantra, anders als die meisten Mantras, interpretierbar. Es bezeichnet die fünf Phasen des Weges zur Erlösung:

  • GATE = gegangen zur Erkenntnis, dass die Person aus Dharmas besteht und "leer"
  • GATE = gegangen zur Aufgabe der bedingten Dharmas PARAGATE = hinübergegangen über den Dualismus der Welt in die Nichtdualität der Leerheit
  • PARASAMGATE = völlig hinübergegangen zum Nicht-Bedingten
  • BODHI = O Erleuchtung! Das Ziel des erlösenden Erwachens.

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Quelle:
Der Mittlere Weg - majjhima-patipada
46. Jahrgang, Januar - April 2014, Nr. 1, Seite 9-13
Herausgeber: Buddhistischer Bund Hannover e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Februar 2014