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BERICHT/237: Das christliche Erbe im Irak geht verloren (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion 8/2007

Zwischen Chaos und Verfolgung
Das christliche Erbe im Irak geht verloren

Von Matthias Kopp


In den Jahren seit dem Sturz Saddams ist die christliche Minderheit im Irak weiter zusammengeschmolzen. Die Christen sehen im allgemeinen Chaos keine Perspektive und befürchten eine weitere Islamisierung des Landes. Die neue Verfassung lässt in Bezug auf die Religionsfreiheit zu wünschen übrig.


Genaue Zahlen gibt es nicht, weder von staatlicher noch von kirchlicher Seite: Weder wie viele Christen seit dem Sturz Saddam Husseins den Irak verlassen haben, noch wie viele Christen entführt oder ermordet wurden. Das täglich wachsende Chaos zwischen Euphrat und Tigris wird für die christliche Minderheit im Irak mittlerweile zur ernsten Bedrohung. Der Staat spielt die Angaben gezielt herunter, die Vertreter der 14 registrierten Konfessionsgemeinschaften setzen die nüchternen Zahlen bevorzugt nach oben.

Ganz gleich, wie exakt die Zahlen sind, sie spiegeln eine Wahrheit wider, die es vor dem Sturz Saddams nicht gab. Die Übergriffe auf die christliche Minderheit häufen sich massiv. Noch ist es aber zu früh, von einer Verfolgung im systematischen Sinn zu sprechen. Auch wäre es zu wenig, nur von zufälligen Angriffen aufgrund des generellen Chaos auszugehen. Eines ist sicher: Noch nie war die Situation für die irakischen Christen so dramatisch wie in den vergangenen vier Jahren, vor allem seit Sommer 2004, als es die ersten gezielten Bombenanschläge auf christliche Kirchen gab.

Niemand von den christlichen Kirchenführern und Gemeindemitgliedern sehnt sich in die Zeiten Saddams zurück, als der Irak jedoch noch ein laizistisches Staatssystem praktizierte und der Islam nicht Staatsreligion war. Auch damals gab es zwar gelegentlich Übergriffe auf Christen vor allem im ländlichen Raum, aber die Situation war weit sicherer als heute. Für radikale Muslime können Christen zum Zankapfel im gesellschaftlichen, weniger im politischen Umfeld werden. Denn die christliche Minderheit gehört zur Elite des Landes, ist meistens gut ausgebildet und wirtschaftlich - trotz jahrelangem Embargo - einigermaßen situiert.

Das erzeugt in einer von Analphabetentum und religiösem Hass aufgebrachten Gesellschaft Neid. So ist der Ton in den Moscheen nach dem Sturz Saddams, wo Schiiten und Sunniten heute gleichermaßen ihre religiöse Freiheit ausüben dürfen, schärfer gegenüber den Christen in jenen Stadtteilen Bagdads geworden, in denen bisher Muslime und Christen in bemerkenswerter friedlicher Koexistenz miteinander lebten. Viele Christen haben in Bagdad die gemischten Wohnviertel verlassen, weil sie sich bedroht fühlen, und sind in die wenigen rein christlichen Stadtteile gezogen. Auch dieser lokale Exodus, der die christliche Minderheit in Enklaven zusammenführt, hat vor allem in Bagdad die Lebendigkeit der Stadt verblassen lassen.

Dramatischer als der lokale Exodus innerhalb einer Stadt ist jedoch der generelle Exodus der Christen aus dem Irak. Auch hier sind exakte Zahlen kaum zu erhalten, aber der Flüchtlingsstrom scheint nicht zu enden. Die Iraker allgemein und die Christen im Besonderen trifft die Migration in zwei Wellen. So gab es einen gefährlich hohen, von Saddam jedoch durch üppige Ausreisegebühren zu einem späten Zeitpunkt stark eingeschränkten Migrationsstrom ins Ausland seit Beginn der neunziger Jahre bis zum Sturz des Regimes. Allein in dieser Zeit dezimierte sich die christliche Bevölkerung des Iraks wahrscheinlich von ehemals sechs auf 3,3 Prozent.

Es müssen mehrere hunderttausend Menschen gewesen sein, die über die jordanisch-irakische, vor allem aber die syrisch-irakische Grenze den Irak verließen. Diese extremen Flüchtlingsströme haben nach dem Sturz Saddams neu eingesetzt und erreichten zunächst im Jahre 2005 nach Angaben des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) ihren Höhepunkt. Allerdings ist für das zweite Halbjahr 2006 und die ersten Monate von 2007 ein neues Ansteigen der Flüchtlingsbewegung zu verzeichnen. Dies hängt vor allem mit einer wachsenden Diskriminierung der Christen zusammen, beispielsweise beim Zugang zum Arbeitsmarkt oder aber bei Diensten der sozialen Grundversorgung. Mehrere aufständische Gruppierungen wie die Ansar al-Sunna oder islamische Milizen wie die Mahdi-Armee haben die Kontrolle über ganze Straßenzüge oder gar Stadtviertel übernommen.

Der Teufelskreis wächst, weil die irakische Polizei die Situation nicht im Griff hat und ein Mangel an funktionsfähiger Rechtspflege die Strafverfolgung gegenüber benachteiligten Minderheiten quasi unmöglich macht. "In Ermangelung eines geordneten Justizwesens greifen viele Iraker im Konfliktfall zunehmend auf tradierte stammesrechtliche Lösungsmechanismen und Mittel der Selbstjustiz zurück", stellt das UNHCR nüchtern fest. In dieser Situation bleiben die Opfer häufig lieber unerkannt, um nicht weiteren Diskriminierungen ausgesetzt zu werden oder verlassen aufgrund des steigenden Drucks die Gegend ganz. Das UNHCR konstatiert: "Es muss deshalb von einer hohen Dunkelziffer von Übergriffen gegen Christen ausgegangen werden."

Schon die Gesamtbetrachtung der Flüchtlingszahlen zeigt das gesamte Drama. Das UNHCR spricht 2006 von der größten Wanderungsbewegung seit 1948 im Nahen und Mittleren Osten. Neben 1,8 Millionen Binnenflüchtlingen im Irak leben drei Millionen außerhalb des Landes, davon ein Drittel in Syrien. Das bedeutet, dass jeder fünfte Bürger auf der Flucht ist. Die Dunkelziffer mag höher liegen, denn beim UNHCR melden sich die Flüchtlinge erst, wenn die Ressourcen aufgebraucht sind. Das UNHCR vermutet, dass 57 Prozent der irakischen Flüchtlinge in Syrien Schiiten sind, 21 Prozent Sunniten und 20 Prozent Christen: "Die gestiegene Zahl irakischer Christen, die nach dem Ende des Krieges... im benachbarten Syrien Zuflucht gesucht haben, muss als ernstzunehmendes Indiz für eine weitere Zuspitzung der Situation der Christen gewertet werden."

Auf das Flüchtlingselend ging auch Benedikt XVI. kurz vor Weihnachten 2006 ein, als er der "hunderttausenden irakischer Flüchtlinge" in Syrien gedachte: "Die syrische Caritas versucht ihnen zu helfen. Ich wende mich an alle - insbesondere an das Engagement jedes Einzelnen, der internationalen Organisationen und der Regierungen - dass sie alles unternehmen, um den dringendsten Bedürfnissen der Flüchtlinge zu begegnen und ihnen zu helfen."

Die erschreckenden Zahlen lassen den Schluss zu, dass sich die christliche Minderheit im Irak seit dem Sturz Saddams bis zum Ende des Jahres 2006 erneut von 3,3 auf deutlich unter drei Prozent, interne Kirchenkreise der assyrischen und chaldäischen Kirche sprechen von 2,6 Prozent, reduziert hat. Und dabei ist nochmals festzuhalten: Es ist ein Flüchtlingsstrom, der mit der Perspektivlosigkeit im Land und dem wachsenden Chaos zusammenhängt, bald aber auch mit der Verfolgung einer Minderheit zu tun haben wird. Das christliche Erbe im Irak droht endgültig verloren zu gehen.

Woher kommt aber nun die Perspektivlosigkeit? Es ist nicht nur der von Verwandten aus dem Ausland so gepriesene Westen, der den Exodus der Christen auslöst, sondern insbesondere die politische Ohnmacht, jemals wieder Fuß in der irakischen Gesellschaft, geschweige denn im politischen Umfeld fassen zu können. Das zeigen vor allem die bisherigen Wahlen im Irak.

Die Bischöfe fast aller Konfessionen machten die Beteiligung ihrer Gläubigen an den Wahlen zu einer christlichen Pflicht als Ausdruck für ihre sichtbare gesellschaftliche Verantwortung. Dennoch blieb die Wahlbeteiligung der Christen am 30. Januar 2005 höchst unterschiedlich. In den einigermaßen sicheren, nordirakischen und von vielen Christen bewohnten Kurdengebieten nahmen diese an der Wahl teil, wohingegen die Beteiligung in Mossul und Bagdad aufgrund vor allem terroristischer Drohungen sehr gering ausfiel. Im Übergangsparlament mit 275 Sitzen saßen - im Vergleich zur Bevölkerungszahl und den teilweise christlichen Zentren völlig unterrepräsentiert - sechs Christen. Bei der Wahl zum eigentlichen Parlament am 15. Dezember 2005 erreichten die Christen nur noch drei Parlamentssitze.

Der eigentliche Dreh- und Angelpunkt ist jedoch die in vielen Details ausgereifte irakische Verfassung, die einen radikalen Paradigmenwechsel im Vergleich zum Regime Saddam Husseins darstellt. Diese Verfassung ist es aber auch, die an einigen wenigen Stellen so erhebliche Mängel aufweist, dass sie ein sicherer Garant für Perspektivlosigkeit und bald auch aggressive Verfolgung sein kann. Unter dem amerikanischen Sonderverwalter Paul Bremer war am 8. März 2004 eine Übergangsverfassung festgelegt worden, die den Islam zur "offiziellen Religion im Staat" erklärte und damit eine quasi Staatsreligion festschrieb.

Am 15. Oktober 2005 nahm die irakische Bevölkerung einen überarbeiteten Verfassungsentwurf mit großer Mehrheit in einem Referendum an. Klare Positionen einiger weniger Kirchenführer im Irak blieben die seltene Ausnahme, die dazu aufriefen, die Minderheitenrechte besser in der Verfassung zu verankern. Tatsächlich wurde auch in Kirchenkreisen die Verfassung als weitgehend gelungen gelobt, zu selten waren aber die Stimmen in der Kirche selbst (und der Weltöffentlichkeit ohnehin), die den Mut hatten, auf die Schwachstellen aufmerksam zu machen.

Abgesehen davon, dass die Verfassung seit dem Referendum 2005 in kaum einer Übersetzung offiziell abgedruckt ist und selbst auf der Internetseite der Irakischen Botschaft in Deutschland nicht zu finden ist, sind die Nuancen im Vergleich zur Übergangsverfassung bemerkenswert. Der Islam wird erneut als die "offizielle Religion des Staates" bezeichnet. Während die Interimsverfassung vom 8. März 2004 noch vom Islam als "einer Quelle der Gesetzgebung" sprach, heißt es jetzt in Art. 2, dass der Islam "die fundamentale Quelle der Gesetzgebung" sei und es kein Gesetz gegen den Islam geben dürfe. Außerdem bemerkt Ziffer 2 desselben Artikels, dass die Verfassung die islamische Identität der Mehrheit des irakischen Volkes anerkenne und die "vollen religiösen Rechte für alle Individuen und die Freiheit des Glaubensbekenntnisses und der religiösen Praxis" garantiere.

Neu ist allerdings in der heutigen Verfassung - und das ist immerhin ein Fortschritt -, dass in jener Ziffer 2 diese Freiheiten ausdrücklich für "Christen, Yessiden und Mandäer" erwähnt werden. Bereits hier wie in der gesamten Verfassung wird nicht ausdrücklich von "Religionsfreiheit" gesprochen. Art. 4 übernimmt aus der Übergangsverfassung die Sprachen Arabisch und Kurdisch als die offiziellen Sprachen des Irak. Außerdem haben die Iraker das Recht, ihre Kinder in der Muttersprache wie Turkmenisch, Syrisch oder Armenisch zu erziehen. Schwierig wird es für künftige juristische Entscheidungen im Irak, wenn nach Art. 14 festgehalten wird: "Alle Iraker sind gleich vor dem Gesetz ohne Unterscheidung des Geschlechts, der Rasse, der Nationalität, der Herkunft, Farbe, Religion, Konfession, des Glaubens oder des wirtschaftlichen und sozialen Status."

Ob sich dieser Grundsatz in einem künftig islamisch geprägten Irak durchhalten lässt, bleibt offen. jedenfalls ist Art. 14 weit enger gefasst als der frühere Art. 12, der noch genauer gegen jede Form der Diskriminierung und für die Gleichheit aller vor den Gerichten eintrat. Deutlicher als in der Übergangsverfassung verbietet die heutige Verfassung in Art. 35 jede Form des religiösen Zwangs gegenüber einem Individuum, und Art. 41 verpflichtet den Staat, die Kultfreiheit und den Schutz religiöser Stätten zu garantieren.


Verschlechterung bei der Rechtsprechung

Was bedeutet diese Verfassung? Zunächst ist prinzipiell festzuhalten, dass der Islam als Staatsreligion von der Bevölkerung anerkannt worden ist und sich beide islamischen Glaubensrichtungen - Sunniten wie Schiiten - ihrer Glaubens- und Religionsfreiheit erfreuen dürfen. Das hat seit 2003 zur Konsequenz, dass die einstige regierende Minderheit der 39 Prozent Sunniten heute vorrangig von den rund 57 Prozent Schiiten politisch beherrscht wird, wobei das Proporzsystem mehrere sunnitische Minister in der Regierung garantiert. Dennoch sind die brutalen Übergriffe auf zahlreiche schiitische Heiligtümer von einer radikalen Gruppe des sunnitischen Islam mit initiiert, die sich jetzt als Verlierer des Sturzes Saddam Husseins sieht und nicht bereit ist, die vormals vorhandene Macht abzugeben.

Gleichzeitig ist der Islam als die fundamentale Quelle der Gesetzgebung beziehungsweise Rechtssprechung benannt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die schiitische Koranauslegung und Rechtsschulen weit radikaler und intoleranter sein können als die sunnitischen Rechtsauffassungen. Ein Vergleich der Rechtssysteme im schiitischen Iran zum sunnitischen Jordanien oder Ägypten zeigt, wie zwar nicht gerade einfach, aber doch toleranter als unter einer schiitischen Rechtsschule im sunnitischen Umfeld gelebt werden kann.

Die Äußerung des einst schiitischen politischen Gefolgsmannes von Ministerpräsident Nuri al-Maliki, Dhia al-Shakarchi, der 20 Jahre im Exil in Deutschland lebte und dann in den Irak zurückkehrte, um an einem "toleranten demokratischen islamischen Staat" mitzuwirken, wie er selbst schreibt, ist eine Seltenheit. Er ist ernüchtert und sieht als einst strategischer Vordenker im Irak den politischen Islam in der Sackgasse. "Der Weg von den Konservativen führt über die Radikalen zum Terrorismus. Nur eine wirkliche Demokratie mit einer Trennung von Religion und Politik kann unser Land retten. Denn nur die Demokratie bietet allen Glaubensrichtungen und Überzeugungen Platz" (NZZ, 4. September 2006).

Diese Fakten haben direkte Auswirkungen auf die christlichen Minderheiten. Zunächst ist es der fehlende Begriff der Religionsfreiheit, der zugunsten allgemeiner Formulierungen von "Glaubensbekenntnis" und "religiöser Praxis" aufgeweicht wird. Damit wird ein grundlegendes Menschenrecht nahezu oberflächlich umschrieben und letztlich umgangen. Dann ist es die seit 2005 wesentliche Verschlechterung der Rechtssprechung. War im Entwurf von 2004 noch der Islam eine Quelle der Gesetzgebung, ist er jetzt DIE fundamentale Quelle. Das heißt, dass die Christen voll unter das staatlich-islamische Recht fallen.

Die Benachteilungen bei Scheidungsfragen, Grundstücksstreitigkeiten aber auch Erziehungsfragen sind so offensichtlich, dass gerade in diesem Punkt die Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit der christlichen Minderheit massiv gestiegen ist. Zwar bleibt die Nennung von Christen, Yessiden und Mandäern eine tatsächliche Verbesserung, weil sie im ersten Entwurf nicht auftauchten, aber mittlerweile halten viele Gemeindemitglieder diese Aussage nur noch für eine Formulierung auf dem Papier.

Insgesamt haben die Kirchen die Annahme der Verfassung als einen guten Schritt zur Normalisierung des Alltags im Irak bezeichnet, aber nach zwei weiteren Jahren und dem täglich wachsenden Chaos ist die Skepsis groß, ob die Verfassung noch überhaupt eine Chance für die christliche Minderheit bietet. Für eine echte Akzeptanz der Religionsfreiheit und der Christen ist in diesem Staat im jetzigen Zustand und den bereits eingerichteten Rechtsschulen und Gerichten kein Platz. Die Reife des irakischen Staates wird sich daher an der Einhaltung jener Artikel in der Verfassung zeigen, die Muslimen und Christen ihre Freiheit - im Alltag, im Gottesdienst, in der Zivilgesellschaft - garantieren.

Die gegenwärtige Realität bedeutet jedoch im Klartext, dass sich die Pastoral auf den Kirchenraum reduziert. Die Zukunft der kirchlichen Hochschulen und Schulen, der Krankenhäuser und Altenheime ist ungewiss. Der irakische Staat bedient sich gerne der christlichen Hilfe, ist aber nicht bereit, die grundlegende, gesellschaftspolitische Situation der Christen zu verbessern und deren wesentlich geschwächte Integration zu forcieren. Die Konsequenz heißt, dass das einst reiche kirchliche Leben in den großen Städten auf ein Minimum beschränkt worden ist, und die christliche Minderheit das Land kontinuierlich verlässt.

Religionsfreiheit existiert nur noch auf dem Papier. Die Islamisierung, auch in radikalen Elementen, des Irak schreitet zügig voran. Letztlich muss man heute ein Scheitern jenes Versuchs aller Patriarchen und Kirchenführer des Irak vom 29. April 2003 konstatieren, als diese in einem gemeinsamen Appell ihre Bereitschaft dem irakischen Volk und Staat kundtaten, am Aufbau der Zivilgesellschaft ebenso mitzuwirken, wie sich als integraler Bestandteil des irakischen Volkes zu verstehen.

Unmittelbar vor dem Verfassungsreferendum äußerte der damalige Nuntius im Irak und heutige Substitut im vatikanischen Staatssekretariat, Erzbischof Fernando Filoni, seine Sorge über die noch nicht geklärten Punkte der Verfassung. "Das Referendum wurde in den vergangenen Monaten vorbereitet, mitunter auch auf leidvolle Weise. Aber dieser Entwurf ist noch nicht ganz reif, um Seitens der Bevölkerung auch akzeptiert zu werden." Wenige Tage nach der Abstimmung traf das Oberhaupt der chaldäischen Christen, Patriarch Emmanuel III Delly mit dem irakischen Staatspräsidenten und dem Regierungschef zusammen, um im Namen aller katholischen Bischöfe "gegen einige zentrale Aussagen im Verfassungsentwurf zu protestieren, die neuen Gesetzen Tür und Tor öffnen, die Nicht-Muslimen gegenüber ungerecht sind".

Während Patriarch Emmanuel eher die Linie vertritt, wenig zu sagen, um den größtmöglichen Handlungsspielraum für die christliche Minderheit zum jetzigen Zeitpunkt auszuschöpfen, ist der Bagdader Weihbischof Andraos Abouna mutiger: "Wir wollen Freiheit, und das muss die Regierung verstehen. Andernfalls wird das Land eine Diktatur werden. Ich bin trotz allem zuversichtlich, dass die Verfassung noch geändert werden kann. Was wir jetzt haben, ist eine Grundlage, die noch nicht fertig ist." Am 10. November 2005 traf der irakische Staatspräsident Jalal Talabani mit Benedikt XVI. zusammen und gab nach der Begegnung zu Protokoll, er habe vom Papst erfahren, dass dieser "die jetzige Verfassung für einen Fortschritt und etwas Gutes" halte. Solche Gesprächsinterpretationen sind aus Sicht des Heiligen Stuhls in der gegenwärtigen Problematik schwierig, zumal das offizielle Pressekommuniqué sich wesentlich zurückhaltender äußerte.

Seit Pontifikatsbeginn kritisiert Benedikt XVI. unermüdlich die dramatische Situation im Irak, vor allem in der jüngsten Zeit aufgrund der wachsenden Anzahl von Entführungen von Priestern und Ordensleuten. Seine Weihnachts- und Osterbotschaften und vor allem die Reden vor dem beim Heiligen Stuhl akkreditierten diplomatischen Korps forderten klare demokratische, jede Religion in ihrer Freiheit akzeptierende Strukturen. Unterstützung für den Irak sagte der Papst auch der im November 2005 im Vatikan tagenden Sondersynode der chaldäischen Kirche zu.

Die Aussagen von Präsident Talabani nach dessen Begegnung mit dem Papst konnte der Erzbischof von Kirkuk, Louis Sako, in keiner Weise nachvollziehen: "Die Kirche muss etwas tun, um die betreffenden Artikel in der Verfassung noch einmal zu ändern. Denn die muslimische Gesetzgebung widerspricht den Prinzipien der Demokratie. Entweder Demokratie oder Islam."

Was für Johannes Paul II. ein großer Wunsch war, nämlich den Irak zu besuchen, gilt heute auch für Benedikt XVI. 1999 verhinderte Saddam Hussein in letzter Minute eine Reise des Papstes, jetzt ist es die Sicherheitslage, die eine solche Reise nicht zulässt, die weit über die christlichen Minderheiten hinaus Bedeutung hätte und ein Zeichen der Ermutigung für die gesamte Bevölkerung wäre. Dennoch scheint man auch in Rom sich für den Fall der Fälle vorzubereiten, eine solche Reise kurzfristig zu realisieren, wenn sich die Möglichkeit ergäbe.

In der hoffnungslosen Situation ist es meistens die Kirche, die durch Caritas und Diakonie versucht, die schlimmste Not zu lindern. Die größte Angst bleibt aber, wie der Staat künftig Recht für die gesamte Bevölkerung sprechen wird. Dass die Scharia über kurz oder lang eingeführt wird, darüber sind sich die verschiedenen muslimischen Strömungen im Land ausnahmsweise einig.

Der lateinische Erzbischof von Bagdad, Jean Sleiman, brachte die Situation in einer bemerkenswerten Äußerung Anfang April 2007 auf den Punkt. Nach seiner Auffassung habe es unter Saddam Hussein keine Freiheit gegeben, wohl aber Sicherheit. "Seit Saddams Sturz gibt es nun Freiheit, aber wir können sie nicht nutzen. Es gibt Freiheit, aber es gibt Bedingungen, die keine Freiheit zulassen. Da es keinen Rechtsstaat gibt, ist der Christ schwach. Der Rechtsstaat ist zugrunde gegangen und die Christen sind höchst verletzlich geworden. Wenn es einen Staat gäbe, könnten die Christen einen großen Beitrag leisten, denn sie sind friedlich und für alle offen."


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Matthias Kopp (geb. 1968) ist Theologe, Archäologe und Journalist. Nach seiner Tätigkeit bei Radio Vatikan, in der Deutschen Bischofskonferenz und beim Weltjugendtag 2005 ist er jetzt Pressesprecher in der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen.


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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
61. Jahrgang, Heft 8, August 2007, S. 418-423
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. September 2007