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BERICHT/295: Wie religiös sind die Russen? (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion - 12/2009

Wie religiös sind die Russen?
Ergebnisse einer neueren Umfrage

Von Thomas Bremer


In Russland kam es nach dem Ende der kommunistischen Diktatur zu einem Wiederaufleben der Religion. Davon hat vor allem die orthodoxe Kirche als die größte Glaubensgemeinschaft profitiert. Eine jüngst durchgeführte Umfrage zeigt gleichzeitig einen hohen Grad an Oberflächlichkeit in religiösen Dingen. Kirchliche Vorschriften werden hoch geschätzt, aber oft nicht eingehalten.


In den letzten Jahren der Sowjetunion, während der Perestrojka, wuchs in allen Teilen des Landes das Interesse an Religion. Die Kirchen und Religionsgemeinschaften standen seit etwa 1988 nicht mehr unter der Kontrolle des Staates, und viele Menschen, auch solche, die völlig areligiös gelebt hatten, wandten sich zumeist der Religion ihrer Vorfahren zu. Das hatte zur Folge, dass nach dem Zerfall der UdSSR die Religionsgemeinschaften in allen Nachfolgestaaten großen Zulauf hatten, dass neue Kirchen und Moscheen gebaut werden konnten und dass die verfassten Religionsgemeinschaften zu wichtigen gesellschaftlichen und politischen Faktoren wurden.

Im größten Nachfolgestaat der Sowjetunion, der Russländischen Föderation, ist die orthodoxe Kirche mit Abstand die größte Glaubensgemeinschaft. Doch war und ist weder über die Größe der Kirche noch über die religiöse Praxis der Bewohner Russlands viel bekannt. In der UdSSR war die Soziologie und zumal die Religionssoziologie ein Fach, das wenig Anerkennung durch die Ideologie fand und daher immer ein Randdasein zu fristen hatte. Die Führung hatte auch kein Interesse daran, Daten zur Religiosität öffentlich zu machen.

Es gab zwar empirische Untersuchungen, deren Ergebnisse wurden aber nicht publik. Gleich nach dem Ende des Staates führten sowohl russische als auch ausländische Meinungsforscher Umfragen durch, mit denen sie den Grad und die Art der Religiosität in Russland festzustellen suchten. Sie zeigten vor allem, dass die große Bejahung der Orthodoxie viel mit Identität und weniger mit religiösem Glauben zu tun hatte. Sogar Menschen, die nicht an Gott glaubten und in keiner Weise religiös aktiv waren, bekannten sich als "orthodox". Dass das für die Kirche große Probleme im pastoralen Bereich brachte, liegt auf der Hand.


Spezifika orthodoxer religiöser Praxis

Was jedoch bislang fehlte, war eine Umfrage zur Religiosität in Russland, die die Spezifika orthodoxer religiöser Praxis ins Auge nahm. Viele oft gestellte Fragen (etwa nach der Häufigkeit von Kirchgang oder Bibellektüre) waren typisch "katholisch" oder "evangelisch"; doch gab es kaum Fragen zur Untersuchung der Besonderheiten orthodoxen kirchlichen und religiösen Lebens, wie sie sich etwa in der Ikonenverehrung oder im sakramentalen Leben ausdrücken. Eine Arbeitsgruppe aus drei Theologen (Jennifer Wasmuth, Berlin, Veniamin Simonov, Moskau, und der Autor) hat sich zusammengefunden, um diesem Manko abzuhelfen. Es wurde ein Katalog mit mehr als 50 Fragen entwickelt, in dem auch einige der konventionellen Fragen enthalten waren, darüber hinaus aber vor allem solche Informationen erforscht werden sollten, die sich auf die orthodoxe Kirchlichkeit und Frömmigkeit bezogen.

Im Februar 2009 wurde durch eines der führenden russischen Meinungsforschungsinstitute eine russlandweite Umfrage unter 1600 Personen im Alter von über 18 Jahren durchgeführt, die nach Geschlecht, Alter, Bildung, sozialem Status und Wohnort repräsentativ für die russische Gesellschaft waren. Das Projekt wurde vom katholischen Hilfswerk Renovabis gefördert. Erste Ergebnisse wurden in der Juni-Nummer der Zeitschrift "Osteuropa" publiziert, die dem Thema "Kirche und Politik im Osten Europas" gewidmet war.

Im Folgenden sollen einige Ergebnisse der Umfrage erläutert und daraus Schlussfolgerungen gezogen werden. Zuvor sei noch darauf hingewiesen, dass wenige Wochen vor der Umfrage die Wahl und die Inthronisation des neuen Patriarchen der Russischen Orthodoxen Kirche stattgefunden hatten, begleitet von großer medialer Aufmerksamkeit. Das Thema Religion war also in der russischen Gesellschaft präsent, und es war vor allem positiv besetzt.


Die erste Frage war dem religiösen Bekenntnis gewidmet. 72,6 Prozent der Bevölkerung bezeichnen sich als "orthodox". Die nach Größe nächste Gruppe, mehr als 10 Prozent, beantwortete die Frage, welche Religion man bekenne, mit "Keine konkrete" - ein Hinweis darauf, dass ein nicht unerheblicher Teil der russischen Gesellschaft sich als zu keiner Religion zugehörig empfindet, sich aber doch nicht als areligiös bezeichnen würde (dazu könnte man vielleicht auch noch die 1,2 Prozent zählen, die mit "schwer zu sagen" antworteten).

Wer bewusst areligiös ist, bezeichnete sich als "Atheist" - immerhin 7,3 Prozent der Befragten. Dann folgen die Muslime, die 6,2 Prozent ausmachen. Alle anderen Gruppen sind nur mit weit weniger als einem Prozent vertreten, darunter Katholiken und Protestanten mit je 0,6 Prozent. Bei einer Einwohnerzahl von etwa 142Millionen Menschen ergibt das für die beiden letztgenannten Kirchen jeweils etwa 850.000 Gläubige.


Im Unterschied zu früheren Umfragen zeigt es sich, dass die Zahl der "Atheisten" zurückgegangen ist, während der Prozentsatz der Orthodoxen gewachsen ist oder sich wenigstens stabilisiert hat. Für die Muslime sind die Angaben auch eher stabil, während sie für die sonstigen Religionsgemeinschaften aufgrund der geringen Zahl der Respondenten kaum Aussagekraft haben. Im Folgenden ist immer dann, wenn von "orthodoxen Russen", "Gläubigen" oder Ähnlichem die Rede ist, die Gruppe derjenigen gemeint, die sich als "orthodox" bezeichnen.

Die meisten der Fragen, die ja orthodoxe Religiosität beleuchten sollten, wurden Muslimen, Juden oder Buddhisten verständlicherweise nicht gestellt (etwa Fragen nach Kirchenbesuch, Kommunionempfang oder Ähnlichem). Die Prozentzahlen beziehen sich in der Regel also auf die sich selbst als orthodox Deklarierenden; damit ist keine ekklesiologische Aussage getroffen, und die Zahlen dürfen auch nicht als Prozentsatz der Mitglieder der Russischen Orthodoxen Kirche missverstanden werden.


Was die Russen glauben

Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass etwa zwei Drittel derjenigen Befragten, die sich als "orthodox" identifizieren, in ihrer Kindheit keine religiöse Erziehung genossen haben. Immerhin drei Prozent sind religiös erzogen worden, aber nicht von ihrer Familie, sondern von anderen Menschen. Nur 30 Prozent erklären, in ihrer Familie religiös erzogen worden zu sein. Dabei gibt es nur geringe Unterschiede beim Lebensalter; in der Gruppe der 25- bis 55-jährigen ist die Zahl der zu Hause nicht religiös Erzogenen nur wenig höher als bei den älteren oder jüngeren Befragten - das ist die Gruppe derer, deren Eltern und oft auch schon Großeltern im verordneten Atheismus aufgewachsen sind.


Die meisten haben eine Ikone zu Hause

Ebenso lässt sich erklären, dass religiöse Erziehung bei höherer Bildung seltener war (72 Prozent der Befragten mit Hochschulausbildung sind nicht religiös erzogen worden, aber nur 64 Prozent derjenigen mit geringer Bildung). Auch überrascht nicht, dass Dorfbewohner viel öfter in der Familie religiös erzogen wurden (39 Prozent) als etwa Bewohner Moskaus (28 Prozent, in anderen Großstädten nur 21 Prozent!). Zu dieser Situation passt auch, dass 94 Prozent derjenigen, die sich als "orthodox" bezeichnen, getauft sind, doch nur zwei Drittel von ihren Eltern zur Taufe gebracht wurden. Bei 17 Prozent waren das Verwandte, zumeist die Großeltern, während 11 Prozent der erwachsenen orthodoxen Russen angeben, sich selbst dazu entschlossen zu haben.

Was glauben die Russen? Bei der Frage nach den Vorstellungen von der Existenz Gottes zeigte sich folgendes Ergebnis:



Ich glaube, dass Gott existiert
und zweifle nicht im Geringsten daran

Ich glaube an die Existenz Gottes,
obwohl ich manchmal Zweifel empfinde

Manchmal glaube ich an die Existenz Gottes
und manchmal nicht

Ich glaube nicht an Gott, aber ich glaube an eine
höhere Macht

Ich weiß nicht, ob Gott existiert, und bezweifle,
dass man von seiner Existenz überzeugt sein kann

Ich glaube nicht an die Existenz Gottes

Schwer zu sagen, Sonstige

33,8 Prozent

21,3 Prozent

14,0 Prozent

10,7 Prozent

8,1 Prozent

7,0 Prozent
5,2 Prozent


Damit ist deutlich, dass nur ein Drittel der Bevölkerung (und auch etwas mehr als 40 Prozent der Orthodoxen) keinen Zweifel an der Existenz Gottes hat. Andere Umfragen belegen, dass im Hinblick auf andere zentrale Aussagen des Glaubens (etwa die Auferstehung Christi) und hinsichtlich des Glaubens an Phänomene wie Außerirdische, Horoskope und ähnliches die Befragten sehr häufig Meinungen vertreten, die nicht mit der kirchlichen Lehre kompatibel sind. Das zeigt, dass das große Interesse an Religion und der hohe Wert, den man den Religionsgemeinschaften zuschreibt, nicht mit religiöser Bildung korrespondiert, ja sich weithin nicht einmal auf Grundaussagen des christlichen Glaubens bezieht. Verkürzt gesagt: Die Menschen in Russland sind religiös und achten die Kirche, aber sie wissen oft nicht genau, was das bedeutet.

Die Nachwirkungen der Sowjetperiode zeigen sich auch darin, dass von den Getauften, die in einer Ehe leben, nur 8,2 Prozent kirchlich verheiratet sind; die überwiegende Mehrheit der Ehen ist nur vor den staatlichen Behörden geschlossen worden. Bei diesen jedoch sind es fast 38 Prozent, die auf die Frage, ob sie kirchlich heiraten würden, wenn ihre Eheschließung jetzt stattfinden würde, mit "Ja" oder "Eher ja" antworten. Ähnlich verhält es sich auch bei der Frage, ob man eine kirchliche Trauung bei den eigenen Kindern bevorzugen würde, wenn sie jetzt heiraten würden. Interessant ist, nicht nur bei diesen Fragen, dass es immer einen relativ großen Anteil an Unentschlossenen gibt, wie sich an dem gerade genannten Beispiel zeigt:


Wenn Ihre Kinder jetzt heiraten würden,
würden Sie dann eine kirchliche Trauung wünschen?

Schwer zu sagen
Auf keinen Fall
Eher nein
Eher ja
Auf jeden Fall

31,3 Prozent
9,5 Prozent
17,8 Prozent
22,4 Prozent
19,1 Prozent


Grob lässt sich also sagen, dass ein Drittel der Befragten sich auf solche Fragen nur schwer eine Antwort bilden kann, dass ein weiteres (gutes) Drittel eher zu religiösem Verhalten tendiert und das letzte (knappe) Drittel religiöse Akte ablehnt. Die russische Gesellschaft ist bei diesen Themen, wie andere Fragen auch zeigen, gespalten. Auch die positive Wertschätzung von Religion ändert nichts an diesem Befund.


Für die religiöse Praxis wurden einige Bereiche definiert, die in der Orthodoxie eine große Rolle spielen. Hierzu gehört die Beachtung der Fastenzeiten. Die Fastenregeln in der Orthodoxie sind sehr streng, sie umfassen neben Fleisch in der Regel auch alle anderen tierischen Produkte wie Fisch, Eier, Milch und Käse. Die Fastenzeiten betreffen fast ein Viertel des Jahres (vier mehrwöchige Fastenzeiten, dazu jeder Mittwoch und jeder Freitag).

Bei den orthodoxen Russen herrscht relativ großes Bewusstsein über die Bedeutung und Notwendigkeit des Fastens. Ungefähr 34 Prozent der Orthodoxen antworten positiv auf die Frage, ob man mittwochs und freitags fasten solle. Ein Viertel enthält sich der Antwort, gut 41 Prozent verneinen die Frage. Bei den längeren Fastenzeiten und der Karwoche ist die Zahl derjenigen, die das Fasten befürworten, noch größer. Ein ganz anderes Bild ergibt sich jedoch, wenn man nach der Praxis fragt: Nur 6 Prozent der orthodoxen Respondenten fasten in der Regel oder zumindest oft am Mittwoch und Freitag, knapp 14 Prozent zuweilen, doch die große Mehrheit, fast 80 Prozent, antwortet auf die Frage, ob man an diesen Tagen faste, mit "nie".


Ähnlich verhält es sich bei der Frage nach dem Fastenverhalten am Karfreitag. Wieder erklären 20 Prozent, auf diese Frage nur schwer antworten zu können. Doch über 52 Prozent der Befragten sind der Meinung, dass man am Karfreitag fasten müsse. Erstaunlich ist, dass nur 23 Prozent den Satz "Am Karfreitag esse ich kein Fleisch" bejahen können, während 77 Prozent das für sich als nicht zutreffend aussagen. Mehr als 70 Prozent der Orthodoxen unterstützen die Aussage "Ich beachte die Fastenzeit praktisch nie." Hierin, doch auch in anderen Fragen wie der nach der Notwendigkeit des Betens (etwa vor dem Essen), zeigt sich eine Position, die sich etwa so umschreiben ließe: Religiöses Verhalten und das Beachten kirchlicher Vorschriften sind gut und notwendig, gelten aber nicht für mich.

Etwa 79 Prozent der orthodoxen Russen haben eine Ikone zu Hause, 34 Prozent pflegen eine kleine Ikone bei sich zu tragen, fast ein Drittel der Autobesitzer hat eine im Wagen und immerhin 10 Prozent der befragten Gläubigen haben eine am Arbeitsplatz. Ikonen haben sowohl für die kirchliche als auch für die individuelle Frömmigkeit in der Orthodoxie eine zentrale Stelle inne. Die Verehrung der Ikonen durch Küssen, Entzünden von Kerzen, Verneigung und ehrfürchtiges Benehmen ist weit verbreitet; wer einmal eine orthodoxe Liturgie besucht, erlebt das sehr eindrücklich.


Wenn man aber die Ikonenfrömmigkeit aller orthodoxen Gläubigen in Russland untersucht, also nicht nur der Liturgiebesucher ("in der Regel" und "oft" nehmen 7 Prozent der Orthodoxen an der sonntäglichen Liturgie teil), ergibt sich ein differenziertes Bild. Das übliche Verhalten vor einer Ikone, die ehrfurchtsvolle Bekreuzigung, wird von 49 Prozent der orthodoxen Russen nie durchgeführt. Weitere 27 Prozent bekreuzigen sich "manchmal" vor einer Ikone, und nur 24 Prozent machen das "in der Regel" oder "oft", wenn sie eine Ikone sehen.

Selbst von den Kirchenbesuchern sind es nur 76 Prozent, die vor den Ikonen beten; 24 Prozent verneinen eine entsprechende Frage. Und nur 50 Prozent der Kirchenbesucher küssen Ikonen in der Kirche; von denjenigen, die zu Hause Ikonen haben, tun das nur etwas mehr als 27 Prozent. Eine große Mehrheit hat zwar Ikonen, verehrt sie aber nicht durch Küssen. Eine knappe Mehrheit betet auch vor den häuslichen Ikonen. Schließlich zünden auch nur knapp 38 Prozent dieser Befragten vor den Ikonen zu Hause eine Kerze oder ein Öllämpchen an.

Ein weiterer Aspekt der religiösen Praxis ist das Verhalten in einer Kirche. Auch hier zeigen sich überraschende Ergebnisse. Etwa 18 Prozent derjenigen, die sich als orthodox bezeichnen, geben an, dass sie sich nie bekreuzigen, wenn sie eine Kirche betreten; knapp 10 Prozent bekreuzigen sich dabei "manchmal". 72 Prozent der Gläubigen aber bekreuzigen sich "in der Regel" oder "oft". Es ist naheliegend, dass die regelmäßigen Gottesdienstbesucher zu dieser letzten Gruppe gehören; zugleich zeigt es aber auch an, dass für viele Orthodoxe das als üblich betrachtete religiöse Verhalten eben nicht üblich ist.


Kirchlicher Anspruch und Wirklichkeit klaffen weit auseinander

Auf dem Gebiet des sakramentalen Lebens zeigt es sich, dass der kirchliche Anspruch und die Wirklichkeit in der russischen Orthodoxie weit auseinanderklaffen. 58 Prozent der getauften Orthodoxen geben an, nie die Eucharistie zu empfangen. Diese Zahl sinkt mit zunehmendem Alter, bei den über 55-Jährigen sind es nur noch 49 Prozent, die nie an der Kommunion teilnehmen. Dazu kommen weitere 18 Prozent, die angeben, seltener als jährlich kommunizieren, und 10 Prozent, die nur ein- oder zweimal im Jahr kommunizieren, so dass gerade 9 Prozent einige Male im Jahr oder öfter das Abendmahl empfangen. Traditionsgemäß wird die Eucharistie in der Orthodoxie viel seltener als heute in der katholischen Kirche empfangen, und der Augenschein legt nahe, dass vor allem ältere, weibliche Gemeindemitglieder (sowie kleine Kinder, die jedoch in der Umfrage nicht vorkommen) kommunizieren. Das wird durch die Daten belegt.

Ähnlich zurückhaltend betragen sich die orthodoxen Gläubigen in Russland auch in Bezug auf die Krankensalbung Diese wird allerdings in der Regel nicht individuell, sondern in größeren Gruppen in der Gemeinde gespendet, oft auch Personen, die gar nicht erkrankt sind. Diese Unklarheit in Bezug auf die Bedeutung des Sakraments zeigt sich auch in der Umfrage: Bei schwerer Krankheit würden nur 0,7 Prozent der orthodoxen Russen einen Priester zu sehen verlangen. Knapp 5 Prozent würden versuchen, die Kommunion zu empfangen, und 2,7 Prozent würden sich bemühen, die Krankensalbung zu empfangen. Die überwältigende Mehrheit jedoch, nämlich 93,1 Prozent der befragten Orthodoxen, erklärte, sie würden nichts dergleichen unternehmen.

Schließlich sei im Bereich der persönlichen Frömmigkeit noch das Begehen des Namenstages genannt. Nur 42 Prozent der orthodoxen Russen weiß, an welchem Tag der eigene Namenstag ist. Von diesen wiederum feiert mehr als die Hälfte diesen Tag nicht; die anderen begehen ihn zumeist dadurch, dass sie sich Gäste einladen (28,6 Prozent derjenigen, die das Datum kennen) oder dass sie die Kirche besuchen (9,5 Prozent).


Eine weitere Gruppe von Fragen bezog sich auf die Beziehung der orthodoxen Bevölkerung in Russland zur Kirchenleitung, und zwar sowohl auf lokaler (Gemeinde) als auch auf höherer (Diözese) Ebene. Hier die Ergebnisse auf die Frage nach der Bedeutung von Priester und Bischof für die orthodoxen Gläubigen:


Welche Bedeutung hat für Sie ein Priester/ein Bischof?

Eine geistliche Autorität

Eine Autorität in sozialen und
politischen Fragen

Eine Autorität in wichtigen Lebensfragen

Ein Mensch, an den ich mich wenden kann,
wenn ich geistliche Hilfe brauche

Ein Mensch, an den ich mich nicht wenden muss

Sonstiges

Schwer zu sagen

31 Prozent/40 Prozent
7 Prozent/ 6 Prozent

5 Prozent/ 5 Prozent
29 Prozent/15 Prozent

12 Prozent/14 Prozent
4 Prozent/ 4 Prozent
17 Prozent/24 Prozent


Es ist offensichtlich und gut nachvollziehbar, dass die Beziehung zum Priester, den zu treffen viel einfacher möglich ist, wesentlich näher ist als die zum Bischof. Der Bischof erscheint als geistliche Autorität, aber für geistliche Hilfe wendet man sich eher an den Priester. Deutlich mehr Respondenten fällt auch zum Bischof nichts ein.

Tatsächlich hatte die Hälfte der Befragten in den letzten fünf Jahren keinen Kontakt zu einem Bischof, weder durch Hören oder Ansehen einer Liturgie in Radio oder Fernsehen noch durch Teilnahme an einer bischöflichen Liturgie (oder Hören der Predigt) in der Kirche noch durch Korrespondenz oder persönlichen Kontakt; für die meisten Übrigen verlief der "Kontakt" über die elektronischen Medien. Die Gläubigen versuchten in der Regel auch kaum, Kontakt mit einem Bischof aufzunehmen. Von den relativ wenigen Gläubigen, die das (zumeist brieflich) versucht haben, haben die meisten keine Antwort erhalten. Dennoch gesteht man den Bischöfen große Autorität zu.


Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die große Konzentration auf den spirituellen Bereich. Weder im politischen Bereich noch in Fragen des eigenen (nichtgeistlichen) Lebens hält man Kleriker für große Autoritäten, ungeachtet des Anspruchs, der von Vertretern der russischen Kirche manchmal gerade auf dem erstgenannten Gebiet erhoben wird. Die meisten orthodoxen Russen sprechen ihren Bischöfen also große spirituelle Autorität zu (obgleich sie sie, überspitzt gesagt, meistens gar nicht oder höchstens durch die Medien wahrnehmen), aber sie versuchen nicht mit ihnen zu kommunizieren.


Bei der Umfrage wurde auch nach der Kirchenfinanzierung gefragt, und zwar alle, also auch Nichtchristen und Atheisten. Hier hielt sich die Mehrheit der Antwortenden eher an eine Mittelposition: Weder war man der Meinung, die Russische Orthodoxe Kirche habe zu viel oder zu wenig Geld, noch glaubte man, sie gebe es für die falschen Zwecke aus. Allerdings war hier der Anteil derjenigen, die auf die Frage nicht antworten konnten, sehr hoch (immer um die 40 Prozent). Von den Übrigen meinten knapp 30 Prozent, dass die Kirche etwas oder viel mehr habe, als sie brauche, 45,7 Prozent fanden die finanziellen Mittel der Kirche gerade angemessen und 24,7 Prozent glaubten, die Kirche habe etwas oder viel zu wenig Geld zur Verfügung.

Hinsichtlich der Finanzierung der Kirche ist nicht einmal ein Drittel der Befragten der Meinung, dass der Staat die Kirche unterstützen sollte. Fast die Hälfte der Bevölkerung Russlands glaubt, dass die Kirche ihren Unterhalt mit den Mitteln der Gläubigen bestreiten sollte.


Die Umfrage stellt einen Querschnitt durch die religiöse Situation des Landes dar, gut 20 Jahre nach dem Ende des staatlich verordneten Atheismus. Dieser hat ohne Zweifel seine Spuren hinterlassen, was besonders deutlich wird, wenn man die Ergebnisse nach Alterskohorten und nach sozialen Parametern betrachtet. Anders als in westlichen Staaten ist Religion eher eine Angelegenheit von (gebildeten und jüngeren) Städtern; auf dem Land sowie (in geringerem Maße) in der älteren Generation und bei weniger Gebildeten tut sich der Glaube viel schwerer.


Die russische Gesellschaft ist geteilt

Einerseits zeigt sich das hohe religiöse Potenzial, das auch nach der Zeit des Sowjetregimes noch vorhanden war; aus diesem Potenzial konnte sich der Grad an Religiosität entwickeln, der sich heute feststellen lässt. Andererseits wird deutlich, dass es in der Religiosität auch einen hohen Grad an Oberflächlichkeit gibt. Zwar identifizieren sich viele Russen mit der orthodoxen Kirche, und kirchliche Vorschriften werden hoch geschätzt, wenn auch oft nicht eingehalten (das lässt sich an der Frage nach dem Fastenverhalten deutlich sehen). Der Kirche ist es jedoch bislang nicht immer gelungen, die positive Reputation, die sie genießt, dazu zu benutzen, den vorhandenen Grundstock zu vertieftem religiösem Wissen und zu einer bewussten Anwendung kirchlicher Praxis auszubauen.


Auffallend, wenn auch durch die besondere Situation Russlands erklärbar, ist die schon angedeutete Dreiteilung des Landes. Viele Menschen, häufig grob ein Drittel, haben keine Meinung zu den gestellten Fragen und tun sich schwer, sie zu beantworten. Ein weiteres Drittel steht religiösem Verhalten und kirchlichen Anliegen eher positiv gegenüber, das letzte Drittel eher negativ. Diese Werte schwanken natürlich je nach der gestellten Frage, und die Gruppe der nicht Antwortenden muss genau analysiert werden. Dennoch lässt sich in dieser Hinsicht von einer gewissen Teilung der russischen Gesellschaft sprechen.

Zusammenfassend erscheint Russland in der gleichen Situation wie andere moderne Industriestaaten. Auch in westlichen Staaten lassen sich ähnliche Ergebnisse erfragen, angefangen von der Diskrepanz zwischen Identifizierung und Praxis bis hin zu großen Lücken in den Kenntnissen über religiöse Grundsätze. Die Unterschiede, die es gibt (Altersstruktur, positive Sicht der Kirche und Anderes), lassen sich zumeist durch die historischen Umstände erklären. Wichtig wird es sein, sie genauer und vergleichend herauszuarbeiten. Außerdem wäre es wünschenswert, die Umfrage nach der religiösen Praxis in bestimmten Abständen zu wiederholen, um eine längerfristige Tendenz erkennen zu können. Doch auch so ergibt sich ein interessantes Bild der religiösen Situation, das vor allem für die orthodoxe Kirche eine große Herausforderung darstellt.


Thomas Bremer (geb. 1957), Dr. theol., seit 1999 Professor für Ökumenik und Friedensforschung an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster. Forschungsschwerpunkte: Orthodoxie in Russland und in Serbien; ökumenische Beziehungen zwischen westlichen und östlichen Kirchen; Kirchen und Religionsgemeinschaften in Konfliktsituationen. Publikationen: Konfrontation statt Ökumene Zur kirchlichen Situation in der Ukraine, Erfurt 2001; Kleine Geschichte der Religionen in Jugoslawien, Freiburg 2003; Kreuz und Kreml. Kleine Geschichte der orthodoxen Kirche in Russland, Freiburg 2007.


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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
63. Jahrgang, Heft 12, Dezember 2009, S. 628-633
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Januar 2010